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Biografisches Handbuch

Harry Krause

geboren am 9. September 1940 in Neuhof (heute: Nowy Dwór, Polen) | erschossen am 31. Januar 1951 | Ort des Vorfalls: Goldensee bei Groß Thurow (Mecklenburg-Vorpommern)
BildunterschriftHarry Krause
BildquellePrivat, Familie Krause
Quelle: Privat, Familie Krause
Der Chef des Grenzkommandos Groß Thurow hatte den Einwohnern des Dorfes versichert, die Aufgabe der Grenzpolizei sei es, „Agenten, Schieber und sonstige illegale Grenzgänger“ zu ergreifen. Dabei müsse notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Als ein zehnjähriger Junge erschossen wurde, verschlechterte sich das Verhältnis der Dorfbewohner zur Grenzpolizei in Groß Thurow schlagartig.

Harry war das jüngste von vier Kindern der Familie Krause, die vor den Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg nach Groß Thurow geflohen war. Die Familie wohnte unweit des Goldensees auf einem Bauernhof. Im Winter war es üblich, auf dem See Schlittschuh zu laufen, obwohl das gegenüberliegende Ufer bereits zur Bundesrepublik gehörte. Auch von dort, vom Gut Goldensee, kamen die Kinder aufs Eis – man spielte miteinander, versorgte sich mit Süßigkeiten. All dies tolerierte die Grenzpolizei.

Am letzten Januartag des Jahres 1951 überquerten der ältere Bruder von Harry Krause und dessen Freund Helmut den zugefrorenen Goldensee. Sie wollten auf der bundesdeutschen Seite an Bekannte Lebensmittel verkaufen. Der zehnjährige Harry, der als lustiger, sympathischer Junge beschrieben wird, folgte ihnen unbemerkt auf seinen Schlittschuhen. Als er sich dem westlichen Ufer näherte, fiel plötzlich ein Schuss. Der Junge brach getroffen zusammen.

Nach den Unterlagen der Grenzpolizei bemerkten gegen 15 Uhr zwei Grenzpolizei Wachtmeister den Jungen, den sie für einen Jugendlichen hielten. Aus einem Abstand von 900 Metern wähnten sie ihn 30 bis 40 Meter vom westlichen Ufer entfernt. Nach einem Bericht des Staatssicherheitsdienstes habe nun einer von ihnen, der 18-jährige Grenzpolizist Otto R., der seit einem halben Jahr im Dienst des Kommandos Groß Thurow stand, seinen Karabiner vom Rücken genommen und sei, die entsicherte Waffe in Hüfthöhe, zum Ufer gelaufen, um einen Warnschuss abzugeben. Dabei habe sich versehentlich ein Schuss gelöst. Otto R. und sein Kollege hätten beobachtet, wie der „Grenzgänger“ – der zehnjährige Harry Krause – noch 15 Meter weiter gelaufen, dann aber weinend zusammengebrochen sei. Daraufhin habe ihn jemand vom westlichen Ufer an Land gezogen. Die beiden Grenzpolizisten gaben weiterhin an, dass sie glaubten, die Person sei gestolpert und deshalb gestürzt. Dass eine Kugel aus so großer Entfernung getroffen haben könnte, zogen sie erst gar nicht in Erwägung und setzten ihren Streifenweg fort. Unterdessen hatten Kinder, die das Geschehen beobachteten, Harry Krauses Vater Bescheid gegeben. Sofort machte sich dieser auf den Weg zur anderen Seite der Grenze. Die Rückkehr muss ihn viel Kraft gekostet haben: Hinter sich, im Schlitten, zog er die Leiche seines Jungen, eingepackt in Decken. Die Bewohner des Dorfes kamen ihnen entgegen, sie waren traurig und wütend zugleich über diese Tat. Wachtmeister Otto R. hatte den kleinen Harry Krause tödlich getroffen. Gegen 20 Uhr traf die Mordkommission der Polizei aus Schwerin in Groß Thurow ein. Sie nahm die Aussagen der beiden Grenzpolizisten auf, überprüfte diese jedoch nicht, weil es für eine Rekonstruktion des Vorgangs schon zu dunkel war. Ein Arzt aus Schlagsdorf untersuchte die Leiche und vermutete einen Herzsteckschuss als Todesursache. Als Harry Krause im nahen Roggendorf bestattet wurde, standen die Kinder aus Groß Thurow um den hellen Sarg und nahmen Abschied von ihrem Freund. Auf den Grabstein ließen die Eltern gravieren: „Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah“. Die offizielle Version, dass sich der tödliche Schuss auf Harry Krause nur versehentlich gelöste habe, mochte im Ort niemand so recht glauben.

