Siegfried Gammisch kam am 29. September 1946 als Sohn von Marta Gammisch, geb. Endt (*1919 †1998) und ihrem Mann Wenzel Gammisch (*1913 †1982) in Schwarzenberg auf die Welt. Wenzel Gammisch, der als Bergarbeiter bei der Wismut arbeitete, wird von Zeitzeugen aus Schwarzenberg als Einzelgänger und ruhige Person beschrieben. Siegfried Gammisch besuchte in Schwarzenberg bis zur 10. Klasse die damalige „Ernst-Schneller-Oberschule“, danach absolvierte er eine Facharbeiterausbildung zum Werkzeugmacher bei dem VEB Meßgerätewerk im benachbarten Beierfeld, die er mit der Note gut abschloss. Er gehörte im Betrieb der FDJ und dem FDGB an. Vom Wehrdienst war er aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt.
Mit seinem Schulfreund und Arbeitskollegen Karl-Heinz Engelmann buchte Siegfried Gammisch über das DDR-Reisebüro zu Ostern 1966 eine Reise in das bulgarische Skigebiet Pamporovo in den Rhodopen. Sie wurden von „Balkantourist“ mit ihrer Reisegruppe im Hotel „Orfei“ untergebracht.
Ebenfalls am 11. April 1966 gegen 11:15 traf am Ort des Geschehens eine Untersuchungskommission ein, die Kapitän Altanas Christov Petrov, Untersuchungsrichter bei der Bezirksverwaltung des Innenministeriums in Smoljan, leitete. Etwa 600 Meter südöstlich des Kozuyatak lag laut Petrovs Protokoll auf einer kleinen Wiese im Tannenwald zwei männliche Leichen auf dem Rücken. Der Eine Tote war „mit einem schwarzen Anorak, dunkelblauer Hose, darüber weisses Hemd und Hosen” bekleidet. Aus den mitgeführten Papieren ging hervor, dass es sich um Karl-Heinz Engelmann handelte. Bei der Leiche des zweiten Mannes, der einen grauen Anorak und eine dunkelblaue Keilhose trug, “über die er weisse Hosen angezogen” hatte, fanden sich Ausweispapiere auf den Namen Siegfried Gammisch. Wie der Untersuchungsrichter äußerlich feststellte war Gammischs Anorak im Bereich des Oberkörpers “an sechs Stellen durchschossen” auch der linke Arm war “an fünf Stellen durchlöchert”.
Die Ergebnisse der von dem Gerichtsmediziner Dr. Atans Wassilev Tschalokov am 11. April 1966 gegen 13:00 Uhr durchgeführten Obduktion der Leiche Gammisch sind überliefert. Sie bestätigen die Feststellung des Untersuchungsrichters. Der Gerichtsmediziner stellte drei Einschüsse im Bereich des Rückens mit Ausschüssen am Bauch, vier Treffer in den Armen und einen in der linken Schulter fest. Alle Schüsse trafen Siegfried Gammisch von hinten. Als Zeugen waren bei der Obduktion neben Untersuchungsrichter Armeekapitän Petrov auch ein Kraftfahrer der bulgarischen Staatssicherheit namens Todor Kirov zugegen sowie der anzeigende Klempner Georgi Manolov Christov.
Am 14. April 1966 erreichte Erich Honecker, der zu dieser Zeit in der Parteiführung für Sicherheitsfragen zuständig war, eine Einzelinformation des DDR-Staatssicherheitsdienstes „über einen verhinderten Grenzdurchbruch von zwei Bürgern der DDR von der VR Bulgarien nach Griechenland mit tödlichem Ausgang für die Grenzverletzer“. Ihm wurde auch mitgeteilt, dass es sich bei den beiden getöteten DDR-Bürgern um junge Facharbeiter aus dem VEB Meßgerätewerk Beierfeld handelte. Honecker musste sich zu einem späteren Zeitpunkt erneut mit den beiden Todesfällen befassen, denn die Familien Engelmann und Gammisch bemühten sich über Jahre um die Klärung der Todesumstände ihrer Söhne und um Auskunft über den Ort der Grablegung. So sah sich das „Büro Honecker“ im Januar 1975 aufgrund von Eingaben mit der Frage konfrontiert, wo sich „der konkrete Bestattungsort“ von Karl-Heinz Engelmann und Siegfried Gammisch in Bulgarien befinde. Das führte zu einer am 1. Oktober 1975 übergebenen Note des DDR-Botschafters Werner Wenning in Sofia an das bulgarische Außenministerium mit einer erneuten Anfrage nach den Gräbern von Engelmann und Gammisch. Botschafter Wenning erhielt die Zusicherung der Konsularabteilung des bulgarischen MfAA, dieser Frage nachzugehen, „um den Bestattungsort genau festzustellen“.
