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Biografisches Handbuch

Jochen Kilian

geboren am 10. April 1940 in Berlin | Festnahme am 7. August 1973 an der Grenzübergangsstelle Kapitan Andreewo-Kapikule. | Suizid am 10. August 1973 in der Untersuchungshaft in Sofia
BildunterschriftJochen Kilian
BildquelleStefan Appelius
Quelle: Stefan Appelius
Festnahme am 7. August 1973 mit einem falschen westdeutschen Pass (auf den Namen Stefan Wagner) an der Grenzübergangsstelle zur Türkei Kapitan Andreewo-Kapikule [Капитан Андреево]. Einlieferung in die Untersuchungshaftanstalt des Bulgarischen Staatssicherheitsdienstes in Sofia. Dort nahm sich Jochen Kilian das Leben.

Jochen Kilian und sein Fluchthelfer Wolfgang K. wurden in den frühen Morgenstunden des 7. August 1973 an der Grenzübergangsstelle Kapitan Andreewo festgenommen. Der Grenzübergang wurde vor allem von türkischen Arbeitern aus der Bundesrepublik genutzt. Zur Fluchthilfe hatte sich der Zwillingsbruder seiner westdeutschen Verlobten bereit erklärt. Nachdem die Grenzer entdeckt hatten, dass der Ausweis Kilians gefälscht war, wurden er und sein Fluchthelfer zunächst stundenlang im Abfertigungsgebäude mit Handschellen an Heizkörper gekettet und am nächsten Tag von einem Grenzer im orangefarbenen VW-Käfer des Fluchthelfers in die U-Haftanstalt nach Chaskovo transportiert.

Joachim Kilian, der in der Familie nur Jochen genannt wurde, kam 1940 als Sohn des Kaufmanns Erich Kilian (1900 – 1945) und seiner Frau, der Veterinärmedizinerin Dr. Charlotte Kilian (geb. Bindseil, 1906 – 1988) in Berlin zur Welt. Der Vater arbeitete als Vertreter des Musikinstrumentenherstellers Hohner. Nachdem Familie Kilian in Berlin ausgebombt wurde, zog sie in den Heimatort der Mutter, nach Eisleben. Joachim Kilian ging in Eisleben zur Schule und legte dort sein Abitur ab. Anschließend studierte er Chemie an der Technischen Hochschule Merseburg. Seit dem 1. November 1963 arbeitete Kilian als Diplom-Chemiker im Großforschungszentrums (GFZ) „Petrolchemie und hochpolymere Werkstoffe“ des VEB Leuna-Werke „Walter Ulbricht“. In seiner Freizeit züchtete er Kakteen und sammelte Münzen. Im Sommer 1973 stand er unmittelbar vor der Fertigstellung seiner vom Leiter des GFZ Prof. Dr. Manfred Rätzsch betreuten Dissertation über das Thema „Kationische Polymerisation von substituierten Norbornen-Derivaten“. Kilian war ein Einzelgänger, seine Einstellung zum SED-Regime galt als „loyal“.

Bereits in seiner Jugendzeit begann Kilians Freundschaft mit seiner späteren Verlobten, Barbara K.. Sie und ihr am späteren Fluchtversuch Jochen Kilians beteiligter Zwillingsbruder Wolfgang K. hatten die DDR verlassen und lebten in der Bundesrepublik, als die Liebesbeziehung zwischen Jochen Kilian und Barbara K., die als Medizinisch-Technische Assistentin in der Universitätsklinik Düsseldorf arbeitete, bei einem gemeinsamen Sommerurlaub am Balaton (1972) neu entflammte. Die beiden verlobten sich und trafen einander in Prag, Eisleben und am 21. Juli 1973 im „Pressecafé“ am Alexanderplatz in Ost-Berlin. Barbara K. und Jochen Kilian waren bereits im Vorjahr zu dem Entschluss gelangt, dass die Aufrechterhaltung der Verlobung eine sinnlose Sache sei, wenn er in der DDR bleibe. Daraufhin versuchten Barbara K. und ihr in Frankfurt am Main lebender Zwillingsbruder, einen falschen westdeutschen Pass für Jochen Kilian zu beschaffen, was ihnen schließlich auch gelang.

Da die Einzelheiten des Fluchtplans erst sehr kurzfristig geklärt werden konnten, reiste Kilian zunächst alleine mit seinem Motorrad nach Prag, wo er sich am 2. August 1973 mit seinem Fluchthelfer Wolfgang K. traf. Von dort aus reisten die beiden jungen Männer mit dem VW Käfer von Wolfgang K. über Ungarn und Rumänien am 5. August 1973 mit der Fähre an der Grenzübergangsstelle Widin [Видин] in die Volksrepublik Bulgarien ein. Für den Fluchtweg über Bulgarien hatten sie sich entschieden, weil Wolfgang K. Mitte Juni 1973 in der Reisebeilage der „Frankfurter Rundschau“ gelesen hatte, dass DDR-Bürger für die Volksrepublik kein Visum benötigten.

