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Biografisches Handbuch

Kurt-Werner Schulz

geboren am 25. Juli 1953 in Falkenstein | erschossen am 21. August 1989 | Ort des Zwischenfalls: ungarisch-österreichische Grenze zwischen Répcevic und Lutzmannsburg
BildunterschriftKurt-Werner Schulz
BildquelleAusstellungskatalog Das Burgenland und der Fall desEiserne Vorhang, Eisenstadt 2009, Foto: Johannes Schafitel
Quelle: Ausstellungskatalog Das Burgenland und der Fall desEiserne Vorhang, Eisenstadt 2009, Foto: Johannes Schafitel
Der Diplomingenieur und Architekt Kurt-Werner Schulz wurde am 21. August 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze erschossen, als er versuchte mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn nach Österreich zu flüchten.

Kurt-Werner Schulz wuchs in Falkenstein als Sohn der Damenschneiderin Gertraude Schulz und des Tischlers Walter Schulz auf. Nach Angaben seiner Schwester Gerlinde gehörte er nicht der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ an, wofür die Mutter als gläubige Christin ausschlaggebend gewesen sei. Er entschied sich 1967 auch für die Konfirmation und beteiligte sich nicht an der staatlich erwünschten Jugendweihe.

Der FDJ trat er schließlich bei, um die Erweiterte Oberschule (EOS „Geschwister Scholl“) besuchen zu können. Der Unterricht fiel Kurt-Werner Schulz leicht und er war sowohl musisch als auch sportlich begabt. Als Schulsportler gewann er in der Leichtathletik etliche Medaillien, in seiner Freizeit spielte er Gitarre und Orgel.

Nach dem Schulabschluss verpflichtete sich Kurt-Werner Schulz zu einem dreijährigen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee der DDR, da ihm das die Zulassung zu einem Studium ermöglichte. Während des Wehrdienstes lernte er seine erste Frau kennen, mit der er eine gemeinsame Tochter hatte. Im Jahr 1975 begann er in Weimar sein Studium an der Hochschule für Architektur und Bauwesen mit der Fachrichtung Gebiets- und Stadtplanung. Die Beurteilungen über seine „gesellschaftliche Arbeit“ in der Hochschule fielen durchweg positiv aus. Er habe zum positiven Kern seiner Seminargruppe gehört und diese durch seine optimistische Lebenseinstellung, Selbstsicherheit und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein positiv beeinflusst. Er gehörte der FDJ, der DSF, der GST und dem DTSB an. Nach dem Studienabschluss im Jahr 1980 arbeitete Kurt-Werner Schulz von 1982 bis 1984 im Kreisbauamt Weimar. Während des Studiums hatte Kurt-Werner Schulz die Kinderkrankenschwester Gundula Schafitel kennengelernt, die seine Lebensgefährtin wurde. Sie brachte im Mai 1983 den gemeinsamen Sohn Johannes zur Welt.

Kurt-Werner Schulz übernahm 1984 eine Stelle als stellvertretender Kreisbaudirektor für komplexen Wohnungsbau in Naumburg. Eine ihm angebotene Beschäftigung als Kreisarchitekt beim Rat des Kreises Weimar lehnte er ab, da er in dieser Funktion zu einer Mitarbeit im Stab der Zivilverteidigung verpflichtet werden sollte. Stattdessen trat er in den Betrieb des Vaters seiner Lebensgefährtin ein, der als selbständiger Schreinermeister in Bad Sulza eine gutgehende Modelltischlerei betrieb. Im Jahr 1987 übernahm Kurt-Werner Schulz diesen Betrieb von Johannes Schafitel.

Gundula Schafitel stellte in den Jahren 1987 und 1988 Reiseanträge in dringenden Familienangelegenheiten. Sie wollte ihre Tanten Lina Groos (Jahrgang 1909) in Wiesbaden und Maria Schafitel (Jahrgang 1918) in Obertürkheim besuchen. Das Volkspolizeikreisamt lehnte diese Reiseanträge aus Sicherheitsgründen ab. Kurt-Werner Schulz erhielt im Sommer 1988 eine Reisegenehmigung nach Bayern zu einem Halbbruder seiner Mutter.