Freilich war genau das, trotz vielfacher Anfragen der Angehörigen in den neun Jahren seit dem Tod ihrer Söhne, nicht möglich gewesen. Die Familien hatten sich an die verschiedensten staatlichen Instanzen gewandt, und erfolglos um Aufklärung in dieser Sache gebeten.
Beide Familien erhielten mehrfach Besuche von Mitarbeitern des MfS, sie wurden außerdem wiederholt zu Unterredung in die Abteilung Inneres des Kreises Schwarzenberg einbestellt, ohne die gewünschten Auskünfte zu erhalten. Da in Schwarzenberg das Gerücht umging, die beiden in Bulgarien ums Leben gebrachten jungen Männer seien heimlich auf dem örtlichen Johannisfriedhof beerdigt worden, erstritten die Familien Engelmann und Gammisch die Öffnung eines verwaisten Doppelgrabes, in dem sich angeblich die sterblichen Überreste ihrer Söhne befinden sollten. Bei der Graböffnung am 14. Dezember 1970 fand man dort jedoch nur die Knochen eines Mannes und einer Frau, die vor langer Zeit beigesetzt worden waren.
So kam es zu dem erneuten Vorstoß des DDR-Botschafters Wenning am 1. Oktober 1975. Der stellvertretende Leiter der Konsularabteilung im bulgarischen Außenministerium Kowatschew beantwortete die Anfrage am 9. Dezember 1975 bei einem Gespräch mit dem DDR-Botschafter und erklärte, dass die beiden DDR-Bürger „weder exhumiert noch überführt werden können, da die Grabstellen nicht mehr bestehen. […] Eine schriftliche Mitteilung kann vom MfAA nicht gegeben werden, da seinerzeit die Beisetzung der o.g. Bürger mit der Botschaft der DDR vereinbart und in den folgenden Jahren keine Anfragen an die bulgarische Seite in der Sache erfolgte. Nach bulgarischem Recht werden Grabstellen nach acht Jahren neu belegt.” Eine Bitte um schriftliche Mitteilung habe Kowatschew konsequent abgelehnt.
Parallel zu den Auskunftsbemühungen der Familien Engelmann und Gammisch in der DDR befassten sich auch westdeutsche Dienststellen mit den beiden Todesfällen. Bereits am 24. Mai 1966 informierte Charlotte Herwegh, eine Cousine Karl-Heinz Engelmanns, die 1959 aus der DDR geflüchtet war, das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen über den tödlichen Zwischenfall an der bulgarisch-griechischen Grenze. Sie habe durch Verwandte aus Schwarzenberg davon erfahren, dass ihr Vetter Karl-Heinz Engelmann und sein Freund Siegfried Gammisch am 2. April 1966 von Berlin-Schönefeld nach Sofia flogen und versucht hatten, aus Bulgarien nach Griechenland zu flüchten, um in die BRD zu gelangen. Den Eltern sei die Nachricht vom Tod ihrer Söhne übermittelt worden, die Toten wurden jedoch nicht in die DDR überführt, eine Reiseerlaubnis nach Bulgarien, um die Gräber zu besuchen, sei den Eltern verwehrt worden. „Die Besucherin teilt noch mit, daß Ihre Verwandten und Bekannten (die Eltern der beiden jungen Männer) jetzt in der SBZ außerordentlichen Schikanen und Anfeindungen ausgesetzt sind.“
