Hans-Jürgen Röddiger wurde in der Hansestadt Stralsund geboren, erlernte den Beruf des Elektrikers und lebte dort bis zu seinem Verschwinden. Während sein Freund Harald am 16. September 1964 nicht zu seinem Musterungstermin erschienen war, blieb Röddiger an dem Tag seiner Arbeit fern und es konnte trotz der Nachforschungen seines Meisters nichts zu seinem Verbleib in Erfahrung gebracht werden.
Im Nachhinein konnten die Ermittlungsbehörden der DDR rekonstruieren, dass Röddiger an diesem Tag, statt zu seiner Arbeit zu gehen, mit seinem Motorrad seinen Freund Harald Zech in dessen Wohnung in Bresewitz besuchte. Sein Motorrad war es auch, welches später zwischen Zingst und Prerow festgestellt wurde. Seine Lederjacke und die seines Freundes sowie die Fahrerlaubnisscheine für die Motorräder wurden später in Bresewitz in der Wohnung von Harald Zech gefunden. Wochentags lebte auch Zech in Stralsund in einem Zimmer, dass er sich mit seinem Vater teilte. Diese Wohnung lag wie Röddigers Ausbildungsbetrieb in der Bahnhofstraße.
Es lässt sich aus dem vorliegenden Material nicht ableiten, wie zufrieden Röddiger mit den Verhältnissen in der DDR gewesen ist. Allerdings ist gegen ihn eine Verurteilung wegen Beihilfe zur Verletzung des Passgesetzes zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung belegt. Zu wessen Gunsten er diese Beihilfe geleistet hatte, lässt sich heute leider nicht mehr rekonstruieren. Weiterhin verzeichnet die Stralsunder Abgangsmeldung auch Gerüchte, nach denen eine Kellnerin von ihm schwanger gewesen sei und er sich womöglich durch eine Flucht dieser Verantwortung habe entziehen wollen.
Am 23. September wurde die Mutter von Hans-Jürgen Röddiger befragt und gab an, noch keine Nachricht von ihrem Sohn erhalten zu haben. Sie berichtete, zwischen Hans-Jürgen und seinen Eltern habe ein gutes Verhältnis geherrscht und ihr Sohn habe es nicht nötig gehabt, die DDR zu verlassen. Auch hätten keine familiären Verpflichtungen bestanden, was angesichts des Stadtgesprächs über ihn und die Kellnerin wohl nur für die Kernfamilie Röddiger galt. Die Mutter gab auch an, dass Röddiger sein Faltboot mitgenommen hatte.
Bis heute gibt es keine Hinweise zum Verbleib von Hans-Jürgen Röddiger. Die einzigen belastbaren Fakten sind, dass er sich gemeinsam mit seinem Freund Harald Zech an die Ostsee zwischen Prerow und Zingst begeben hat und beide ein Boot dabeigehabt haben. Es wurde kein Ablandeort mit eventuellen Schleifspuren der Boote entdeckt und auch keine zurückgelassenen Kleider oder Papiere aufgefunden. Weder von Zech noch von Röddiger gab es einen Leichenfund und auch ihre Boote wurden nicht geborgen.
Dennoch ist es plausibel, die beiden als Fluchtopfer einzuschätzen. Ihr schneller und relativ spontan erscheinender Entschluss deutet darauf hin, dass die beiden ihre Absicht geheim gehalten und eventuelle Pläne niemandem mitgeteilt haben. Dass sie im Kontext ihres Lebens in der DDR wichtige Gegenstände wie ihre Lederjacken und Motorräder einfach zurückgelassen haben, spricht ebenfalls dafür, dass sie vorhatten, ihr Leben in der DDR hinter sich zu lassen. Alle Indizien der beiden, die noch gefunden werden konnten, führten zum Ostseestrand zwischen Prerow und Zingst, danach wurde nie wieder eine Spur der beiden gefunden. Dieser Ostseestrand war ein Ablandeort insbesondere für DDR-Flüchtlinge, die mit kleinen Booten, wie sie Zech und Röddiger mitführten, das dänische Gedser oder das dazugehörige Feuerschiff erreichen wollten. Deswegen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie mit ihren Booten tatsächlich gemeinsam versucht haben, die DDR illegal über die Ostsee zu verlassen, und dabei ums Leben gekommen sind.