Hans-Werner Piorek wurde am 4. August 1929 in Dresden geboren. Seit seinem 14. Lebensjahr verbrachte er seine Jugend und die ersten Erwachsenenjahre in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen. Seine Eltern hatten sich voneinander getrennt. Während der Vater in Dresden lebte, war seine Mutter nach Hamburg übergesiedelt. 1962 gelang es ihr, den Sohn nachziehen zu lassen und ihm eine Arbeit bei der Bundesbahn zu besorgen.
Am Donnerstag, dem 5. Dezember 1963, versuchte Hans-Werner Piorek abends über den Grenzübergang Lübeck-Schlutup zurück in die DDR zu gelangen, doch die Einreise wurde ihm verwehrt. Man schob den jungen Mann zwei Stunden später wieder nach Lübeck ab. Eine winterlich kalte Nacht mit vereinzelten Niederschlägen folgte. Die Polizei griff den vermeintlichen Stadtstreicher auf. Es war noch dunkel, als Zollbeamte ihn am nächsten Morgen am ehemaligen Grenzübergang Eichholz-Herrnburg bemerkten. Sie übergaben ihn der Lübecker Polizei, die ihn nochmals überprüfte. Kurz nach 7 Uhr erschien er wieder in Eichholz. Diesmal hatte er eine Bescheinigung dabei, dass nichts gegen ihn vorlag. Von seinem Vorhaben, hier und jetzt die Grenze zu überschreiten, ließ er sich trotz Warnungen nicht abbringen.
Angehörige der Grenztruppen der DDR bemerkten Hans-Werner Piorek spätestens, als die westdeutschen Zollbeamten Leuchtkugeln abschossen, um auf den jungen Mann aufmerksam zu machen. Man brachte ihn vom Grenzzaun zu einem DDR-Beobachtungsturm, wo kurz darauf eine sogenannte Alarmgruppe eintraf. Für die Männer der Alarmgruppe schien es naheliegend, dass Piorek ein vom Zoll geschickter Provokateur war, auch wenn dieser beteuerte „kein Spion und kein Verbrecher“ zu sein. Weshalb aber würde sonst jemand im Morgengrauen illegal in die DDR eindringen wollen? Sie durchsuchten ihn, brüllten, er solle die Hände hochnehmen. Er hatte mit einer solchen Reaktion nicht gerechnet; erschrocken begann er zu laufen, vielleicht wollte er wieder zurück, vielleicht einfach nur weg, zu lange schon dauerte seine Odyssee an der Grenze, um einen klaren Gedanken fassen oder stehenbleiben zu können, als die Warnschüsse krachten. Der Schütze, ein damals 19-jähriger Grenzsoldat, von Beruf Melker, erklärte 1997 vor dem Landgericht Schwerin, „reflexartig“ gehandelt zu haben, als er dann aus seiner Kalaschnikow zwei gezielte Feuerstöße abgab, die den Flüchtenden in Hals und Rücken tödlich trafen. Es war Totschlag, befand das Gericht und verurteilte Heinz B. nach Jugendstrafrecht zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe.
Das Leben von Hans-Werner Piorek wäre unauffällig geblieben, wäre er nicht in einen Konflikt mit den Grenzorganen geraten. Die Aufmerksamkeit, die der 34-Jährige nach seinem Tod erhielt, bewegte sich innerhalb der Logik des Grenzregimes, die bestimmte, welche Handlungsweisen und Motive damals als plausibel galten. Auf der einen Seite die Ächtung Pioreks als Provokateur, der nach Kontakt mit dem BGS die Grenze zur DDR überschritten habe und sich anschließend der Festnahme entziehen wollte (ADN: „Provokation an der Staatsgrenze“. In: Berliner Zeitung, 7.12.1963); auf der anderen Seite die Klage über den ermordeten angeblichen Familienvater, der vorgehabt hätte, Frau und Kind in Mecklenburg zu besuchen („Neuer Vopo-Mord an der Zonengrenze“. In: Der Abend [Lübeck], 7.12.1963). Beide Versionen offenbaren das Unverständnis gegenüber dem unvermittelten Willen von Hans-Werner Piorek, einen seit elf Jahren geschlossenen Grenzübergang bei Lübeck zu überschreiten, um zurück in seine Heimat zu gelangen.
M.B. erinnert sich an das damalige Geschehen in der Grenzkompanie Herrnburg folgendermaßen: „Am 6.12.63 hatte ich zufällig Dienst auf der Wachstube. Den Verlauf des bedauerlichen Vorfalls habe ich also nur durch interne Erzählungen der beiden Grenzposten sowie aus nachfolgenden Auswertungen von Offizieren vom Grenzstab in Perleberg sowie der Berliner Dienststellen erfahren. Für das Postenpaar vor Ort war dieser Todesfall völlig unnötig, unter der Hand sprachen wir in der Mannschaft sogar von Mord. Der diensthabende Postenführer berichtete, dass er nach Festnahme des Grenzverletzers und der Meldung an die Kompanie, 10 Minuten benötigte, um den total aufgeregten und zitternden Mann zu beruhigen und ihm versicherte, dass ihm hier nichts weiter geschehen wird. Dann kam der Alarmwagen mit dem UvD (Unteroffizier vom Dienst). Der Postenführer machte Meldung und berichtete, dass er den Gefangenen nach Waffen untersucht und keine gefunden hatte. Trotzdem wollte sich der UvD nochmals überzeugen, und dies geschah dann brutal.
In dieser Situation drehte der Festgenommene durch und lief dummerweise in Richtung einer Ruine los (in den Akten weißes Haus genannt). Dann erfolgten die tödlichen Schüsse, übrigens ohne vorherigen Anruf oder Warnschuss. Der diensthabende Postenführer war der Meinung, man hätte den Flüchtenden durchaus durch Verfolgung noch erreichen können und damit die Tötung vermieden. Eine Woche nach dem Geschehen erfolgt durch hochrangige Offiziere eine taktische Auswertung vor den Mannschaften der Kompanie. Hier wurde dann an einer Tafelskizze versucht zu belegen, dass der UvD völlig richtig gehandelt hätte, er wurde belobigt. Kritische Fragen aus der Mannschaft wurden im Befehlston niedergemacht.”