In einer eiskalten Novembernacht 1964 riskierten fünf Lehrlinge ihr Leben, um aus der DDR zu flüchten. Es handelte sich um die Zwillingsbrüder Gerhard und Joachim Schwencke aus Vellahn, Hans-Jürgen Schöber aus dem Elbdorf Neu Bleckede, Reinhard Bruhn aus Camin und Manfred Müller aus Kloddram. Alle fünf stammten aus Bauernfamilien im mecklenburgischen Kreis Hagenow. Sie gehörten zu den Nachkriegsjahrgängen 1947 und 1948 und wuchsen in Elternhäusern auf, die ihnen vieles ermöglichten. Alle fünf besuchten nach der Mittelschule im nahe gelegenen Brahlstorf die Maschinen- und Traktorenstation in Jessenitz bei Lübtheen, und gingen dort seit dem 1. September 1964 als Traktoren- und Landmaschinenschlosser in die Lehre. Sie lebten mit 100 anderen jungen Männern in dem der Traktorenstation angeschlossenen Internat, einem ehemaligen gutsherrlichen Schloss. An den Wochenenden kamen sie nach Hause in ihre Dörfer und konnten mit ihren Mopeds durch die Gegend streifen.
Alles hätte seinen „sozialistischen Gang“ gehen können, vor den jungen Männern lag ein überschaubares ländliches Leben als Handwerker im System der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Doch diese vorgegebene Lebensperspektive gefiel ihnen ebensowenig wie die autoritären Verhältnisse im Internat. Eine nach der Flucht der fünf Freunde von der Jugendhilfe im Rat des Kreises Hagenow angestellte Untersuchung kam zu dem Ergebnis: „Keiner der 5 Jugendlichen bezog eine klare Position zur nationalen Frage Deutschlands. Die Verhältnisse in Westdeutschland kannten sie von der blendenden Oberfläche her; die inneren Zusammenhänge sind ihnen nicht klargeworden.“ Sie hätten sich nicht in der FDJ engagiert und das Gemeinschaftsleben im Internat abgelehnt. Dort herrsche eine straffe Ordnung und es würden für Vergehen geringfügiger Art oft Strafen verhängt. „Die Methoden der Arbeit mit den Lehrlingen sind jedoch oft unpädagogisch und berücksichtigen nicht die Grundprinzipien des Jugendkommuniqués“ der SED, das unter der Losung, „der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ schenken eine Neuorientierung der Erziehungsarbeit vorsah. Bedenklich sei „vor allem, daß Arbeit als Strafe ausgesprochen wird“. Es gebe kaum offene Meinungsäußerungen der Lehrlinge. Sie wagten nicht, Kritik zu üben, „um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen“. Auch seien zwei der Fluchtbeteiligten mit der ihnen zugewiesenen Berufsperspektive nicht einverstanden gewesen. In einem Protokoll der Volkspolizei ist gar vom Widerwillen aller fünf Geflüchteten gegen die Berufsausbildung die Rede.
Die fünf Freunde teilten ihren Frust über maßlose Schikanen im Internat und fühlten sich drangsaliert. Reinhard Bruhn, der Sohn eines ehrenamtlichen Bürgermeisters, war nach der Erinnerung von Gerhard und Joachim Schwenke „irgendwie“ die treibende Kraft, als sich der Fluchtplan, durch die Elbe zu entkommen, zuspitzte. Es musste schnell gehen, denn der Winter stand vor der Tür. „Wenn, dann jetzt“, haben sich die fünf Freunde am Mittwoch, dem 18. November, gesagt. Manfred Müller traf sich an diesem Tag noch mit seiner Freundin Christa, die auch im Internat wohnte, und sagte ihr, er wolle sich verabschieden. Einem Freund gab er kurz danach noch einen Brief an das Mädchen.
Am Sonntag darauf, es war der 22. November, ging es nach dem Schweinebraten am Mittag los. Im Nieselregen bei 8 °C fuhren die Schwencke-Zwillinge mit Reinhard Bruhn und Manfred Müller auf ihren Mopeds eine Stunde durch Wälder und Felder parallel zur Fernstraße 5, immer weiter durchs Sperrgebiet, bis sie die Elbestadt Boizenburg erreichten. Hans-Jürgen Schöber, dessen Elternhaus nur wenige Kilometer entfernt in Neu Bleckede direkt am Deich stand, erwartete die Freunde schon am Hafen. Im Schutz der einbrechenden Dunkelheit fuhren sie auf dem Deich elbaufwärts, bis sie den Hof der Schöbers in Neu Bleckede erreichten. Mit einer Kombizange durchtrennten sie den Stacheldraht des Grenzzauns und liefen durch das mit Gras bewachsene Vorland des Flusses zur Elbe. „Wir waren schwer erschüttert über das viele Wasser, denn außer Hans-Jürgen hatte ja noch niemand die Elbe zuvor gesehen, war ja alles Sperrgebiet“, erinnert sich Gerhard Schwenke.
