Eine Bahnfahrt von Magdeburg ins 64 Kilometer entfernt liegende Oebisfelde dauerte in den 1970er Jahren eineinhalb Stunden – für Menschen mit Fluchtabsicht waren dies 90 Minuten der Angst und Sorge, liefen sie doch Gefahr, bereits im Zug überführt und festgenommen zu werden. Der Bahnhof Oebisfelde war ein Grenzbahnhof, er lag im Sperrgebiet, weshalb Reisende einen Berechtigungsschein mit sich zu führen hatten. Um den Kontrollen im Zug zu entgehen, hatten drei Jugendliche am 27. Oktober 1970 einen Plan gefasst, der zwei von ihnen das Leben kosten sollte.
Burkhard Fischbock war 17 Jahre alt und Transportarbeiter, der 19-jährige Joachim Zepernick arbeitete als Kranfahrer und war Kandidat der SED. Gemeinsam mit fünf weiteren Jugendlichen hatten sie in der Magdeburger Gaststätte „Zum Neustädter Bahnhof“ gefeiert und reichlich Alkohol getrunken. Als sie gegen 23 Uhr das Lokal verließen, mögen sie schon den nahenden Winter gespürt haben, die Temperaturen näherten sich dem Gefrierpunkt. Gleich gegenüber im Bahnhof Magdeburg Neustadt bestiegen Burkhard Fischbock, Joachim Zepernick und ihr 17-jähriger Freund H. einen Doppelstockzug nach Oebisfelde. Als der Zug Haldensleben passiert hatte, öffneten sie eines der Fenster im oberen Abteil und schwangen sich auf das Zugdach. Dort würde sie die Transportpolizei und das Bahnpersonal nicht kontrollieren, hofften sie. Als H. versuchte, die Lücke zwischen zwei Waggons zu überspringen, stürzte er und konnte sich auf einem Puffer abfangen. Er hangelte sich zurück ins Abteil. Das rettete ihm das Leben. Seine beiden Freunde prallten wenig später auf dem Dach des Zuges gegen einen Brückenbogen.
Ein Weichenwärter entdeckte Burkhard Fischbock bei der Einfahrt in Oebisfelde mit eingeschlagenem Schädel auf dem Dach des dritten Waggons. Sofort wurde der Zug kontrolliert und H. festgenommen. Bei der Vernehmung erklärte er der Polizei, dass sie nach dem Gaststättenbesuch spontan die Flucht zu dritt versucht hatten, doch er wusste noch nicht, was seinen Freunden geschehen war. Auf der Suche nach Joachim Zepernick fand man am nächsten Vormittag nahe Etingen seine Leiche am Gleiskörper. Bei ihm wurde eine Schädelbasisfraktur als Todesursache festgestellt. Wahrscheinlich geschah das Unglück in einer Unterführung der Bundesstraße 188, etwa zehn Kilometer bevor der Zug sein Ziel erreichte. Das Motiv ihres Fluchtversuchs und das weitere Schicksal von H., der unter der Beschuldigung, „einen Angriff auf die Staatsgrenze“ unternommen zu haben, inhaftiert wurde, sind unbekannt.