Am 6. August 1973 trafen Jochen Kilian und Wolfgang K. in Sofia Barbara K. und deren Mutter. Jochen Kilian übernahm den gefälschten westdeutschen Reisepass, der erst in Sofia mit nachgeahmten Ein- und Ausreisestempeln Versehen wurde. Anschließend übergab Kilian seiner Verlobten seine Münzsammlung und den Text seiner noch unveröffentlichten Dissertation. Brigitte K. und ihre Mutter reisten am nächsten Tag über die Grenzübergangsstelle Kalotina in die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ). Sie wollten in Italien auf Jochen Kilian und Wolfgang K. warten.

Jochen Kilian und Wolfgang K. fuhren unterdessen aus Sofia zum Grenzübergang Kapitan Andreewo, wo sie am selben Tag gegen 23 Uhr eintrafen. Sie glaubten, es sei „ungefährlich und einfach“ die Grenze zu passieren, solange sie nur innerhalb 48 Stunden seit ihrer Einreise in Widin auch wieder ausreisten. Sie glaubten, es sei möglich, einen Grenzkontrolleur mit einhundert DM zu bestechen. Doch es erschien ein zweiter Kontrolleur und die beiden Grenzer schöpften Verdacht. Der Volkswagen wurde durchsucht und eine Kunststoff-Probe entdeckt sowie die aus der DDR stammende Motorrad-Kleidung im Gepäck des angeblich Westdeutschen „Stefan Wagner“. Jochen Kilian hatte es nicht fertiggebracht, das geliebte Kleidungsstück nach der Abreise aus Sofia fortzuwerfen.  Er sei leicht als DDR-Bürger zu erkennen gewesen, meinte Wolfgang K. im Rückblick. Nach seiner Erinnerung brachen die Grenzer sofort in lautes Geschrei aus und bezichtigten die beiden Männer der „Spionage“. Möglicherweise spielte das Fehlen der bei jeder Einreise an Bundesbürger ausgegebenen weißen „statistischen Karte“ eine Rolle, die Joachim Kilian nicht vorweisen konnte.

Nach knapp zwei Tagen in der Haftanstalt Chaskovo trafen die beiden Festgenommenen am späten Abend des 9. August 1973 in die Untersuchungshaftanstalt des Bulgarischen Staatssicherheitsdienstes in Sofia ein. Man hatte sie bereits in Chaskovo voneinander getrennt. Kilian musste sich gemäß den Regelungen seiner sämtlichen privaten Kleidungsstücke entledigen und erhielt stattdessen Unterwäsche und Oberbekleidung der Haftanstalt.

Am Vormittag des 10. August 1973 wurde Kilian von 10 bis 11 Uhr von einem Oberleutnant namens Boschkoff vernommen und anschließend wieder in seine Zelle zurückgeführt, die er sich mit mehreren bulgarischen Gefangenen teilte. Fünfundvierzig Minuten später war er nicht mehr am Leben. DDR-Konsul Nietner telegrafierte nach Berlin, Kilian sei durch die Einnahme von Zyankali gestorben. Ob er das Gift in Aluminiumfolie eingeschweißt in seinem Mund versteckt hatte, wie es in einer Information des für Auslandsfälle zuständigen Stasi-Majors Peter Pfütze vom 3. September 1973 heißt, ist nicht sicher. Andere Quellen legen die Vermutung nahe, dass sich das Gift in seinen Waschutensilien befand. Seine Schwägerin erinnert sich, er habe das Gift gegenüber den Wärtern als Kopfschmerzmittel ausgegeben, das er dringend benötige. In den Überlieferungen der Hauptabteilung Konsularische Beziehungen des DDR-Außenministeriums (MfAA) heißt es, Kilian sei bereits am 11. August 1973 auf dem Sofioter Zentralfriedhof (KW Orlandowtzi, Grabstelle 103) bestattet worden.

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Erst sechs Tage später, am 17. August 1973 um 14:00 Uhr, erhielt seine Mutter Charlotte Kilian durch den Stellvertreter für Inneres beim Rat des Kreises Eisleben, Lill, die Mitteilung über den Tod ihres Sohnes. Man hatte sie telefonisch zu einer Unterredung einbestellt. Sie trug an jenem Tag, weil sie zum Baden wollte, ihr buntes Strandkleid, obwohl sie eigentlich immer auf angemessene Bekleidung achtete. Doch sie war überzeugt, dass es sich nur um eine kurze, belanglose Angelegenheit handeln könne. Stattdessen teilte ihr Ratsfunktionär Lill mit, dass ihr Sohn am 10. August 1973 „vermutlich in Sofia“ an den Folgen einer Überdosis Gift verstorben und bereits beerdigt worden sei. Vier Tage nachdem sie diese erschütternde Nachricht erhalten hatte, suchte Charlotte Kilian erneut den Ratsfunktionär auf und bat um die Überführung der Leiche ihres Sohnes. Lill erwiderte, dies sei erst in „sieben Jahren“ möglich.

