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Biografisches Handbuch

Rüdiger Neger

geboren am 4. April 1950 in Tripkau bei Wehningen | bei Fluchtversuch ertrunken am 1. Oktober 1973 | Ort des Vorfalls: Elbe bei Dömitz (Mecklenburg-Vorpommern)
BildunterschriftRüdiger Neger
BildquellePrivat, Heike Braun
Quelle: Privat, Heike Braun
Seine Eltern sahen Rüdiger Neger am 1. Oktober 1973 zum letzten Mal, als er das Haus verließ. Am 29 April 1974 bargen Grenzsoldaten seine Leiche aus der Elbe.

Rüdiger Neger lebt in den oft sehr widersprüchlichen Erinnerungen seiner einstigen Klassenkameraden fort als einer, der „eines Tages irgendwie weg war, und plötzlich sprach auch keiner mehr über ihn.“ Das letzte Lebenszeichen des 23-Jährigen haben wohl die Eltern wahrgenommen, als er am 1. Oktober 1973 das Haus verließ. Um den Tod, oder genauer gesagt, das plötzliche Ableben des jungen Mannes, ranken sich mehrere Versionen. Er sei wohl ein „Abenteurer“ gewesen, der sein Land mit der Flucht verraten habe, schimpft ein Mitschüler von einst, der sich jede weitere Nachfrage verbittet, „weil ich mir meinen Staat nicht kaputtmachen lassen will”. Negers Nichte Heike meint zu wissen, dass ihr Onkel Rüdiger in Dömitz in der dortigen Hafeneinfahrt, wo die Schnellboote der Wasserschutzpolizei lagen, in die Elbe ging.

„Da ging es eigentlich nur mit einem Helfer, weil ja ein Riesentor und Stacheldrahtverhaue den Zugang zum Fluss versperrten“, sagt ihr Bruder Roy. Irgend etwas ist dann jedenfalls schiefgegangen, denn sieben Monate später fand eine Uferkontrollstreife der Grenztruppen mehrere Kilometer elbabwärts bei Wilkenstorf (Amt Neuhaus), eine Wasserleiche. Am 29. April 1974 meldet die Grenzkompanie Tripkau den Fund am Elbkilometer 517. Ein bei dem Toten aufgefundener Folienbeutel enthielt die Papiere des gelernten Industriemechanikers Rüdiger Neger. Die Volkspolizei sah in der wasserdichten Verpackung den Beleg dafür, „daß sich Neger auf einen Grenzdurchbruch vorbereitet hatte“.

Rüdiger Neger war 23 Jahre alt, als er sein Leben verlor. Er lebte zuvor mit seinen Eltern Otto und Katharina Neger in Wehningen im damaligen Kreis Hagenow an der Elbe. Die Eltern kamen nach Kriegsende als Flüchtlinge mit ihrer 1932 geborenen ältesten Tochter Anneliese aus dem böhmischen Reichenberg (heute Liberec) im Riesengebirge dorthin. Wobei Flüchtlinge im offiziellen Sprachgebrauch DDR nicht existierten – sie galten als Umsiedler und Übersiedler. Die Mehrzahl der Männer, Frauen und Kinder, die damals im ehemaligen Gutsarbeiterdorf Wehningen ankamen, wohnte zunächst auf engstem Raum in einem alten Fachwerkschloß. Mit ihrer anderen, wenn auch deutschen Mundart, mit ihrem katholischen Glauben, mit all den Schmerzen der Entwurzelung waren sie für viele Ortsansässige unwillkommene „Fremde“.

Otto und Katharina Neger fanden dann in einem einfachen roten Backsteinhäuschen direkt am Elbdeich ihr erstes Zuhause – Einheimische sprechen heute noch von der „Negerhütte“. Die DDR-Grenztruppen machten das Haus im Sperrgebiet später dem Erdboden gleich. Otto Neger, der sich als Arbeiter in der nahen Ziegelei verdingte, hielt sich Hühner und Ziegen, seine Frau bebaute ein kleines Gemüsefeld. Bald nachdem Rüdiger Neger am 4. April 1950 zur Welt kam, verließ seine ältere Schwester Anneliese das Elternhaus, um das Lehrerseminar zu besuchen und eine eigene Familie im nahen Dömitz zu gründen. Heute leben in der Gegend noch ihre Tochter Heike und die Söhne Holger und Roy mit ihren Familien. Seine Schwester Anneliese, bei der Rüdiger als junger Mann viel Zeit verbrachte, starb 2001, seine Mutter 1979 und der Vater 1982.

Der Arzt, der am 29. April 1974 Rüdiger Negers Tod zu bescheinigen hatte, kann sich daran nicht mehr erinnern. Er sei im Fall Neger zu einer Obduktion nicht hinzugezogen worden. Die Militärstaatsanwaltschaft in Neustadt habe jeweils entschieden, „was mit einer Leiche geschah“. Dabei hätte man sich nicht in jedem Fall an das DDR-Gesetz gehalten, wonach jeder unnatürliche Tod gerichtsmedizinisch zu untersuchen war. Diese Erfahrung hatte der Arzt im Fall des 1966 erschossenen Alfred Lill gemacht, dessen Leiche nicht obduziert wurde. Unterlagen über eine ordnungsgemäße Obduktion von Rüdiger Neger sind jedenfalls nicht mehr aufzufinden. Bis heute halten sich in der Gegend Gerüchte und Spekulationen über eine möglicherweise gewaltsame Todesursache.

Die Bestattung Rüdiger Negers auf dem Friedhof in Dömitz erfolgte nach katholischem Ritus. Die Eltern ließen für ihren Sohn einen prachtvollen Grabstein in schwarzem Marmor fertigen, der allerdings wegen folgender Inschrift nicht lange stehen bleiben durfte:„Die Elbe war mein Sterbebett bei Nacht in tiefer Stille, Ich ging in eine bessere Welt. Es war ja wohl so Gottes Wille.“

Am 5. September 1974 suchten zwei Funktionäre der Abteilung Inneres und der Örtlichen Versorgungswirtschaft beim Rat des Kreises Ludwigslust Katharina und Otto Neger zu einer „vertraulichen Aussprache“ auf. Man teilte ihnen mit, „daß für den inzwischen abgeräumten Grabstein durch die Stein- und Bildhauerei Dömitz ein neuer Stein angefertigt werden soll“.

Heute ist das Grab längst aufgegeben und auch der zweite Stein verschwunden. Auf ihm stand: „Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, das man hat, muss scheiden.“


Biografie von Rüdiger Neger, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/197-ruediger-neger/, Letzter Zugriff: 23.11.2024