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Biografisches Handbuch

Dirk Wilhelm

geboren am 29.02.1968 | gestorben am 2. Juli 1971 | Ort des Vorfalls: Grenzübergang Hegyeshalom (Ungarn) - Nickelsdorf (Österreich)
Der 3jährige Dirk Wilhelm aus Guben erstickte am 2. Juli 1971 während einer ungarischen Grenzkontrolle. Seine Eltern hatten sich mit ihm in einem Fernlaster versteckt, um nach Österreich zu flüchten. Als der kleine Junge während der Grenzabfertigung zu weinen begann, fürchtete der Vater, entdeckt zu werden und hielt ihm den Mund zu.

Dirk Wilhelm erblickte am 29. Februar 1968 in der Wilhelm-Pieck-Stadt Guben als Kind der gelernten Säuglingsschwester Heidi (Heide) Wilhelm und des Schlossers Hartmut Wiebach das Licht der Welt. Hartmut Wiebach hatte zuvor seine Ehe scheiden lassen, um Heidi Wilhelm heiraten zu können.

Das Paar wollte die DDR verlassen und hatte in den vergangenen Jahren bereits mehrere Fluchtpläne durchdacht. Die größten Chancen rechneten sie sich für einen Fluchtweg über die ungarische Grenze nach Jugoslawien oder Österreich aus, um von dort in die Bundesrepublik zu gelangen. Sie dachten dabei nicht nur an sich, sondern auch an ihren Sohn Dirk, der es einmal besser haben sollte, wie Hartmut Wiebach später in einem Interview mit der Illustrierten Neue Revue äußerte. Aus diesem Grunde reisten sie im Sommer 1971 zu dritt mit ihrem PKW und gültigen Reiseunterlagen in die ČSSR und von dort weiter nach Ungarn. Sobald sie dort angekommen waren, suchten sie die günstigste Stelle zur Grenzüberquerung in den Westen. Stundenlang fuhren sie die Grenzen ab, doch das DDR-Autokennzeichen machte sie schnell verdächtig. So wurden sie oftmals schon weit vor den Schlagbäumen von ungarischen Grenzsoldaten gestoppt und kontrolliert.

Als sie kurz davorstanden, ihre Fluchtpläne aufzugeben, trafen sie in einem kleinen Gasthof, etwa 40 km von dem Grenzübergang Hegyeshalom-Nickelsdorf entfernt, auf den österreichischen Fernlastfahrer Hannes Käfer, der dort zu Mittag aß. Der 26jährige Student der Starkstromtechnik stammte aus Graz und lebte mit seiner Frau in Wien. Seit sechs Wochen arbeitete er aushilfsweise als Fernlastfahrer bei einer Wiener Speditionsfirma, um sein Studium zu finanzieren.

Hartmut Wiebach sprach Hannes Käfer an und fragte ihn, ob er sie nicht versteckt in seinem LKW nach Österreich mitnehmen könne. Nach einigem Zögern erklärte Käfer sich dazu bereit. Am Freitag dem 2. Juli 1971 ließen sie ihren PKW in der Nähe der Gemeinde Lebeny zurück. Käfer fuhr zu einem abgelegenen Waldweg. Dort lockerte er vorsichtig die Plombe der LKW-Plane, bis er diese soweit hochschieben konnte, dass die drei Flüchtlinge in den Anhänger kriechen konnten. Sie versteckten sich unter dem Eternit (Faserzement), das Käfer geladen hatte. Hilflos und schweißgebadet kauerten sie an der Stirnseite des Anhängers in ihrem niedrigen und staubigen Versteck unter der Ladung, die während der Fahrt auf sie zu rutschen drohte. Der kleine Dirk war während der Fahrt eingeschlafen. Um die Flucht nicht zu gefährden und unbemerkt die Grenzübergangsstelle passieren zu können, hatte seine Mutter ihm ein Beruhigungszäpfchen verabreicht. Gegen 21.30 Uhr erreichten sie die Grenzübergangsstelle Hegyeshalom.

Käfer stieg aus und gab dem Beamten seine Papiere. In diesem Moment hörte er Dirk kurz leise Weinen. Er glaubte, jetzt wäre alles aus und das Versteck entdeckt, was nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch ihm als Fluchthelfer eine Gefängnisstrafe eingebracht hätte. Doch die ungarischen Grenzer hatten nichts bemerkt. Während Käfer die Grenzformalitäten erledigte, untersuchten diese den Lastzug. Als sie auf den Anhänger stiegen, drückte Hartmut Wiebach den Jungen an sich und presste ihm die Hand vor den Mund, damit er durch sein Weinen nicht die Grenzer auf das Versteck aufmerksam macht.

