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Biografisches Handbuch

Alfred Lill

geboren am 11. März 1933 in Insterburg (heute: Tschernjachowsk, Russland) | erschossen am 1. Januar 1966 | Ort des Vorfalls: Gühlstorf - Viehle (1966: Kreis Hagenow) (1966: Mecklenburg-Vorpommern, heute Niedersachsen)
BildunterschriftAlfred Lill
BildquelleKarin Toben: Weite Heimat Elbe. Lebenswege an einem Schicksalsfluss. Jever: Lüers 2011, S. 97.
Quelle: Karin Toben: Weite Heimat Elbe. Lebenswege an einem Schicksalsfluss. Jever: Lüers 2011, S. 97.
Der Genossenschaftsbauer und freiwillige Grenzhelfer Alfred Lill wurde nach einer Silvesterfeier auf seinem eigenen Grundstück in Grenznähe bei einer Auseinandersetzung mit Grenzposten erschossen.

Alfred Lill kam 1945 mit seiner Mutter und sechs Geschwistern aus Ostpreußen nach Mecklenburg-Vorpommern. In Neu Garge trat er 1953 der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) „Freundschaft“ bei und gehörte später deren Vorstand an. Ab 1959 war er SED-Mitglied, Gemeindevertreter und freiwilliger Helfer der Grenztruppen. Bei der Arbeit in der LPG lernte Alfred Lill die ein Jahr jüngere Elisabeth Priem kennen, eine Vertriebene aus Pommern, die er 1955 heiratete. Das Ehepaar bekam vier Söhne. Über Alfred Lill sind widersprüchliche Informationen überliefert. Einerseits war er ein geachteter Bürger, andererseits hatte er in den 1950er Jahren wegen illegalen Waffenbesitzes und eines Angriffs auf Grenzposten mit einem feststehendem Messer eine Gefängnisstrafe zu verbüßen, außerdem kam es zu Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Trunkenheit am Steuer (1960) sowie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt (1964).

Widersprüchlich sind auch die Berichte darüber, was sich in der Silvesternacht 1965/66 in der Nähe des Elbdeichs bei Viehle ereignete und Alfred Lill das Leben kostete. Die schriftlichen Überlieferungen aus der DDR betonen seine Schuld an dem Zwischenfall und seine angebliche „Angriffslust“. In einer Mitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen des SED-Zentralkomitees, die am 3. Januar 1966 den zuständigen ZK-Sekretär Erich Honecker über besondere Vorkommnisse im Grenzbereich informierte, heißt es: „Am 1.1.1966, gegen 3.00 Uhr wurde beim tätlichen Angriff auf einen Grenzposten und der Versuch des Entwaffnens der DDR-Bürger Lill, Alfred, geb. 11.3.1933, wohnhaft Gühlstorf – Viehle (Kr. Hagenow), LPG-Bauer, Mitglied der SED, verheiratet, 4 Kinder im Alter von 1/2 bis 9 Jahren, durch Anwendung der Schußwaffe tödlich verletzt. Der eingesetzte Grenzposten stellte gegen 2.00 Uhr auf dem Elbdeich 3 Personen, 1 Mann, eine Frau und einen Jugendlichen mit Fahrrädern fest. Auf den Anruf des Postenführers, stehenzubleiben, reagierte nur der Jugendliche. Der Postenführer befahl seinem Posten, bei dem Jugendlichen zu bleiben, während er die beiden Flüchtigen verfolgte und nach Abgabe von Warnschüssen zum Stehen brachte.“ Der Postenführer erklärte ihnen, sie seien bis zum Eintreffen eines Offiziers festgenommen. Der Mann und die Frau begannen, den Grenzposten zu beschimpfen und zu beleidigen und begaben sich in Richtung des Hauses der Familie Lill, wo sie zuvor Silvester gefeiert hatten. Trotz eines nochmaligen Warnschusses setzten sie ihren Weg fort. Durch die Schüsse alarmiert kam Alfred Lill aus dem Haus. Er habe den Postenführer zunächst verbal bedroht und dann mit einer Stablampe auf den Diensthund eingeschlagen. Als er dann den Postenführer angegriffen und versucht habe, ihm die Maschinenpistole zu entreißen, gab dieser einen Feuerstoß von vier Schüssen ab, der Lill tödlich verletzte. In dem Schriftgut des DDR-Staatssicherheitsdienstes wird das Geschehen ebenfalls so dargestellt.