Im Jahr darauf meldete sich am 20. März 1967 Ingeborg Kopzynski, eine aus der DDR geflüchtete Teilnehmerin der Reisegruppe nach Pamporovo bei dem Gesamtdeutschen Ministerium und berichtete, sie sei „vom 2. bis 16.4.1966 […] über das Reisebüro der ‚DDR’ nach Pamporovo in Bulgarien gereist. Der Ort liegt im Gebirge an der Südgrenze Bulgariens. Die Reisegruppe bestand aus 30 bis 40 Personen, darunter Karl-Heinz Engelmann, ca 19/20 Jahre, aus (943) Schwarzenberg/Erzgeb., Ernst-Schneller-Str. 16, und Siegfried Gammisch, ca 19/20 Jahre, ebenfalls aus Schwarzenberg, nähere Anschrift unbekannt. Am Gründonnerstag kamen diese beiden jungen Männer zu spät zum Abendessen und wurden deswegen vom Reiseleiter Goder aus Ost-Berlin verwarnt. Es wurde eindringlich auf die Nähe der Bulgarischen Staatsgrenze hingewiesen mit dem Zusatz, daß man sich gerade deswegen besonders diszipliniert verhalten müsse. Am Ostersonntag waren die beiden jungen Männer nach dem Mittagessen verschwunden, und sie blieben es auch. In der Nacht vom Ostermontag auf Dienstag heulten die Alarmsirenen, keiner aus der deutschen Reisegruppe erfuhr näheres. Es wurde erklärt, daß auf der Rückreise in Sofia vom Reiseleiter Informationen gegeben würden. Aber auch dies geschah nicht. Man erfuhr nur, daß der Reiseleiter nicht sprechen durfte.“ Frau Kopzynski hörte dann von einer Mitreisenden, „daß Engelmann und Gammisch an der Bulgarischen Staatsgrenze erschossen worden seien“. Eine Protokollnotiz des Gesamtdeutschen Ministeriums informierte die Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter über die Aussagen der Zeugin.
Auch Karl-Heinz Engelmanns Cousine Charlotte Herwegh bemühte sich beim Bonner Auswärtigen Amt und dem Roten Kreuz weiter um eine Klärung der Todesfälle. Ludwig Rehlinger, damals Ministerialbeamter im Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, schrieb am 31. März 1967 an die zentrale Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amtes unter “Betr. Erschießung von zwei Einwohnern der SBZ an der bulgarisch-griechischen Grenze”. Rehlinger wies darauf hin, dass die Eltern der beiden jungen Männer bis Januar 1967 keine Sterbeurkunden erhalten hätten. Sie hätten dann auf Empfehlung der Kriegsgräberfürsorge, an die sie sich gewandt hatten, die Kirchenkanzlei in Ost-Berlin eingeschaltet, die auch nicht weiterhelfen konnte. Rehlinger weiter: “Es ist zum ersten Mal, daß mir Fälle bekannt werden, in denen der Gebrauch der Schußwaffen gegen fluchtwillige Einwohner der Zone durch die Grenzorgane anderer Ostblockstaaten zum Tod der Flüchtlinge führte.”
Weitere Informationen zu dem Vorfall gelangten im Oktober 1967 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Erfassungsstelle Salzgitter gegen den Potsdamer Richter Skupin wegen Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung dem Bundesministerium für Justiz zur Kenntnis. Der aus DDR-Haft freigekaufte Gerätemonteur Martin Krickstatt hatte zur Reisegruppe von Engelmann und Gammisch gehört. Er berichtete, der deutsche Reiseleiter, sowie die bulgarische Dolmetscherin seien zum Ort des Geschehens gebracht worden, um die Leichen zu identifizieren. Obwohl sie zum Schweigen verpflichtet worden seien, hätte die bulgarische Staatsangehörige, die praktisch seine Verlobte sei, ihm berichtet, „daß einer der Fluchtwilligen 6 Einschüsse in der Brust aufwies“. Das Bundesministerium für Justiz leitete diese Information ebenfalls an das Auswärtige Amt weiter, das seinerseits am 13. März 1968 die Deutsche Handelsvertretung in Sofia über die „Erschiessung von zwei Deutschen aus der SBZ an der bulgarisch-griechischen Grenze am 10. oder 11.4.1966“ informierte. Die Handelsvertretung war jedoch nicht in der Lage, weitere Auskünfte von bulgarischen Behörden zu erhalten.
