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Biografisches Handbuch

Michael Gartenschläger

geboren am 13. Januar 1944 in Berlin | erschossen am 30. April 1976 | Ort des Vorfalls: nahe Grenzsäule 231, bei Bröthen (Schleswig-Holstein)
Um eine der gefährlichen Splitterminen SM-70 vom Metallgitterzaun der Sperranlagen zu demontieren, näherte sich Michael Gartenschläger dem DDR-Grenzzaun. Nachdem es ihm bereits zweimal gelungen war, die von der DDR geleugneten Mordgeräte abzubauen und als Beweismittel der westlichen Öffentlichkeit zu präsentieren, endete der dritte Versuch tödlich – Michael Gartenschläger wurde von Scharfschützen des Staatssicherheitsdienstes erschossen.

Michael Gartenschläger wuchs in Strausberg, östlich von Berlin auf. Das im Jahre 1956 geschaffene Ministerium für Nationale Verteidigung hatte hier seinen Hauptsitz. Das Bild der idyllischen Kleinstadt war zunehmend vom Militär geprägt. Die Eltern erzogen ihren Sohn Michael und seine Schwester im evangelischen Glauben. Da die Eltern eine Gaststätte bewirtschafteten, kümmerte sich die ältere Schwester oft um ihn. Die beiden Geschwister hatten trotz ihres Altersunterschiedes von sechs Jahren eine innige Verbindung. Michael Gartenschläger verließ im Jahre 1958 mit dem Abschluss der 8. Klasse die Schule. Wie viele andere Jugendliche ging auch er zur staatlichen Jugendweihe. Im Folgejahr feierte man im Familienkreis aber auch seine Konfirmation.

Nach der Schule begann Michael Gartenschläger eine Lehre als Autoschlosser. In der Freizeit half er seinen Eltern in deren Gaststätte. Mit Gleichaltrigen gründete er einen Ted-Herold-Fanclub. Die Strausberger Clique hörte die Songs des westdeutschen Rock-‘n‘-Roll-Stars heimlich im RIAS und fuhr häufig nach West-Berlin, um dort ins Kino zu gehen, im Amerikahaus Illustrierte zu lesen und sich in Musikgeschäften Platten von Elvis Presley anzuhören. Wenn sie genug Westgeld dabei hatten, kauften sie auch Platten und Zeitschriften und nahmen sie heimlich mit über die Grenze.

Nachdem die Clique in der westdeutschen Jugendzeitschrift Bravo eine Kontaktanzeige veröffentlicht hatte, reagierte die Volkspolizei und beschlagnahmte bei mehreren Strausberger Jugendlichen Rock-‘n‘-Roll-Platten, Plakate und Illustrierte als Beweisstücke „westlicher Dekadenz“. Das Polizeikreisamt ordnete die Schließung des Clubs an und die Besuche in West-Berlin fanden durch die Abriegelung der Sektorengrenze am 13. August 1961 ein abruptes Ende. Aus Protest gegen den Mauerbau malte Gartenschlägers Clique Losungen an Häuserwände und steckte eine Scheune der LPG „Einheit“ in Brand.

Am 19. August 1961 wurden der 17-jährige Michael Gartenschläger und seine Freunde wegen des Verdachts der „staatsgefährdenden Propaganda und Hetze“ festgenommen. In einem Schauprozess verurteilte das Landgericht Frankfurt/Oder am 13. September 1961 die Jugendlichen als „konterrevolutionäre Gruppe“. Der Staatsanwalt beantragte für Michael Gartenschläger und dessen Freund Gerd Resag die Todesstrafe. Da sie zur Tatzeit jedoch noch Jugendliche waren, erhielten sie lebenslange Freiheitsstrafen. Die anderen drei aus der Strausberger Clique wurden zu Haftstrafen zwischen sechs und 15 Jahren verurteilt.

Ein im Jahr 1967 freigekaufter Mithäftling Michael Gartenschlägers informierte während eines deutsch-englischen Jugendaustauschs in London die Zentrale von Amnesty International über die Haftfälle Michael Gartenschläger und Gerd Resag. Gnadengesuche der Familien der beiden jungen Männer waren von den DDR-Instanzen abgelehnt worden. Nach neun Jahren in Haft beantragte Michael Gartenschläger die Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Im Februar 1971 richtete Amnesty International einen mehrseitigen Brief an die DDR-Nachrichtenagentur ADN und forderte unter Verweis auf universale Menschenrechte die Begnadigung Gartenschlägers. Ende Mai 1971 durfte Michael Gartenschläger zusammen mit 28 anderen politischen Häftlingen des Zuchthauses Brandenburg in den Westen ausreisen. Auch Gerd Resag kam frei. In diesem Jahr kaufte die Bundesregierung 1 375 politische Häftlinge für mehr als 92 Millionen DM von der DDR frei. Der 27-jährige Michael Gartenschläger hatte neun Jahre und zehn Monate im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau und im Zuchthaus Brandenburg verbracht.

