Die Ankunft in der Bundesrepublik muss Erich Schmidt in einen Zustand der Euphorie versetzt haben. In Briefen nach Hause schwärmte er von der Möglichkeit, sich eine neue Existenz als Kraftfahrer aufbauen zu können, schnitt aus Prospekten Preisangebote und aus Ratgebern Hinweise auf soziale Unterstützungen für Flüchtlinge aus und bat seine Ehefrau inständig, mit den Kindern aus der DDR nachzukommen. Sie würden glücklicher leben als je zuvor. Erich Schmidt rechnete nicht damit, dass ihn die Abteilung Abwehr des Staatssicherheitsdienstes als hochgradiges Sicherheitsrisiko eingestuft hatte.
Als er am 7. Oktober 1965 in die Bundesrepublik floh, stand ihm unmittelbar die Beförderung zum Leutnant bevor. Seit seinem 18. Geburtstag gehörte er den Grenztruppen an, von 1957 bis 1963 der Grenzkompanie Helmershausen. Nebenbei hatte er eine zweijährige Offiziersausbildung absolviert und wurde zum Unterleutnant befördert. Am 13. Oktober 1963 versetzte man ihn zur 11. Grenzbrigade Meiningen als Zugführer der Grenzkompanie Stedtlingen. Auch die eigene Familie war fest in die militärischen Strukturen der Grenztruppen integriert: Seine Frau arbeitete in der Kompanieküche, die Familie lebte in einem Wohnobjekt der NVA, ein Schwager war Oberstleutnant der örtlichen Pionierkompanie.
Das MfS schätzte das mögliche Maß eines Geheimnisverrats durch Erich Schmidt gegenüber westlichen Geheimdiensten hoch ein, da der Fahnenflüchtige genaue Auskunft über die Grenzanlagen, den Zustand des Minenfeldes und die Bewaffnung der Grenztruppen geben konnte. Er hatte regelmäßig Einsicht in vertrauliche Unterlagen und kannte die Methoden sowie Inhalte der politischen und militärischen Ausbildung. Deshalb wurde gegen ihn der Operativ-Vorgang „Schmarotzer“ eröffnet, der unter anderem das Ziel hatte, den „Verräter auf das Territorium der DDR zurückzuholen und ihn der gerechten Strafe zuzuführen“ sowie eine „Republikflucht der Familie Schmidt zu verhindern“.
Aus der Überwachung des Briefverkehrs war das MfS über die Briefe informiert, die Erich Schmidt über Familienangehörige seiner Ehefrau zukommen ließ. Diese fühlte sich durch die Flucht ihres Mannes alleingelassen. Sowohl finanzielle Einbußen als auch der Verlust der Wohnung und vieler sozialer Kontakte waren zu bewältigen. Sie zweifelte daran, ob sie für das Glück ihres Mannes nachts im Winter mit zwei Kleinkindern durch ein Minenfeld laufen und Sperrzäune überklettern sollte. Als ihr Mann die Unterstützung durch Fluchthelfer anbot, lehnte sie das schlichtweg ab. So muss er zu dem Entschluss gekommen sein, die Familie in Helmershausen selbst abzuholen und mit ihr gemeinsam die Grenzanlagen zu überwinden.
Genau darauf hatte der Staatssicherheitsdienst gewartet. „Inoffiziell“, so heißt es in einem Bericht an Erich Mielke, „war bereits seit dem 13.12.1965 bekannt, wie und auf welchem Weg Sch. seine Ehefrau und seine beiden Kinder nach Westdeutschland schleusen wollte“. Für die Grenze im Bereich der gesperrten Straße zwischen Helmershausen und Weimarschmieden wurden zusätzliche Posten eingesetzt, die die Weisung hatten, einen geplanten Durchbruch zu verhindern. Als das MfS erfuhr, dass Erich Schmidt am 28. Dezember um Mitternacht seine Familie am Ortsrand von Helmershausen abholen wollte, wurde der anvisierte Treffpunkt von 14 Mitarbeitern umstellt. Der Sicherungszug des Grenzbataillons überwachte die weitere Umgebung. Kurz vor 22 Uhr entdeckten zwei Posten dieses Sicherungszuges Erich Schmidt.
Blitzartig mag sich Erich Schmidt in diesem Moment vorgestellt haben, was ihn nach der Festnahme erwartete. Er würde als Spion und Verräter gelten, als jemand, der die Sicherheit der DDR aufs Empfindlichste gefährdet habe. Nächtelang würde er vom MfS vernommen werden. Was würde man seinen Kindern über ihren Vater erzählen? Seine Hoffnung darauf, noch einmal mit seiner Familie neu anfangen zu können, unter besseren Ausgangsbedingungen – alles verloren!
Erich Schmidt hatte sich mit seiner alten Dienstpistole bewaffnet. Noch bevor ihn die Posten festnehmen konnten, riss er die Pistole in die Höhe, setzte sie an seinen Kopf und drückte ab. In der Neurologischen Klinik Erfurt versuchten die Ärzte, den Schwerverletzten durch eine Notoperation zu retten. Er starb in der Mittagszeit des 29. Dezember 1965, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Die Urne, so wünschte es seine Witwe, sollte im Grab seiner Mutter beigesetzt werden.