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Biografisches Handbuch

Helmut Schwab

geboren am 25. Mai 1935 in Bobenneukirchen | erschossen am 1. August 1958 | Ort des Vorfalls: Bobenneukirchen (Sachsen)
In den Abendstunden des 1. August 1958 geriet der unter Alkoholeinfluss stehende Helmut Schwab innerhalb der 5-Kilometer-Sperrzone in eine Personenkontrolle der Deutschen Grenzpolizei. Obgleich er als Anwohner durchaus zum Aufenthalt im Grenzgebiet berechtigt war, versuchte er, sich der Überprüfung seiner Personalien zu entziehen. Vermutlich, weil er seine Ausweispapiere nicht dabei hatte. Wenige Minuten später war Schwab tot, nachdem ihm eine Kugel, aus kurzer Distanz abgefeuert, die Halsschlagader zerfetzt hatte. Ob Schwab die Grenzpolizisten tätlich angriff oder ob es sich hierbei um eine spätere Schutzbehauptung des Schützen selbst gehandelt hat, ist unklar.

Schon den ganzen Tag über hatte eine brütende Hitze über Bobenneukirchen gelegen, und auch jetzt noch, in den frühen Abendstunden des 1. August 1958, war es nicht merklich abgekühlt. In dem Ort unweit der Demarkationslinie und innerhalb der FünfKilometer-Sperrzone war Helmut Schwab aufgewachsen und war als Anwohner zum Aufenthalt im Grenzgebiet berechtigt. Hier hatte er auch eine Anstellung als Oberbuchhalter bei der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft gefunden. Der 23-Jährige war ledig, kinderlos und wohnte noch bei seinen Eltern. Das war wegen des damaligen Wohnraummangels in der DDR nichts Ungewöhnliches.

Der 1. August 1958 war ein Freitag und freitagabends bot der lokale Gasthof „Zum Goldenen Löwen“ immer Filmvorführungen an. Das war ein beliebter Treffpunkt für die Dorfgemeinschaft, vor allem für die Jüngeren und auch Schwab hatte sich gegen 19.45 Uhr von seinem Elternhaus aus auf den Weg zum Filmabend im „Goldenen Löwen“ gemacht. Es sollte das letzte Mal sein, dass ihn seine Angehörigen lebend zu Gesicht bekamen. Denn was weder Schwab noch die übrigen Dorfbewohner wussten: Am gleichen Abend war die Deutsche Grenzpolizei wegen eines vermuteten Grenzdurchbruchs zweier entflohener Häftlinge in Alarmbereitschaft versetzt worden. Die daraufhin eingeleiteten verschärften Sicherungsmaßnahmen betrafen auch Bobenneukirchen und Umgebung. Seit 19 Uhr kamen hier die beiden Grenzpolizisten Lothar W. und Lothar S. als zusätzliche Hinterlandsicherungsposten zum Einsatz.

Gegen 20.30 Uhr brach ein schweres Sommergewitter über Bobenneukirchen herein. Noch während die beiden Polizisten Schutz unter dem Vordach eines ortsansässigen Friseursalons suchten, brach durch das Unwetter die Stromversorgung zusammen. Im „Goldenen Löwen“ wurde die Filmvorführung deshalb vorzeitig abgebrochen; die meisten Besucher arrangierten sich rasch mit der neuen Situation. Bei Kerzenschein und alkoholischen Getränken vertrieb man sich die Wartezeit bis der Regen etwas nachließ. So auch Schwab, in dessen Sektionsbericht später eine Blutalkoholkonzentration von 1,86 Promille vermerkt wurde. Zudem nutzte er die Gelegenheit, die ebenfalls anwesende Annelies G. anzusprechen. Beide waren flüchtig miteinander bekannt, und zumindest Schwab war jetzt bestrebt, den Kontakt zu der 18-Jährigen zu vertiefen. Sie zeigte aber Schwabs Avancen gegenüber keinerlei Interesse. Jedoch mochte sie auch dessen Angebot, sie in Anbetracht des Unwetters nach Hause zu begleiten, nicht gänzlich abweisen. In dieser Situation kam ihr die 15 Jahre ältere Anni H. als Anstandsperson gerade recht. Kurz nach 21 Uhr, das Gewitter war inzwischen schwächer geworden, verließen die drei zusammen die Gaststätte. Einen Teil des Heimwegs legte man gemeinsam zurück; an einer Straßenkreuzung trennte sich die Gruppe. Während Annelies G. schnellen Schrittes nach Hause eilte, lief ihr Schwab noch ein kurzes Stück hinterher, erkannte aber wohl bald die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen. Mutmaßlich frustriert von der Zurückweisung und nachweislich unter Alkoholeinfluss stehend, machte Schwab nun keinerlei Anstalten, den Heimweg anzutreten. Statt nach Hause zu gehen, wandte er sich in südliche Richtung zum Ortsausgang nach Burkhardtsgrün. Es war mittlerweile 21.15 Uhr, als die beiden Grenzpolizisten Lothar W. und Lothar S. auf ihn aufmerksam wurden. Von ihrem Unterstand aus riefen sie Schwab an, sich auszuweisen.