Das Landgericht Stralsund beschreibt die Ereignisse 1997 in seinem Urteil gegen den damaligen 24-jährigen Postenführer Manfred Friedrich V. hingegen folgendermaßen: Am 1. Januar 1966 gegen 1 Uhr habe eine Doppelstreife der Grenztruppen auf dem Elbdeich unweit des Hauses der Familie Lill das Ehepaar B. angetroffen, das sich auf dem Rückweg von der Silvesterfeier bei den Lills befand. Das Ehepaar wollte in das eineinhalb Kilometer entfernte Gülstorf zurücklaufen, wo es seine kleinen Kinder allein zu Hause zurückgelassen hatte. Die Eheleute B. wurden vom Postenführer V. unter Hinweis auf die seit 23 Uhr geltende Sperrstunde im Grenzstreifen angehalten und in den Hof Lills zurückgeschickt. Als Herr B. sich protestierend noch einmal umdrehte und auf die Grenzposten zulief, gab V. einen Warnschuss ab. Die im Hause Lills verbliebenen Gäste empörten sich einhellig über das Verhalten der Grenzer. Der Genossenschaftsbauer Alfred Lill, der die Grenzposten vom Sehen her kannte, sei mit seiner Stabtaschenlampe vor das nur schwach beleuchtete Haus gegangen, um mit V. und seinem Posten P. zu sprechen, die inzwischen das Grundstück erreicht hatten. Während der lautstarken Diskussion ließ V. seinen Diensthund von der Leine und hetzte ihn auf Lill. Dieser wehrte das Tier durch einen Schlag mit der Stabtaschenlampe auf den Rücken ab, woraufhin der Hund von ihm abließ und davonlief. Lill sei danach weiter auf V. zugegangen, während sich beide heftig beschimpften. Lill verlangte, dass das Ehepaar B. nach Hause gehen könne und die Grenzer sein Grundstück verlassen sollten. Er sei – wie auch seine Gäste – nur leicht alkoholisiert, jedoch „sehr aufgebracht“ gewesen. Lill habe auch versucht, V. „gegenüber handgreiflich zu werden, indem er an dessen Waffe fasste, die der Angeklagte jetzt in beiden Händen quer vor seiner Brust hielt. V. konnte jedoch diesen Angriff abwehren, indem er mit den Händen an der Waffe diese nach vorn gegen den Körper Lills drückte, sodass Lill zurückstrauchelte.“ Inzwischen seien auch Frau Lill und die anderen Gäste aus dem Haus gekommen. Die beiden Streitenden hätten sich im Abstand von ca. zwei bis drei Metern gegenübergestanden, als Lill erneut auf den Postenführer zuging. Seine Stabtaschenlampe habe er dabei noch in der Hand gehabt. V., der einen erneuten Angriff befürchtete, sei einige Schritte zurückgetreten und drohte Lill, er werde schießen. Sein Posten, der hinter ihm stand und zuvor schon beruhigend auf ihn eingeredet hatte, rief noch „Schieß nicht!“, als V. die Maschinenpistole in Hüftanschlag nahm. Er schoss zunächst eine Salve Dauerfeuer vor die Füße Lills und unmittelbar darauf zwei weitere Salven auf dessen Beine. Lill wurde von vier Kugeln getroffen und ging zu Boden. Eine weitere Kugel, die ihn verfehlte, verletzte Frau B., die schräg hinter ihm stand, an der Hüfte. Lill starb entweder schon vor Ort oder auf dem Weg ins Krankenhaus. Der diensthabende Arzt stellte vier Einschüsse im Bauchbereich fest. Eine Obduktion der Leiche erfolgte entgegen den gesetzlichen Bestimmungen nicht. Die beiden beteiligten Grenzer wurden in der Woche nach dem Zwischenfall mehrfach von der Militärstaatsanwaltschaft vernommen, für ihre Handlungen aber weder belobigt noch bestraft.

Frau Lill erhielt nach dem Tod ihres Mannes keine finanzielle Unterstützung, auch dessen Lebensversicherung wurde nicht ausgezahlt. Der Witwe wurde mitgeteilt, dass es nicht zur Auszahlung einer Versicherungsprämie kommen könne, weil ihr Ehemann nach Mitteilung des Militärstaatsanwalts die Grenzsicherungskräfte an der Durchsetzung der Grenzordnung gehindert habe. Das Landgericht Stralsund ging 1997 in seinem Urteil gegen den ehemaligen Postenführer von einem „bedingten Tötungsvorsatz“ aus: „Der Angeklagte hätte einen weiteren tätlichen Angriff des Geschädigten, der lediglich mit einer Taschenlampe ‚bewaffnet‘ war, durch bloßes Zurückweichen oder mit einfacher Gewalt ggf. mit Unterstützung P.s ohne größeres eigenes Risiko abwehren können. Dies hat der Angeklagte auch erkannt, zumal er den ersten Angriff des Geschädigten bereits durch einfaches Wegstoßen abgewehrt hatte. Der Einsatz der Maschinenpistole im Betriebszustand Dauerfeuer aus einer Entfernung von lediglich 2–3 m war keine ‚erforderliche‘ Verteidigungshandlung.“ Nach Auffassung des Gerichts wusste Manfred V. zudem, dass er ein schlechter Schütze war und die Waffe bei der Dauerfeuereinstellung „auswandern“ konnte. Zwar habe er Lill nicht töten wollen, nahm mit seinen insgesamt 14 Schüssen dieses Risiko jedoch in Kauf. Die zweijährige Bewährungsstrafe erging wegen eines „minder schweren Fall des Totschlags“, einen Revisionsantrag der Verteidigung verwarf der Bundesgerichtshof.

In ihrem Buch Weite Heimat Elbe schildert Karin Toben, wie die Witwe Elisabeth Lill 1997 den Prozess gegen den Todesschützen ihres Mannes erlebte. Dieser habe im Gerichtssaal die ganze Zeit eine Hand vor sein Gesicht gehalten und sie nie angeblickt. Das Urteil kommentierte Elisabeth Lill mit den Worten: „Soviel ist also ein Menschenleben wert.“ Das Gericht hörte als Zeugen auch den ehemaligen Grenzsoldaten Bernd P. an, der vor Abgabe der tödlichen Schüsse noch versuchte, seinen Postenführer Manfred V. zu beruhigen. Bernd P. sagte aus, er sei nach den Schüssen hinter eine Scheune gelaufen, habe geweint und mit den Fäusten gegen das Scheunentor geschlagen. Er könne das grausame Geschehen nie vergessen.


Biografie von Alfred Lill, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/144-alfred-lill/, Letzter Zugriff: 19.04.2024