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Bereits am nächsten Tag, dem 22. August 1973, erschienen zwei Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Objektdienststelle Leuna und Kreisdienststelle Eisleben, bei Charlotte Kilian. Sie stellten sich als Mitarbeiter der Kaderabteilung der Leuna-Werke vor und ersuchten sie um die Herausgabe der Dissertation ihres Sohnes, die Eigentum des Betriebes sei. Charlotte Kilian beklagte sich über die Auskunft des Ratsfunktionärs, es sei nicht möglich, die Leiche ihres Sohnes in seine Heimat zu überführen. Die beiden Stasimänner notierten hernach: „Es erscheint ihr unnormal, dass ihr Sohn am 10.08.1973 an einer Überdosis Gift verstorben ist und bereits am 11.08.1973 beerdigt worden ist, sie aber erst am 17.08.1973 davon in Kenntnis gesetzt wurde und da schon mit dem Hinweis, dass eine Exhumierung erst in sieben Jahren möglich sei.“

Doch Charlotte Kilian hatte die Absicht, die Exhumierung und Überführung der sterblichen Überreste ihres Sohnes zu erreichen, noch nicht aufgegeben. Sie wandte sich deshalb bereits am folgenden Tag schriftlich an die Konsularabteilung des MfAA in Ost-Berlin: „Ich habe nur die eine Bitte, den Sarg mit der Leiche meines Sohnes Joachim hierher nach L[utherstadt]-Eisleben zu überführen und ihn in unserer Familiengrabstätte beisetzen zu lassen. Ich habe meinen Mann durch den Krieg verloren und nur meine Söhne, sonst keine Verwandten. Ich bitte dringend um die Möglichkeit, ein geliebtes Kind an der Stätte beisetzen zu können, an der auch ich einmal ruhen werde und wäre für Ihre Hilfe, diesen einzig verbleibenden Wunsch zu erfüllen und mir jede nur irgend mögliche Unterstützung zu gewähren, dankbar. Dass ich für alle Kosten aufkomme, ist selbstverständlich.“

Zwischenzeitlich hatte Charlotte Kilian eine Todesanzeige für ihren Sohn in dem hallensischen SED-Organ „Freiheit“ veröffentlicht, die weder das Todesdatum, noch den Todesort, noch einen Hinweis auf die Todesursache enthielt.  Die Bearbeitung des Schreibens von Charlotte Kilian fiel in den Verantwortungsbereich von Ursula Gott, der Hauptreferentin in der Konsularabteilung des MfAA. Nach einer Anfrage bei dem Leiter der Konsularabteilung der DDR-Botschaft in Sofia, Günter Nietner, teilte sie Charlotte Kilian am 24. September 1973 mit, dass die Exhumierung bzw. Überführung „gemäß der innerstaatlichen Gesetzgebung der VRB“ erst nach einer „Frist von sechs Jahren“ möglich sei. Um welche „innerstaatlichen Gesetze“ es sich handelte, teilte Frau Gott nicht mit.  Charlotte Kilian erhielt ein Foto der Grabstätte in Sofia, das eine der typischen roten Pylonen  mit einem fünfzackigen Stern zeigte.

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Am 20. September 1973 bekam sie dann noch einige Kleidungsstücke ihres Sohnes vom Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres beim Rat des Kreises Eisleben, Lill, ausgehändigt. Auf die von Lill in Aussicht gestellte Rückgabe des Fotoapparates und des in Prag beschlagnahmten Motorrads ihres Sohnes, sowie auf diverse Unterlagen und eine Todesurkunde wartete sie monatelang vergeblich. Am 20. Mai 1974 beschwerte sie sich darüber mit einer Eingabe beim MfAA. Hauptreferentin Ursula Gott verwies sie bezüglich der Todesurkunde an das Standesamt I zu Berlin. Das Motorrad und der Fotoapparat (Typ Praktica LLC Nr. 80911) von Jochen Kilian blieben verschwunden. Kilians Fluchthelfer Wolfgang K. war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder auf freiem Fuß. Er wurde am 9. September 1973, dem bulgarischen Nationalfeiertag, aus der Haft entlassen und über Jugoslawien in die Bundesrepublik entlassen.

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Video 4

Biografie von Jochen Kilian, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/307-joachim-jochen-kilian/, Letzter Zugriff: 25.04.2024