Zur Feier seines 36. Geburtstags lud Kurt-Werner Schulz im Juli 1989 zahlreiche Familienangehörige und Freunde ein. Wie sich seine Schwester Gerlinde erinnert, sagte er zu den Gästen, er freue sich, sie alle „noch mal“ zu sehen. Auf ihre erstaunte Frage, was er denn mit „noch mal“ meine, habe er sich korrigiert, „ich meine, dass ihr alle da seid“. Drei Wochen später, am 18. August 1989, reisten Gundula Schafitel und Kurt-Werner Schulz mit ihrem sechsjährigen Sohn Johannes nach Ungarn. Das Paar hatte sich zur Flucht über die ungarische Grenze nach Österreich entschlossen. In Budapest hörten sie am 19. August von der Massenflucht während des Paneuropäischen Picknicks in der Nähe von Sopron. Dorthin machten sie sich am folgenden Tag auf den Weg. Im westungarischen Grenzgebiet fiel die Familie am Sonntag dem 20. August ungarischen Grenzsoldaten auf, als sie mit ihrem Trabi durch ein Dorf in Richtung Grenze fuhr. Man nahm sie fest und brachte sie zum Verhör in die nahe gelegene Kaserne. Der Grenzkommandeur Oberstleutnant Istvan Diczházi teilte ihnen mit, dass sie Ungarn verlassen und in die DDR zurückreisen müssten. Nach einer Übernachtung im Trabi machten sie sich erneut auf den Weg ins Grenzgebiet. Bei einem Bauern, in dessen Hof sie am Abend ihren Trabi zurücklassen, verbringen sie den Tag. In der Dunkelheit machen sie sich in der Nähe des Dorfes Zsira auf den Weg zur Grenze. Dabei wurden sie von zwei ungarischen Grenzsoldaten entdeckt und verfolgt.

Was dann geschah, hielt die ungarische Militärstaatsanwaltschaft in einem Untersuchungsbericht fest. Demnach war der Grenzsoldat Zoltán Kovács mit seinem Kameraden Gábor Füleki am 21. August 1989 an der Staatsgrenze zu Österreich im Streifendienst eingesetzt. Er habe gegen 22:30 Uhr in direkter Nähe der Grenze Personen bemerkt, ein Mann, eine Frau und ein Kleinkind. Seine Aufforderung, stehenzubleiben sei nicht befolgt worden. Kovács habe als erster die Flüchtenden erreicht. Die Frau und das Kind hätten bereits die Sicherungsanlagen kriechend überwunden. Schulz habe sich gegen ihn gewandt und mit der Tasche niedergeschlagen. Kovács habe den Fuß von Schulz festgehalten, es sei zu einer Schlägerei gekommen, in deren Verlauf Schulz den Soldaten auf österreichisches Gebiet gezerrt habe. Etwa 15 Meter auf österreichischem Gebiet seien beide hingefallen. Kurt-Werner Schulz habe versucht, dem Soldaten die Waffe zu entreißen, als ein Schuss aus 10 bis 15 cm Entfernung ausgelöst wurde, der Schulz in den Mund traf. Sein Tod sei sofort eingetreten. Die gerichtsmedizinischen Experten hätten Schmauchspuren an der Hand des Toten festgestellt, womit belegt sei, dass Schulz den Lauf der Waffen mit der rechten Hand ergriffen hatte, als der Schuss fiel. Kovács habe bei der Verfolgung der Flüchtenden Warnschüsse abgegeben und danach seine Waffe nicht gesichert, wozu er auch nicht verpflichtet gewesen sei. Es liege keine Gesetzesverletzung des Soldaten vor, da er von dem DDR-Bürger angegriffen wurde. Unterzeichnet von Dr. Gyula Váradi, stellv. Leiter der Militäranwaltschaft am 20. September 1989.

Am Morgen des 22. August 1989 telegrafierte der westdeutsche Botschafter Alexander Arnot aus Budapest an das Auswärtige Amt in Bonn, er habe bei einem aus anderem Anlass mit Staatsekretär Kovacs geführten Gespräch die Information erhalten, „daß in der letzten Nacht ein Bürger der DDR an der ungarischen Grenze zu Österreich den Tod gefunden hat“. Das Auswärtige Amt leitete dieses Telegramm umgehend an das Bundeskanzleramt weiter. Am Nachmittag ersuchte Botschafter Arnot um ein Gespräch mit der Witwe. Er erhielt daraufhin die Auskunft, sie befinde sich noch in der Obhut des Innenministeriums könne aber auf eigenen Wunsch jederzeit nach Österreich ausreisen.

Österreichische und westdeutsche Medien berichteten in den folgenden Tagen ausführlich über den Zwischenfall. Das Auswärtige Amt in Bonn veröffentlichte eine Pressemitteilung über den Todesfall, in der es außerdem auf rund 200 geglückte Fluchten von DDR-Bürgern nach Österreich in der gleichen Nacht hinwies. Am Wochenende davor sei sogar rund 1 000 DDR-Bürgern die Flucht gelungen.

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Video 1
Nachdem die Westnachrichten über den Todesfall berichtet hatten, ordnete der DDR-Staatssicherheitsdienst eine verstärkte Streifentätigkeit von MfS-Leuten und der Volkspolizei im Wohngebiet von Kurt-Werner Schulz und Gundula Schafitel an sowie die Beobachtung ihres Wohnhauses und „Operative Kontrollmaßnahmen“ gegen oppositionelle Personenkreise und Ausreiseantragsteller. Zwei Tage nach dem Zwischenfall wurde für den Vormittag des 23. August 1989 auf beiderseitigen Wunsch der österreichisch-ungarische Untersuchungsausschuss zu Grenzvorfällen einberufen. Das Protokoll der Ausschusssitzung ist nachstehend dokumentiert.