Reinhard Bruhn hatte Tage zuvor unter einem kalten Wasserhahn getestet, wie lange man es ungefähr in einem Fluss bei 8 °C Lufttemperatur aushalten würde – zwanzig Minuten als „das Äußerste“ kamen dabei heraus. Hans-Jürgen Schöber zog seine lange Unterhose aus, die anderen ihre Lederjacken an. Manfred Müller trug die Kombizange zur Erinnerung an die Flucht am Körper, auch Papiere und seine Uhr in einer Plastiktüte. Der Deichfuß lag ebenso trocken wie die Wiesen, aber die geschotterten Buhnen, die in regelmäßigen Abständen in die Strommitte ragen und ein wenig Orientierung hätten bieten können, waren überschwemmt. Gemeinsam begannen die fünf Freunde im kalten Wasser Richtung Westen zu schwimmen. „Wir müssen gegen die Strömung anschwimmen“, hab‘ ich noch gesagt“, erinnert sich Hans-Jürgen Schöber an diesen Augenblick. Reinhard Bruhn und Manfred Müller schwammen auf Rufweite beieinander. Alle kämpften mit den vollgesogenen Lederjacken, von denen sie sich Schutz vor Auskühlung versprochen hatten. Als nach einer halben Stunde immer noch kein Land in Sicht war, begannen sie, aus Leibeskräften um Hilfe zu rufen. Doch der Fluss trieb sie noch lange Zeit vor sich her. Dann hörten sie aus der Dunkelheit verzweifelte Schreie von Manfred Müller. Ausgerechnet ihn, den sie „Sportskanone“ nannten, weil er ein guter Leichtathlet war und sogar eine Ausbildung als Rettungsschwimmer hatte, verliessen die Kräfte. „Ihr kommt rüber, und ich muss hier versaufen!“ Auch nach einem halben Jahrhundert haften in den Erinnerungen der Freunde die Hilferufe. Manfred Müller überlebte die waghalsige Flucht durch die Elbe nicht.
Der Vater von Hans-Jürgen Schöber, Parteisekretär der LPG Typ I „Besseres Leben“ in Neu Bleckede, bemerkte in den Abendstunden, dass sein Sohn sich nicht mehr im Haus befand, und entdeckte dann das offene Fenster in seinem Zimmer. Er suchte nach ihm, lief in Richtung Elbe und fand gegen 22 Uhr unweit des Hofs am Deich Kleidungstücke. Auf der westlichen Seite der Elbe sah er zwei Fahrzeuge, die die Elbe ableuchteten und hörte Rufe: „Wo bist Du?“
Ihren Sohn konnte die inzwischen über 90-jährige Elisabeth Müller bis heute nicht beerdigen. Die Elbe hat seinen Leichnam nicht wieder freigegeben. Elisabeth Müller akzeptierte erst 1965 den Tod ihres Sohnes. Sie trug ein Jahr lang schwarz. Jahre später ließ sie auf dem Grab ihres Mannes auf dem Vellahner Friedhof einen schwarzpolierten Gedenkstein zur Erinnerung an ihren Sohn Manfred aufstellen.
Das Referat für Jugendhilfe erwirkte von Bruhns‘ und Schöbers‘ Eltern Ermächtigungen, die Rückführungen einzuleiten. Der Vater der Schwencke-Zwillinge verweigerte die Unterschrift, da ihm nicht zugesichert worden war, dass seine Söhne straffrei bleiben und eine Lehrstelle erhalten würden. Hans-Jürgen Schöber kehrte nach einem halben Jahr in die DDR zurück. Die Elektrikerlehre in Stuttgart verlief nicht nach seinen Vorstellungen, da er den Eindruck hatte, sein Lehrmeister würde ihn als billige Arbeitskraft ausnutzen. Er durfte jedoch nicht wieder in sein Elternhaus zurück, sondern bekam nach Monaten im Aufnahmelager Pritzier in Wittenburg eine Arbeit als landwirtschaftlicher Gehilfe zugewiesen. Später arbeitete er als Busfahrer. Nach dem Ende der DDR fuhr er mit Lastwagen im Fernverkehr durch ganz Europa. Reinhard Bruhn erfüllte sich seinen Lebenstraum und fuhr als Binnenschiffer auf Rhein und Donau. Er starb mit 57 Jahren in Duisburg an einem Herzinfarkt. Gerhard und Joachim Schwencke arbeiteten bis zur Rente als Automechaniker in der Nordheide und fanden dort auch ihr privates Glück.