Die Abfertigung an der Grenze ging problemlos vorüber, alles blieb ruhig und das Versteck unentdeckt. Als sich der LKW nach der Kontrolle wieder in Bewegung setzte, lockerte Wiebach den Griff. Zu seinem Schrecken stellte er fest, dass Dirk keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab. Kurz hinter der Grenze, im österreichischen Nickelsdorf, holten sie den Gemeindearzt herbei, der gleich neben der Zollstation wohnte. Dieser konnte gegen 22.30 Uhr jedoch nur noch den Tod des 3-Jährigen feststellen. Die Eltern waren am Boden zerstört. Die Flucht war ihnen geglückt, doch zu welchem Preis.

Am folgenden Tag, dem 3. Juli 1971, wurden die 26jährige Heidi Wilhelm und ihr 27jähriger Verlobter von der westdeutschen Botschaft zunächst im Haus der Wiener Bahnhofsmission untergebracht. Zwei Tage später vermittelte ihnen wiederum die Botschaft ein Hotelzimmer. Die Leiche von Dirk Wilhelm war inzwischen in das Wiener Gerichtsmedizinische Institut gebracht und dort obduziert worden. Die Obduktion ergab Tod durch Ersticken. Das Kind habe sich nicht wehren können, da seine Widerstandskraft durch die Wirkung des Beruhigungszäpfchens vermindert war.

Nach seiner Fluchthilfe entließ die Wiener Speditionsfirma Hannes Käfer fristlos. In den Tagen nach der Flucht traf er sich mit Heidi Wilhelm und Hartmut Wiebach. Auch am Morgen des 6. Juli fuhr er mit einem geborgten PKW zu ihnen, um sie zur westdeutschen Botschaft in die Wiener Metternichgasse zu fahren. Während Hartmut Wiebach dort Formalitäten erledigte, warteten Hannes Käfer und Heidi Wilhelm vor dem Gebäude im Auto, das von Reportern umlagert wurde. Heidi Wilhelm saß zusammengekauert neben Käfer und sprach kein Wort. Eine dunkle Sonnenbrille bedeckte ihre Augen.

Am selben Tag stellte die Staatsanwaltschaft Eisenstadt (Burgenland) die strafrechtliche Verfolgung wegen des Vergehens gegen die Sicherheit des Lebens ein, da kein „inländischer Strafanspruch“ gegen Heidi Wilhelm und Hartmut Wiebach gegeben sei. Das Kind, so Polizei und Gerichtsmediziner, sei während der Grenzabfertigung auf ungarischem Gebiet am Weinen gehindert, die Tathandlung somit von einem Ausländer auf ausländischem Gebiet verübt worden. Nach Paragraph 234 Abs. 2 des österreichischen Strafgesetzes werde dieses Vergehen nicht verfolgt und das Paar nicht nach Ungarn oder in die DDR ausgeliefert.

Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt gab Dirk Wilhelms Leiche am 7. Juli zur Beerdigung frei. Bereits einen Tag später, am 8. Juli 1971 um 15 Uhr, wurde er in der evangelischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes bestattet. Die Exklusivrechte für die Berichterstattung über das tragische Geschehen hatten Heidi Wilhelm und Hartmut Wiebach der Illustrierten Neue Revue verkauft. Pressevertreter aus dem In- und Ausland erschienen auf dem Friedhof. Die trauernden Eltern und auch der Fluchthelfer Hannes Käfer sahen sich ständig mit den Kameras der Reporter konfrontiert. Ein Abschied in aller Stille war nicht möglich.

Heidi Wilhelm und Hartmut Wiebach wollten nach der Beerdigung in die Bundesrepublik ausreisen, um sich im Flüchtlingslager Gießen registrieren zu lassen.

BildunterschriftBericht aus der Neuen Revue
BildquelleNeue Illustrierte Revue Nr. 30, 25.07.1971
Abb. 1:
Poster zum Video
Video 1

Biografie von Dirk Wilhelm, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/416-dirk-wilhelm/, Letzter Zugriff: 16.04.2024