Was anschließend passierte, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Die erhalten gebliebenen Unterlagen der Deutschen Grenzpolizei liefern keine Einzelheiten zum Tathergang, zugleich machte der mutmaßliche Todesschütze Lothar S. bei seiner Befragung durch die Ermittler in den 1990er Jahren falsche Angaben zum Ablauf des Geschehens. Augenzeugen ließen sich nicht mehr ausfindig machen und der von Lothar S. als Todesschütze beschuldigte Postenführer W. war schon 1981 verstorben. Aus Unterlagen der DDR-Militärstaatsanwaltschaft geht folgender Ablauf des Geschehens hervor: Gegen 22.15 Uhr befand sich das Postenpaar am Ortsausgang in Bobenneukirchen vor einem Friseurladen. Die Posten erhielten beim Ausrücken den Hinweis, ein entflohener Häftling könne versuchen, in ihrem Postenbereich über die Grenze zu gelangen. Als Helmut Schwab die Straße entlang lief, rief ihn einer der Posten an: „Halt! Stehenbleiben, Ausweiskontrolle!“ Schwab reagierte nicht und setzte seinen Weg in Richtung Ortsausgang fort. Auch nach einem zweiten Haltruf blieb er nicht stehen, sondern lief noch schneller weiter. Daraufhin gaben die Grenzpolizisten drei Warnschüsse ab, woraufhin Schwab stehenblieb und nach zweimaliger Aufforderung die Hände hob. Als Lothar W. begann, den Festgenommenen zu durchsuchen, drehte sich dieser um und stieß dem Soldaten plötzlich mit dem rechten Knie in den Unterleib. Dann rannte er davon. Postenführer W. nahm seinen Karabiner in Hüftanschlag und schoss aus etwa vier Metern Entfernung auf den Flüchtenden. Helmut Schwab ging von einem Schuss getroffen in die Knie, neigte seinen Kopf vorn über und fasste sich mit beiden Händen an den Hals. Der Postenführer lief zu dem Verletzten und zog ihn zur rechten Straßenseite auf die ansteigende Böschung. Unterdessen eilte Grenzpolizist S. zum örtlichen Abschnittsbevollmächtigten, der fernmündlich das Kommando benachrichtigte. Postenführer W. versuchte vergebens, die Halsschlagader des Verletzten abzudrücken. Helmut Schwab stöhnte, W. gab ihm aus seiner Feldflasche zu trinken. Dann registrierte W., dass Helmut Schwab sich langsam streckte und verstarb. Zwischenzeitlich versammelten sich einige Bürger. Einer von ihnen beschimpfte den Postenführer und versetzte ihm einen Schlag vor die Brust, sodass er in den Graben fiel.

Der damals in die Ermittlungen einbezogene Kriminalpolizist aus Oelsnitz konnte sich in den 1990er Jahren an Aussagen über eine körperliche Attacke Schwabs gegen einen Grenzpolizisten nicht mehr erinnern. Bei der Rekonstruktion des Tathergangs sei lediglich davon die Rede gewesen, Schwab habe einen „Haken geschlagen“. Wie auch immer sich der 23-Jährige in jener Situation konkret verhielt, es wurde ihm zum Verhängnis. Der Sektionsbericht nennt als Todesursache: „Verblutung nach Durchschuss der vorderen Halsweichteile in Höhe des Zungenbeines und Zerreißung der großen Halsgefäße“. Vertuschen ließ sich der Vorfall nicht, hatte sich das Ganze doch auf offener Straße inmitten Bobenneukirchens zugetragen; entsprechend rasch war eine größere Menschenmenge am Tatort zusammengekommen, darunter auch Familienangehörige Schwabs. Die amtlichen Stellen bemühten sich in der Folgezeit, an der alleinigen Schuld des Toten keinerlei Zweifel aufkommen zulassen. Seinem Vater gegenüber erklärte man zunächst, Schwab hätte einem der beiden Posten in den Bauch getreten – der Fußabdruck hätte sich auch im Nachhinein noch deutlich abgezeichnet. Der angegriffene Polizist habe also in Notwehr geschossen. Gegenüber der Familie wurde diese Darstellung später zumindest dahingehend revidiert, dass nicht länger von einem tätlichen Angriff Schwabs die Rede war, wohl aber von verdächtigen Bewegungen, welche er ständig gemacht haben soll.

Nicht nur gegenüber der Familie, auch in der Öffentlichkeit wurde Schwabs Schuld an dem Zwischenfall betont. Wohl zur Beruhigung der Dorfbewohner, von denen nicht wenige den Leichnam Schwabs an jenem Abend gesehen hatten, berief die SED-Kreisleitung tags darauf, am 2. August 1958, eine Einwohnerversammlung in Bobenneukirchen ein, um der örtlichen Bevölkerung „die schlechte Handlungsweise des Schwabs“ zu erläutern. Seine Beisetzung fand drei Tage später statt.

Strafrechtliche Konsequenzen hatte der Vorfall für das involvierte Postenpaar zu DDR-Zeiten nicht. Schon 24 Stunden nach der Tat bestätigten die Militärstaatsanwaltschaft und die Mordkommission „die Richtigkeit der Handlungsweise des Postenpaares“. Nach einem kurzen Urlaub wurden die beiden Grenzpolizisten in eine andere Grenzkompanie versetzt. Ende der 1990er Jahre verzichtete die Berliner Staatsanwaltschaft auf eine Anklageerhebung gegen den mutmaßlichen Todesschützen Lothar S., da ihr eine genaue Rekonstruktion des Tathergangs nicht mehr möglich schien.


Biografie von Helmut Schwab, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/88-helmut-schwab/, Letzter Zugriff: 29.03.2024