In Schwarzenberg führten die andauernden Beschwerden der Familie Engelmann unterdessen dazu, dass die Vorsitzende des Rates des Kreises Schwarzenberg, Marianne Jupe, eine diplomierte Staatswissenschaftlerin, dem Anliegen der Familie beisprang und am 5. Dezember 1969 eine Beschwerde „gegen die Arbeitsweise zentraler Organe“ einreichte, die sich gegen das Verhalten der Generalstaatsanwaltschaft richtete. Abteilungsleiter Staatsanwalt Gernot Windisch reagiert vier Tage später mit der Anweisung, es sei der Ratsvorsitzenden Genossin Jupe mitzuteilen, dass der Bestattungsort nicht bekannt ist und auch auf diplomatischem Weg dazu keine Auskunft verlangt werden könne, „da es innere Angelegenheit des betroffenen Landes ist, wie mit Rechtsbrechern verfahren wird“. Was die von Familie Engelmann beantragte Reise nach Bulgarien betrifft, solle der Ratsvorsitzenden „der zentrale Standpunkt übermittelt werden, daß sie über derartige Anträge nicht entscheidungsbefugt ist“. Es müsse zentral geklärt werden, ob den Eheleuten Engelmann die Ausreise nach Bulgarien genehmigt wird. „Standpunkt: nein, Begründung mdl.“
Nach dem UNO-Beitritt der DDR suchte Familie Engelmann den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Schwarzenberg auf und teilte ihm mit, sie würde sich an die UNO wenden, wenn sie nicht bald über den Ort der Beisetzung und den Tatablauf informiert würde. Die DDR sei jetzt Mitglied der Vereinten Nationen und müsse sich auch an die internationalen Gepflogenheiten halten. In einem Gesprächsvermerk heißt es: „Der 1. Sekretär konnte wenig zu diesem Problem sagen, versprach aber, soweit es ihm möglich ist, sich um die Angelegenheit zu kümmern.“ So kam es am 29. Januar 1974 zu einer Besprechung in der SED-Kreisleitung, an der die Ratsvorsitzende Jupe, der Chef des Volkspolizeikreisamtes Geyer, Staatsanwalt Pache und MfS-Kreisdienstellenleiter Hans Windisch teilnahmen. Die Runde kam zu dem Ergebnis, „daß der Genosse Staatsanwalt über die Bezirksstaatsanwaltschaft die Generalstaatsanwaltschaft anschreibt und nochmals bittet, um zu einer endgültigen Klärung dieser Fakten mit der Familie Engelmann zu kommen, daß ein verantwortlicher Vertreter hier erscheint, um die Sache an Ort und Stelle zu klären“.
Am 23. Juli 1976 lud die Kreisstaatsanwaltschaft Schwarzenberg die Familien Engelmann und Gammisch zu einer Besprechung vor. Aus Berlin war für die Generalstaatsanwaltschaft Horst Juch und im Auftrag des 1. Stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit Generalleutnant Bruno Beater aus Dresden Oberstleutnant Wolfgang Böhme angereist. Staatsanwalt Juch eröffnete den beiden Familien, „daß keine Möglichkeit besteht, die sterblichen Überreste ihrer 1966 in Bulgarien bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommenen Kinder Engelmann, Heinz und Gammisch, Siegfried zu erhalten“. Die Gräber im Hochgebirge seien „durch Witterungs- und Natureinflüsse nicht mehr existent“. Böhme berichtete Bruno Beater nach Berlin, Familie Gammisch habe die Mitteilung gefasst aufgenommen, Familie Engelmann habe sich hingegen damit nicht zufriedengegeben und darauf bestanden „die endgültige Mitteilung schriftlich zu erhalten, was ihnen nicht gewährt werden konnte“.