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Video 2

Interviews mit Gundula Schafitel über den Zwischenfall sind auf dem Zeitzeugenportal der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland  sowie in der Mediathek des MDR abrufbar.

Gundula Schafitel und ihr Sohn Johannes, die nach dem Zwischenfall in eine Kaserne nach Kőszeg gebracht worden waren, durften am 24. August 1989 nach Österreich ausreisen. Gerlinde Schellenberger, die Schwester von Kurt-Werner Schulz, hörte unterdessen von einer Arbeitskollegin, die Nachrichten hätten den Tod eines DDR-Flüchtlings namens Kurt Schulz gemeldet, der an der ungarischen Grenze erschossen worden sei. Nachdem auch ihr Vorgesetzter sie auf den Vorfall angesprochen hatte, rief Frau Schellenberger im DDR-Außenministerium an und erhielt dort von dem Mitarbeiter der Hauptabteilung Konsularische Beziehungen Bohne die traurige Gewissheit, dass es sich um ihren Bruder handelte. Ihre Bitte, die Leiche ihres Bruders in Budapest noch einmal sehen zu dürfen, lehnte das DDR-Außenministerium ab.

Die Überführung der sterblichen Überreste von Kurt-Werner Schulz in die DDR zog sich fast zwei Monate lang hin. Am 4. September 1989 telegrafierte die DDR-Botschaft aus Budapest an das DDR-Außenministerium und den Rat des Kreises Auerbach, Abteilung Inneres, eine Einäscherung des Toten könne in Ungarn nicht erfolgen, da dies im vorliegenden Fall nach ungarischem Recht nicht gestattet sei. Die Überführung werde in einem Sarg erfolgen. Ein Mitarbeiter der Hauptabteilung Konsularische Angelegenheiten des DDR-Außenministeriums namens Kunert antwortete am folgenden Tag der DDR-Botschaft, die Entscheidung sei nicht nachvollziehbar, da bisher in zahllosen Todesfällen eine Einäscherung in Ungarn erfolgt sei. Allerdings hatte auch Gerlinde Schellenberger im Namen der Angehörigen gegenüber dem MfAA einer Einäscherung des Toten in Ungarn explizit widersprochen. Am 6. September telefonierte der MfAA-Mitarbeiter Bohne mit dem Leiter der Abteilung Inneres in Auerbach Malinowski, den die Angehörigen um die Aushändigung von Sterbeurkunden gebeten hatten, da der Verstorbene eine Lebensversicherung abgeschlossen habe, womit die Überführungskosten eventuell gedeckt werden könnten. Außerdem fragten die Angehörigen, ob eine Überführung gegen DM in die Bundesrepublik möglich sei, was Malinowski, wie er sagte, „in Kenntnis der Situation abgeblockt“ haben will. Bohne informierte Malinowski weiterhin, dass mit dem Transport der Leiche nicht vor dem 13. September zu rechnen sei. Für die Überführungskosten forderte das DDR-Außenministerium von den Angehörigen 10 000 Mark. Zur Beisetzung von Kurt-Werner Schulz fanden sich am 10. Oktober 1989 auf dem Friedhof in Falkenstein mehrere hundert Trauergäste ein. Der DDR-Staatssicherheitsdienst schickte vier seiner hauptamtlichen Mitarbeiter und einen Spitzel dorthin, um zu beobachten, ob die Beisetzung „von oppositionellen oder anderen negativen Kräften mißbraucht“ würde.

Am 23. Oktober 1989 notierte MfAA-Mitarbeiter Bohne einen Telefonanruf Gerlinde Schellenbergers, sie habe noch immer kein gerichtsmedizinisches Gutachten erhalte, das sie zur Klärung von Versicherungsansprüchen benötigte, auch habe sie erneut nach einem Obduktionsprotokoll und einem ungarischen Untersuchungsbericht über den Vorfall an der Grenze gefragt. Noch am gleichen Tag ersuchte MfAA-Sektorenleiter Heynert aus der Hauptabteilung Konsularische Angelegenheiten des MfAA die DDR-Botschaft in Budapest um die Zusendung dieser Unterlagen. Es dauerte noch einmal mehr als drei Wochen bis die DDR-Botschaft aus Budapest am 16. November 1989 schließlich diese Dokumente samt Untersuchungsbericht des ungarischen Innenministeriums der DDR-Generalstaatsanwaltschaft übermittelte.


Biografie von Kurt-Werner Schulz, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/305-kurt-werner-schulz/, Letzter Zugriff: 23.04.2024