Zwei Monate nach dem Vorfall wandte sich ein Staatssekretär des DDR-Innenministeriums, von Berichten über die negative Stimmungslage in Groß Thurow und Umgebung alarmiert, an den Chef der Deutschen Volkspolizei und an den stellvertretenden DDR-Innenminister Karl Maron, denen er den Todesfall sowie das aus seiner Sicht unverständliche Verhalten des Grenzpolizeikommandos Groß Thurow beschrieb: „[…] von unserer Seite aus ist nichts geschehen. Es wurde nicht einmal mit Familie Krause gesprochen. Bei der Beisetzung hätte die westliche Polizei einen Kranz geschickt, [während] seitens unserer Volkspolizei aber nicht einmal eine Erklärung über den bedauerlichen Vorfall abgegeben worden ist. Ich bitte diese Angelegenheit zu überprüfen, insbesondere auch in der Richtung, dass bei solch einem Vorfall die Volkspolizei dann auch den Mut haben muss, mit den betreffenden Leuten zu sprechen.“

Tatsächlich war Otto R. lediglich disziplinarisch mit Arrest bestraft worden. Die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei selbst wandte sich im August 1951 an die Oberstaatsanwaltschaft in Schwerin mit der Bitte, eine Hauptverhandlung zum Fall Krause einzuberufen: „1) damit der Bevölkerung gezeigt wird, daß Verfahren, an denen VP-Angehörige beteiligt sind, ordnungsgemäß zu Ende geführt werden und der feindseligen Haltung eines Teiles der Bevölkerung von Thurow-Horst damit entgegengetreten wird, 2) damit dem VP-Wm. R[…] die seelische Bedrückung genommen wird, einen Menschen getötet zu haben.“ Doch die Staatsanwaltschaft lehnte ab. Das Verfahren sei bereits nach § 170 der Strafprozessordnung eingestellt worden. „Es liegt keine strafbare Handlung vor, sondern eine Verkettung unglücklicher Umstände, also ein Unglücksfall.“ Nachdem der Plan einer Einwohnerversammlung, bei der die Staatsanwaltschaft und die Volkspolizei zu dem Fall Stellung nehmen sollten, fallengelassen worden war – inzwischen war es November und die Stimmung vor Ort hatte sich beruhigt – kam es zu einer individuellen „Aussprache“ mit den Eltern von Harry Krause. Nach zweieinhalbstündigem Gespräch am 17. November 1951 sei man, so heißt es in einem Bericht der Grenzbereitschaft Schönberg, „im guten Einvernehmen“ auseinandergegangen. Je ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Volkspolizei und der Grenzpolizei hätten dem Vater, welcher der Justiz vorwarf, den Tod seines Kindes vertuschen zu wollen, die Einstellung des Verfahrens begründet. Tatsächlich, so erinnerte sich die Schwester von Harry Krause, bot man den Eltern Schweigegeld an, was der Vater ablehnte. 1952 wurde die Familie Krause aus Groß Thurow zwangsausgesiedelt. Ihr wurde sogar die Möglichkeit genommen, das Grab ihres Jungen zu pflegen.

1995 stellte die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Berlin das Ermittlungsverfahren gegen Otto R. ein. Ihm konnte kein vorsätzliches Tötungsdelikt nachgewiesen werden. Eine Tat aus Fahrlässigkeit unterlag zu diesem Zeitpunkt bereits der Verfolgungsverjährung. Seit dem 31. Januar 2016, dem 65. Todestag von Harry Krause, erinnert ein von Götz Schallenberg entworfenes Erinnerungszeichen an der Alten Schule in Groß Thurow an das Schicksal des Jungen.


Biografie von Harry Krause, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/28-harry-krause/, Letzter Zugriff: 18.04.2024