Als Lieselotte Rast am 30. April 1964 von der Arbeit in ihre Wohnung zurückkehrte, fand sie dort einen Zettel ihres Sohnes aus erster Ehe. Auf diesem teilte der 22-Jährige mit, dass er mit zwei Freunden in den Westen flüchten wolle. Nach seiner Ankunft würde er sich sofort melden – andernfalls 18 Monate später, hatte er sarkastisch hinzugefügt. Seit dem 30. April 1964 fehlt von Ulrich Rast jede Spur.
Ulrich Rast kam 1941 im mecklenburgischen Pokrent zur Welt. Er besuchte die Oberschule in Gadebusch und wohnte dort in einem der Schule angeschlossenen Internat. Sein Lieblingsfach im Schulunterricht war Geschichte. Rasts Mutter arbeitete als Zugschaffnerin. Mit seinem Vater, der seit der Scheidung der Eltern mit Rasts Bruder in Westdeutschland lebte, konnte er seit dem Mauerbau nur Briefe wechseln. Als er ihn das letzte Mal im Westen besuchte, sagte er ihm, er wolle nach dem Abitur ebenfalls in die Bundesrepublik kommen.
Bereits als 16-jähriger Oberschüler musste Ulrich Rast die unangenehme Erfahrung eines Gefängnisaufenthaltes machen. Die Polizei nahm ihn und drei seiner Freunde wegen unerlaubten Munitionsbesitzes fest und nahm bei seiner Mutter in Pokrent eine Hausdurchsuchung vor. Die vier Jugendlichen hatten in der Nähe des Theodor-Körner-Denkmals bei Lützow Karabinermunition aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden und sich dafür selbst eine Abschussvorrichtung gebastelt. Die vier Freunde saßen 23 Tage in Untersuchungshaft, dann stellte das Jugendgericht das Strafverfahren mit der Begründung ein, die U-Haft sei eine ausreichende Erziehungsmaßnahme gewesen.
Ein Freund Ulrich Rasts, der von dem Fluchtvorhaben wusste, informierte Frau Rast eine Woche nach dem Verschwinden ihres Sohnes über dessen Plan, gemeinsam mit Armin Bogun und Georg Zerna durch den Schaalsee in den Westen zu flüchten. Der Kontakt zu Frau Zerna, die ebenfalls ihren Sohn vermisste, war schnell hergestellt. Als die Frauen zusammen die Schweriner Volkspolizei aufsuchten, wusste man dort nichts über den Verbleib ihrer Söhne. Die Polizisten weigerten sich, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Selbst der Gang zur Bezirksverwaltung der Staatssicherheit blieb erfolglos. Da auch spätere Behördennachfragen keinen Hinweis auf den Verbleib von Ulrich Rast ergaben, musste Lieselotte Rast davon ausgehen, dass ihr Sohn ertrunken war. Sie ließ ihn 1984 für tot erklären.
Im Juli 1964 begann die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter die vermutlich gescheiterte Flucht zu untersuchen. Ulrich Rasts älterer Bruder, der in Nordrhein-Westfalen lebte, meldete der Kriminalpolizei das Verschwinden seines Bruders, nachdem er durch einen Brief seiner Mutter davon erfahren hatte. Nachfragen ergaben, dass weder bei den Polizeirevieren in Lübeck und Ratzeburg noch beim örtlichen Grenzzollkommissariat Informationen über Rast und seine Mitflüchtlinge vorlagen. Lediglich der Bundesgrenzschutz in Ratzeburg berichtete über einen Hinweis, der auf einen verhinderten Durchbruchsversuch hindeuten könnte. Eine Streife des Bundesgrenzschutzes vernahm nämlich in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1964 im Grenzgebiet 20 Kilometer südlich des Schaalsees Schüsse und sah auf der Ostseite Leuchtkugeln aufsteigen. Anschließend leuchteten DDR-Grenzer mit einem Handscheinwerfer das Gelände ab.
Die Ratzeburger Polizei erhielt auch in der folgenden Zeit keine Hinweise auf Leichenfunde im Schaalsee. Doch teilte sie einschränkend mit, das besage „an sich nichts, denn der See ist mit einem dichten Schilfgürtel versehen, der das Auffinden oder Bemerken“ von angelandeten Wasserleichen fast unmöglich mache. Im November 1968 vermerkte der Leiter der Erfassungsstelle in Salzgitter, Staatsanwalt Retemeyer, eine weitere Aufklärung des Sachverhalts sei nicht mehr zu erwarten und stellte die Ermittlungen vorläufig ein. Auch ihre Wiederaufnahme in den 1990er Jahren erbrachte nach Durchsicht der einschlägigen Überlieferungen des Staatssicherheitsdienstes und der Grenztruppen keine Aufklärung des Falls.
Vergleiche die Biografien von Armin Bogun und Georg Zerna.