Über die „Helfenden Hände“, ein Hamburger Hilfswerk, das sich seit den 1960er Jahren unter anderem für politische Häftlinge in der DDR und ihre Angehörigen einsetzte, gelangten Michael Gartenschläger und Gerd Resag nach Reinbek ins Haus Billetal, eine familiäre Bleibe in dem Hamburger Vorort. Neben der Intervention von Amnesty International trug auch die unermüdliche Hartnäckigkeit der „Helfenden Hände“ maßgeblich zur Freilassung Michael Gartenschlägers bei. Im Sommer 1972 bezog er seine erste eigene Wohnung. Sein ehemaliges Zimmer im Haus Billetal bezog Lothar Lienicke, ein ebenfalls von der Bundesrepublik freigekaufter DDR-Häftling. Er kannte Michael Gartenschläger aus dem Zuchthaus Brandenburg. Die beiden freundeten sich an, genossen das Leben in Freiheit und unternahmen zusammen einige Reisen. Auf Transitreisen durch die DDR trafen sich die freigekauften ehemaligen DDR-Häftlinge mit ihren Verwandten. Das seit 1971 geltende Transitabkommen erlaubte Bundesbürgern die Reise durch die DDR, wobei Ausweiskontrollen, jedoch keine Fahrzeugkontrollen, erfolgen durften. Michael Gartenschläger engagierte sich als Fluchthelfer. Im Kofferraum seines roten Opels schaffte er mehrere DDR-Bürger über die Grenze in die Bundesrepublik. Gerne hätte er auch seine Schwester und ihre Familie aus der DDR geholt, doch sie scheute das Risiko einer Flucht.

Im Jahr 1975 kam Michael Gartenschläger auf den Gedanken, eine an der Grenze installierte Selbstschussanlage abzumontieren. Er wollte diese von der DDR offiziell geleugnete Tötungsmaschine der westlichen Öffentlichkeit präsentieren. Die Splitterminen SM-70 kamen seit 1971 an den DDR-Grenzzäunen zum Einsatz. Sie wurden in unterschiedlicher Höhe an den drei Meter hohen Streckmetallzaun montiert und zündeten bei Berührung der davor gespannten Signaldrähte. Sie verschossen bei Auslösung etwa 100 scharfkantige Stahlsplitter parallel zum Metallgitterzaun und fügten Flüchtlingen schwerste oder gar tödliche Verletzungen zu. Michael Gartenschläger wusste von der missglückten Flucht Hans-Friedrich Francks, der sich im Januar 1973 von einer Splittermine schwer verletzt noch auf westdeutsches Gebiet schleppen konnte, jedoch trotz umfassender ärztlicher Versorgung und mehreren Operationen schließlich seinen Verletzungen erlegen war.

Am 30. März 1976 montierte Michael Gartenschläger mit einem Helfer nahe Schwarzenbek, östlich von Bröthen, am sogenannten Grenzknick Wendisch/Rietz, eine Splittermine vom Grenzzaun ab. Er verkaufte diese Selbstschussanlage zusammen mit seiner Lebensgeschichte dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Das Magazin veröffentlichte die Geschichte am 16. April 1976 und widerlegte damit die offiziellen DDR-Verlautbarungen, es gebe keine Selbstschussautomaten an den Grenzanlagen. In der Nacht des 23. April 1976 gelang Michael Gartenschläger ein zweiter Coup. Erneut demontierte er eine SM-70-Anlage vom Grenzzaun. Sie sollte im August bei dem „Internationalen Sacharow-Hearing“ in Kopenhagen der Öffentlichkeit präsentiert werden. Das Hearing sollte Menschenrechtsverletzungen in den Ostblockstaaten anklagen. Auch Rainer Hildebrandt, Vorsitzender der Berliner „Arbeitsgemeinschaft 13. August“, bekundete sein Interesse, einen dieser Tötungsapparate im Museum „Haus am Checkpoint Charly“ auszustellen.

