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Biografisches Handbuch

Karl-Heinz Bösel

geboren am 12. November 1938 in Allstedt | wahrscheinlich erstickt am 8. Oktober 1968 | Ort des Vorfalls: Elbe zwischen Wahrenberg (Sachsen-Anhalt) und Cumlosen (Brandenburg)
Der 29-jährige Karl-Heinz Bösel versuchte gemeinsam mit einem Freund von Wahrenberg aus tauchend das 15 Kilometer stromaufwärts gelegene Schnackenburg in Niedersachsen zu erreichen. Seine Leiche wurde elf Tage später bei Cumlosen geborgen.

Am Abend des 7. Oktobers 1968 fuhren zwei Männer auf einem Motorrad über die Feldwege bei Wahrenberg zum Elbufer. Dort angekommen, luden sie mehrere Taschen ab und schoben die Maschine in einen Graben. Aus den Taschen holten sie zwei Taucheranzüge mit Sauerstoffflaschen heraus, die sie sich gegenseitig anlegten. Eine zehn Meter lange Perlonleine flochten sie zu einem etwa dreieinhalb Meter langen Seil zusammen. An jedes Ende knüpften sie eine Schlinge, die sie sich ums Handgelenk legten. Gegen 1 Uhr stiegen sie in die Elbe, um 15 Kilometer stromaufwärts nach Schnackenburg in Niedersachsen zu tauchen. Alles war so sorgfältig bis ins Detail geplant und erprobt, dass der Tod eines der beiden Taucher unvorstellbar erschien und bis heute noch nicht aufgeklärt ist.

Karl-Heinz Bösel hatte schon früh den Wunsch, in die Bundesrepublik auszureisen. Der 1938 in Allstedt im Mansfelder Land geborene Landwirt litt seit seinem 14. Lebensjahr unter den Folgen eines Unfalls, der eine Wirbelsäulenverkrümmung mit Buckelbildung zur Folge hatte. Die seelische Belastung, die dies für den Heranwachsenden bedeutete, muss groß gewesen sein. Er hoffte darauf, dass ihm Ärzte in der Bundesrepublik helfen könnten – in Bad Sobernheim (Rheinland-Pfalz) hatte die aus der DDR geflüchtete Therapeutin Katharina Schroth mit ihrer Atmungs-Orthopädie Heilungserfolge bei Patienten mit Rückenverkrümmung erzielt. Karl-Heinz Bösel wollte ihr Patient werden. Doch die Chancen auf eine legale Ausreise, um die Krankheit therapieren zu lassen, standen schlecht. Weil bereits eine Schwester von ihm in der Bundesrepublik lebte, war aus Sicht der Passbehörde die Gefahr zu groß, dass der Junge nicht zurückkehren würde. Ein zwischenzeitlich genehmigter Interzonenpass wurde der Familie wieder entzogen.

Im Sommer 1963 sah der inzwischen 25-Jährige seine Chance gekommen, als er an einer Touristenreise nach Bulgarien teilnahm. Viele Fluchtwillige aus der DDR hofften, dass die Grenzen in den südlichen Warschauer-Pakt-Staaten weniger gesichert wären als bei sich zu Hause und wurden oft schmerzlich des Gegenteils belehrt. So erkundete auch Karl-Heinz Bösel gemeinsam mit einem Freund eine Fluchtmöglichkeit über die Türkei. Aber einer der Einheimischen, bei denen er sich nach einem Weg über die Grenze erkundigte, verständigte die Miliz. Die beiden jungen Männer wurden festgenommen und in die DDR überstellt. Dort erwartete sie ein Prozess wegen „Vorbereitungshandlungen zum illegalen Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik“. Am 14. Oktober 1963 verurteilte sie das Kreisgericht Sangerhausen zu jeweils einem Jahr Gefängnis. Die Haftzeit wurde im Nachhinein, unter Berücksichtigung des Fluchtmotivs Bösels, auf acht Monate reduziert, doch allein schon die Gefängniserfahrungen, die er im „Roten Ochsen“ in Halle machen musste, verstärkten wahrscheinlich seine ablehnende Haltung gegenüber der DDR.

