Die Frage ging dem Vater von Rudolf Jörg Reuter nicht aus dem Kopf: Wie ist es möglich, dass in der Bundesrepublik ein Mensch über Jahre hinweg spurlos verschwindet? Von der Polizei, der Bundeswehr, dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, ja sogar von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR erhielt er immer nur die gleiche Antwort: Der Aufenthaltsort seines Sohnes könne nicht ermittelt werden. Unglaubwürdig erschien ihm die Erklärung, der Zeitsoldat Rudolf Reuter habe Fahnenflucht begangen. Hätte er dann nicht wenigstens seinen Eltern ein Lebenszeichen gegeben?
Rudolf Reuter wurde am 14. Februar 1946 als zweites Kind der Eheleute Anna und Ernst Reuter in Nürnberg geboren. Er soll ein eigenwilliger Mensch gewesen sein, der immer wieder etwas Neues ausprobieren wollte, den es in die Ferne zog. Sein Vater riet ihm, zur Bundeswehr zu gehen und hoffte, dass dieser Dienst seinem Sohn eher entsprechen würde als eine betriebliche Ausbildung. Rudolf Reuter verpflichtete sich daraufhin für vier Jahre als Zeitsoldat. Im Januar 1963, er war noch 16 Jahre alt, wurde er zum 2. Flugabwehrbataillon nach Regensburg eingezogen. Zunächst gefiel ihm das Soldatenleben. Doch nach einiger Zeit begann er sich nach Abwechslung zu sehnen, wurden ihm die eintönigen Dienstpflichten zu einer Last. Im September 1964 kam seine Einheit zur Gefechtsausbildung auf den Truppenübungsplatz Todendorf in Schleswig-Holstein. Am 20. September begab sich Reuter von dort aus ins zehn Kilometer entfernte Lütjenburg. Abends um 23.30 Uhr wurde er in einer Gaststätte in Begleitung einer Frau gesehen. Seitdem fehlte von dem 18-Jährigen jede Spur.
Die Militärpolizei schrieb Rudolf Reuter zur Fahndung aus. Seine Eltern glaubten, dass er auf einem Schiff angeheuert hätte, „um seinen Wandertrieb zu befriedigen“. Vielleicht aber gaben fünf Mark den Ausschlag für das plötzliche Verschwinden Reuters. Er habe den Spind eines Kameraden eingedrückt und das Geld entwendet, lautete die Anklage, die am 20. Oktober 1964 vor dem Amtsgericht Regensburg als „schwerer Diebstahl“ verhandelt werden sollte.
Am späten Nachmittag des 7. April 1965 entdeckten Angehörige des 6. DDR-Grenzregimentes die Leiche eines Mannes in einem verminten Grenzabschnitt bei Palingen. Sie war mit bloßen Augen kaum zu sehen, da sie 80 Meter vom Kolonnenweg entfernt in einer Mulde lag und von Gebüsch verdeckt war. Um den Bergungstrupp in der hereinbrechenden Dämmerung nicht zu gefährden, kam es erst am nächsten Morgen zur Bergung der Leiche aus dem Minenfeld. Als um 8.25 Uhr Offiziere der Staatssicherheit und der Kreisstaatsanwalt von Grevesmühlen den Toten in Augenschein nahmen, bot sich ihnen ein schauderhafter Anblick. Die Leiche hatte bereits seit längerer Zeit im Freien gelegen und war Wettereinwirkungen und Tierfraß ausgesetzt. Die von Splittern zerrissenen Dokumente aus der Gesäßtasche seiner Hose konnten kaum noch entziffert werden. Man meinte, der Name könne „Rudolf Kreuter“ lauten und das Geburtsdatum der 17. Februar 1941 sein. Laut eines medizinischen Gutachtens verursachten vermutlich Splitter, die in den Rücken des Opfers eingedrungen waren und innere Organe verletzten, nach kurzer Zeit seinen Tod.
Eine von der 3. Grenzkompanie gemeldete Minendetonation ließ den Schluss zu, dass es am 5. Oktober 1964 gegen 1.40 Uhr zu dem Zwischenfall gekommen sein müsse. Der Kompaniechef nahm damals an, dass Wild die Mine ausgelöst hatte. Da von der DDR-Seite her die Sicht auf das Gelände nur eingeschränkt möglich war und man keine Spuren eines etwaigen Flüchtlings auf dem Sechs-Meter-Kontrollstreifen fand, ließ man es bei dieser Erklärung bewenden. Unbedacht blieb, ob jemand des Nachts von der Bundesrepublik aus den Grenzzaun überstiegen haben und in dem von Gestrüpp überwachsenen Minenfeld zu Schaden gekommen sein könnte. Die sterblichen Überreste Rudolf Reuters wurden nach Grevesmühlen überführt und als „unbekannter Toter“ auf dem evangelischen Friedhof bestattet.
Erst die Entdeckung des in DDR-Überlieferungen als „Kreuter“ registrierten Leichenfundes ermöglichte es der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität im Jahr 1994, 30 Jahre nach Reuters Tod, die ungelöste Vermisstensache aus dem Jahr 1964 aufzuklären. Als Verantwortliche für die Anlage und den Betrieb des östlich von Lübeck angelegten Minenfeldes im Zeitraum von 1963 bis 1969 klagte die Staatsanwaltschaft Schwerin 1998 den Kommandeur des 6. Grenzregimentes Willi A. und die Stabschefs Hans O. und Heinz H. wegen Beihilfe zum Totschlag und schwerer Körperverletzung an. Neben Rudolf Reuter starb in diesem Grenzgebiet 1969 auch der Lübecker Arbeiter Wilhelm Dröger an einer Minenverletzung. Dem DDR-Flüchtling Rainer K. wurde 1964 ein Fuß abgerissen, er konnte jedoch gerettet werden. Nachdem Hans O. als verhandlungsunfähig ausgeschieden war, verurteilte das Landgericht Schwerin im Jahr 2000 Willi A. und Heinz H. zu zweijährigen Bewährungsstrafen.