Unterdessen braute sich auf der DDR-Seite Unheil zusammen. Am 24. April 1976 berieten mehrere hochrangige Stasi-Offiziere über „Gesamtmaßnahmen zur Ergreifung bzw. Liquidierung der Täter“, die im Sicherungsabschnitt der 12. Grenzkompanie Leisterförde zwei „Schützenminen vom Typ SM 70“ entwendet hatten. An der Beratung nahmen Oberst Zillich, Oberstleutnant Tyra und Hauptmann Singer von der MfS-Hauptabteilung I sowie Major Meyer von der Arbeitsgruppe des Ministers Mielke teil. Die Stasi-Offiziere verfassten einen Plan zur „Vorbereitung und Durchführung einer ununterbrochenen Beobachtung des gegnerischen Vorfeldes sowie zur Identifizierung von möglichen Tätern“. Im Protokoll des Treffens heißt es: „Zur wirksamen Bekämpfung und Ergreifung der Täter erscheint es zweckmäßig, die Bearbeitung des vermutlichen Täters Gartenschläger durch OSL Booth mit den Maßnahmen, die von der Arbeitsgruppe durchgeführt werden, eng zu koordinieren und weitestgehend unter Einhaltung der Konspiration abzustimmen. Beginnend mit dem 25.4.76, 21.00 Uhr bis 03.00 Uhr des nachfolgenden Tages nach Schaffung von 3 notwendigen Gassen in der Anlage 501, Einsatz von 2 Postenpaaren der Abteilung Äußere Abwehr unter Führung eines operativen Mitarbeiters feindwärts der Anlage 501 mit dem Ziel der Festnahme oder Vernichtung der Täter.“ Zur Gewährleistung möglicherweise „notwendiger militärischer Unterstützung und Deckung der feindwärts eingesetzten Kräfte“ sollten weitere zwei Postenpaare auf der DDR-Seite der Sperranlagen zum Einsatz kommen. Die im Hinterhalt liegenden Einzelkämpfer sollten mit speziellen Horch- und Nachtsichtgeräten ausgerüstet werden. Weitere „6–8 Kämpfer der Abt. Äußere Abwehr“ würden zur „Erhöhung der Postendichte“ bereitstehen. Zusätzlich werde ein „Einsatz von ausgebildeten Scharfschützen feindwärts als auch freundwärts der Sperranlagen während der Tages- und Nachtzeit“ erfolgen. Insgesamt 21 MfS-Männer kamen schließlich in wechselnden Schichten rund um die Uhr zum Einsatz. Sie erwarteten Michael Gartenschläger.

Das Gesicht mit Schuhcreme geschwärzt und mit einem dunkelblauen Mantel bekleidet begab dieser sich am 30. April 1976 gegen 22.30 Uhr zum dritten Mal im Landkreis Lauenburg an die innerdeutsche Grenze, um eine weitere SM-70 abzubauen. Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe begleiteten ihn an diesem kühlen Frühlingsabend. Die drei Männer führten zwei Pistolen und eine abgesägte Schrotflinte mit sich. Sie nahmen irrtümlich an, dass durch die anstehenden Maifeierlichkeiten in der DDR eine verminderte Grenzsicherung bestünde. Ursprünglich hatten sie für die dritte Aktion einen anderen Grenzabschnitt in Betracht gezogen, doch dann entschieden sie sich für die „bewährte“ Stelle. Sie ahnten nicht, dass sie dort bereits von Scharfschützen des DDR-Staatssicherheitsdienstes erwartet wurden. An der Grenze beschlich Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe ein mulmiges Gefühl. Sie versuchten, ihren Freund von der Aktion abzubringen. Ihnen war aufgefallen, dass der Metallgitterzaun im Dunkeln lag, obwohl dort nach der ersten Demontage einer SM-70 eine starke Lichtanlage installiert worden war. Die ungewöhnliche Situation muss auch Gartenschläger misstrauisch gemacht haben. Die drei kehrten um. Als sie sich bereits 150 Meter von der Grenze entfernt hatten, blieb Gartenschläger stehen. Er sagte zu seinen beiden Freunden, er wolle zurück, um wenigstens eine Mine am Zaun zu zünden. Er näherte sich wenig später in gebückter Haltung dem Grenzzaun. Bis auf zehn Meter kam er an den Zaun heran. Dann fielen Schüsse, Scheinwerfer blendeten auf und tauchten den Grenzabschnitt in gleißendes Licht.

Das metallische Klicken, das Lienicke und Uebe kurz zuvor vernommen hatten, stammte von einer MPi Kalaschnikow. Auch Gartenschläger muss das gehört haben, er soll nach späteren Aussagen der MfS-Einzelkämpfer seine Pistole gezogen und in ihre Richtung geschossen haben. Die MfS-Leute eröffneten das Feuer und schossen ihre Magazine leer. Zwischen 120 und 140 Schüsse feuerten sie auf Gartenschläger und seine beiden Helfer ab. Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe rannten um ihr Leben.