Nach seiner Entlassung meldete sich Karl-Heinz Bösel bei der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) in Erfurt zum Schwimmund Tauchsport an. Er hoffte, damit etwas gegen sein Rückenleiden unternehmen zu können. Doch bald kam noch ein anderer Gedanke hinzu – eine neue Fluchtstrategie. Gemeinsam mit seinem Freund aus Kindertagen, Günter R., der ebenfalls in der Sektion Tauchen der GST trainierte, begann er mit unterschiedlichen Tauchgeräten zu experimentieren. Doch keines der verfügbaren Geräte erschien ihnen geeignet – die Flucht sollte absolut sicher sein. Von Taucherkollegen erwarben sie 1966 zwei Sauerstoff-Kreislaufgeräte – eine Neuentwicklung, die eigentlich dem Militär vorbehalten war. Die beiden Freunde trainierten zwei Jahre lang, um diese komplizierten Geräte bedienen zu können, zumal die Atemluftversorgung technische Mängel hatte. Zwischenzeitlich fuhren sie mit dem Motorrad zur Elbe, überprüften die Wassertemperatur und -strömung und erkundeten von Wittenberge aus die Grenzanlagen mit einem Fernglas.

Als am Abend des 7. Oktober 1968 die Planungen in die Tat umgesetzt werden sollten, geschah etwas Unvorhergesehenes. Im Wasser auf dem Weg nach Schnackenburg wurde Günter R. plötzlich von Übelkeit gepackt. War es die Aufregung, nach vierjähriger Vorbereitung nun endlich so nah am Ziel zu sein? Beide schwammen deshalb zunächst wieder in Richtung Ufer. In diesem Moment müssen bei Karl-Heinz Bösel schlimme Ängste und Erinnerungen wieder aufgetaucht sein. Nur nicht wieder in die Fänge der Stasi geraten, nicht noch einmal im „Roten Ochsen“ inhaftiert werden! Die Leine, die eigentlich sichern sollte, dass die Freunde in der Strömung zusammenbleiben, wurde, als Bösel in die Flussmitte drängte, zur Fessel. Günter R. hatte keine andere Wahl, als die Leine entzweizuschneiden. Bösel blickte sich noch einmal um und verschwand anschließend im dunklen Wasser.

Langsam, in mehreren Etappen, versuchte Günter R. nachzukommen. Gegen Morgen warf er sich erschöpft ans niedersächsische Ufer und schloss die Augen. Spät am Tage erreichte er dann Schnackenburg. Zollbeamte, an die er sich dort wandte, wussten jedoch nichts von einem zweiten Flüchtling. Die Befürchtung, der Freund habe es womöglich nicht ans andere Ufer geschafft, wurde elf Tage später, am 18. Oktober, zur bitteren Wahrheit, als Angehörige der DDR-Grenztruppen bei Cumlosen eine Leiche in kompletter Sporttaucherausrüstung bargen. Das Manometer des Tauchgerätes stand auf „Null“, der Sauerstoffhahn war geöffnet. Bei der Obduktion, die noch am selben Abend in Wittenberge vorgenommen wurde, konnten weder Zeichen äußerer Gewalteinwirkung noch ein Tod durch Ertrinken festgestellt werden. Da der Zustand der Leiche ein eindeutiges Urteil nicht mehr zuließ, schlossen die Gerichtsmediziner der Universität Rostock auf Tod durch Ersticken. Für die Familie von Karl-Heinz Bösel muss es umso schwieriger gewesen sein, diesen Verlust zu bewältigen, da die Leiche ohne Einwilligung der Angehörigen verbrannt und die Asche in einer Urne beigesetzt wurde. Die Familie verlangte nach Aufklärung, doch auch die Beamten der Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV), die in den 1990er Jahren die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze untersuchten, fanden keine Belege für ein Tötungsdelikt. Die Ungewissheit darüber, auf welche Weise Karl-Heinz Bösel in jener Nacht ums Leben kam, bleibt.


Biografie von Karl-Heinz Bösel, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/165-karl-heinz-boesel/, Letzter Zugriff: 19.04.2024