Die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der deutsch-deutschen Grenzkommission sprach im Namen der Bundesregierung die Erschießung Gartenschlägers in der 27. Sitzung der Grenzkommission am 5. Mai 1976 in Bayreuth an. Regierungsdirektor Erich Kristof erklärte, der Tod Gartenschlägers sei die Folge einer Grenze, „die einmalig in der Welt ist. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat die Aktion der Grenztruppen der DDR als Mord und Mordversuch qualifiziert.“ Es handele sich „um einen Grenzzwischenfall von ungewöhnlicher Schärfe. Die Höhe und Entfernung der Einschüsse auf dem Gebiet der Bundesrepublik beweisen, daß bewußt auf Personen geschossen worden ist, die sich eindeutig auf dem Gebiet der Bundesrepublik befanden.“ Der Leiter der DDR-Delegation wies die Erklärung zurück und behauptete, mit der Thematisierung dieser „Grenzprovokation“ würde versucht „Fragen zum Gegenstand der Arbeit der Grenzkommission zu machen, die nicht zu ihren Aufgaben gehören“.

Das nächtliche Geschehen am Grenzknick Wendisch/Rietz wurde nach der Wiedervereinigung vor dem Landgericht Schwerin folgendermaßen rekonstruiert. Nachdem Gartenschläger getroffen zusammengebrochen war, „gab der Angeklagte L. den Befehl ‚Licht an!‘, woraufhin der Zeuge He., der den Scheinwerfer, der bis dahin auf die Ausleuchtung des Vorfeldes ausgerichtet war, nun auf den Handlungsort lenkte. Die Angeklagten und der Zeuge Li. sahen daraufhin eine verletzte Person am Boden auf dem Rücken in ca. 10 m Entfernung vor sich liegen. Der Angeklagte W. und der Zeuge Li., der ihn zuerst erreichte hob den Arm des Verletzten und rief sinngemäß ‚der lebt noch!‘ In diesem Augenblick nahm der Angeklagte L. westwärts Geräusche wahr, die von den Zeugen Lienicke und Uebe verursacht wurden, als diese wegen der Schießerei flüchteten. L. erteilte dann sinngemäß den Befehl: ‚Licht aus, weg da vorne, da sind noch welche!‘ Als der Angeklagte W. seine frühere Position fast erreicht hatte und der Zeuge Li. noch in der Zurückbewegung in Richtung seiner früheren Position war, schoß der Angeklagte L. selbst mit ein bis zwei kurzen Feuerstößen auf westliches Territorium, und zwar in Richtung Lienickes Fluchtweg und den Standort des Zeugen Uebe. Nach Beendigung der Schießerei brachten die Angeklagten R., W. und L. gemeinsam mit dem Zeugen He. den Verletzten durch die Öffnung im Metallgitterzaun und von dort zur Führungsstelle, wo sie ihn auf den Boden legten. Michael Gartenschläger lebte zu diesem Zeitpunkt noch; er gab röchelnde Geräusche von sich. Zeitgleich sammelte der Zeuge Li. vor dem Metallgitterzaun die liegengebliebenen Sachen ein.“ Der Militärarzt Dr. Meinig diagnostizierte später als Todeszeitpunkt Gartenschlägers 23.45 Uhr. Das Schweriner Institut für Gerichtliche Medizin stellte neun Schusswunden an seinem Körper fest. Michael Gartenschläger wurde am 10. Mai 1976 um 15 Uhr auf dem Schweriner Waldfriedhof als unbekannte Wasserleiche beigesetzt. Seine Schwester erfuhr erst nach der Wiedervereinigung, wo sich das Grab ihres Bruders befand.

Lothar Lienicke und ein weiterer Freund Michael Gartenschlägers errichteten sechs Monate nach der Todesnacht an der Grenzsäule 231 ein Gedenkkreuz, dessen Inschrift nach Osten zeigte. Im November 1976 weihten seine Freunde dort auch eine kleine Gedenkstätte ein. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Todesschützen und ihre Befehlsgeber begannen erst 1999. Nach widerstreitenden Zeugenaussagen sprach das Schweriner Landgericht drei der beteiligten Schützen aus der MfS-Einsatzkompanie vom Vorwurf des versuchten Mordes frei. Ihnen wurde eine Notwehrhandlung zugebilligt, da sie übereinstimmend aussagten Michael Gartenschläger habe zuerst mit seiner Pistole auf sie geschossen. Demgegenüber erklärten seine damaligen Begleiter Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe, dass es keine Warnrufe gab und die ersten Schüsse von der anderen Seite fielen.


Biografie von Michael Gartenschläger, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/203-michael-gartenschlaeger/, Letzter Zugriff: 21.11.2024