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Biografisches Handbuch

Bernhard Simon

geboren am 30. September 1945 in Neurode (heute: Nowa Ruda, Polen) | gestorben am 28. Oktober 1963 an den Folgen einer Minenverletzung | Ort des Vorfalls: DDR-Grenze zwischen Zießau und „Wirler Spitze“, Landkreis Lüchow-Dannenberg (Niedersachsen)
BildunterschriftBernhard Simon
BildquellePrivat, Florian Kuhnigk
Quelle: Privat, Florian Kuhnigk
Während der gemeinsamen Flucht mit seinem Bruder löste der 18-jährige Bernhard Simon an der DDR-Grenze zu Niedersachsen eine Erdmine aus. Er erlag seinen Verletzungen kurze Zeit später auf dem Gebiet der Bundesrepublik.

Die beiden Brüder Bernhard und Siegfried Simon aus Leipzig entschlossen sich gemeinsam zur Flucht aus der DDR. Ihr Leben dort blieb hinter ihren eigenen Vorstellungen zurück und war von mancherlei Hemmnissen begleitet. Ihre Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse hatten sie offen geäußert und deswegen des Öfteren ihre Arbeitsplätze verloren. Siegfried Simon stand zudem die Einberufung in die Nationale Volksarmee (NVA) bevor, der er durch die Flucht entgehen wollte. Da Bernhard Simon, der Jüngere von beiden, nicht alleine zurückbleiben wollte, schloss er sich seinem Bruder an. Die Brüder lebten bei ihrer Mutter, der von ihr geschiedene Vater hatte die DDR schon lange verlassen und wohnte in der Bundesrepublik. Sein genauer Aufenthaltsort war den Brüdern jedoch nicht bekannt.

Ihnen war durchaus bewusst, dass die Grenze stark gesichert und ein Streifen zwischen den Stacheldrahtzäunen vermint war. Von einem Angehörigen der NVA erfuhren sie jedoch, dass es auch minenfreie Grenzabschnitte gab. Am Morgen des 26. Oktober 1963, einem Samstag, fuhren die beiden Jugendlichen von Leipzig aus mit der Bahn nach Arendsee, wo sie in einer Jugendherberge unterkamen. Am Sonntag begannen sie, die Gegend im Zonengrenzgebiet zu erkunden. Am Montag, dem 28. Oktober, fanden sie schließlich eine Stelle an der DDR-Grenze nach Niedersachsen, die ihnen als Fluchtweg geeignet erschien.

Um das Risiko beim Durchqueren des Minenfeldes soweit wie möglich auszuschließen, fertigte Siegfried einen etwa zwei Meter langen Stock, an dessen unterem Ende er einen Nagel anbrachte. Als sie sich am Montag, dem 28. Oktober 1963, entschlossen, die Flucht zu wagen, schlichen sie sich bei Dunkelheit an die erste Stacheldrahtsperre. Nachdem der erste Stacheldraht mit einer Drahtschere durchtrennt war, krochen sie auf das Minenfeld. Siegfried Simon tastete mit dem Stock den Erdboden ab und konnte dadurch Minen orten, denen sie dann auswichen. Kurz vor dem zweiten Stacheldraht hatte er eine weitere Mine ausgemacht, auf die er den Bruder hinwies. Um den zweiten Stacheldraht durchzuschneiden, bat er seinen hinter ihm liegenden Bruder um die Drahtschere. Als Siegfried Simon den letzten Stacheldraht durchtrennt hatte, löste sein Bruder beim näheren Heranrücken eine Erdmine aus. Bernhard Simon klagte, er sei steif und könne sich nicht mehr bewegen. Die Mine hatte ihm das rechte Bein bis zum Oberschenkel abgerissen. Auch in sein linkes Bein und den Unterleib waren Splitter eingedrungen. Siegfried Simon hatte nur leichte Verletzungen erlitten. Er trug seinen schwer verwundeten Bruder in den nahe gelegenen Wald auf das Gebiet der Bundesrepublik. Hier band er ihm beide Beine in Höhe der Oberschenkel mit dem Riemen eines Fotoapparates und mit einem Schal ab, um die Blutung zu stoppen. Danach ließ er seinen Bruder an dieser Stelle zurück und lief in Richtung Nord-Westen, um Hilfe zu holen. Nach etwa zweieinhalb Kilometern erreichte er gegen 20 Uhr die Ortschaft Wirl und traf auf Zollbeamte, die sofort über Funk einen Krankenwagen anforderten und sich mit Siegfried Simon zur Zonengrenze begaben, um dessen verletzten Bruder zu suchen. Doch die Suche gestaltete sich schwierig. Siegfried Simon stand unter Schock und hatte in der Dunkelheit Orientierungsschwierigkeiten. Gegen 20.30 Uhr wurde der schwer Verletzte etwa einen Kilometer westlich der Wirler Spitze gefunden. Inzwischen waren sowohl ein Arzt als auch ein Krankenwagen eingetroffen, der den Verletzten nach der Erstversorgung in das Kreiskrankenhaus nach Dannenberg bringen sollte. Dort war man bereits über Funk und Telefon von den schweren Verletzungen des Flüchtlings unterrichtet. Ein Arzt fuhr dem Krankenwagen entgegen, um eventuell eine Bluttransfusion während des Transportes durchführen zu können. Der Blutverlust des Verletzten war jedoch so groß, dass ihm nicht mehr geholfen werden konnte. Auf der Fahrt zum Krankenhaus, kurz vor Lüchow, hörte das Herz des 18-jährigen Bernhard Simon um 21.25 Uhr auf zu schlagen.

Das DDR-Grenzregiment Salzwedel meldete am 29. Oktober 1963 an das Kommando der Grenztruppen, gegen 11 Uhr hätten sich westlich „der Durchbruchstelle 5 Zivilpersonen (vermutlich Presse) und gegen 15.45 Uhr zwei englische Offiziere“ aufgehalten. Die am Zehn-Meter-Kontrollstreifen eingesetzten DDR-Grenzposten seien durch Angehörige des westdeutschen Zollgrenzdienstes „in wüster Weise beschimpft“ worden.

Auf Wunsch von Siegfried Simon erfolgte die Beisetzung seines Bruders in der Bundesrepublik. Der Bruder habe zu Lebzeiten geäußert, dass er immer – auch über den Tod hinaus – mit ihm zusammenbleiben wolle. Am Nachmittag des 4. Januar 1964 fand nahe der Stelle, an der am 28. Oktober 1963 eine Erdmine Bernhard Simon tödlich verletzt hatte, eine kleine Gedenkfeier statt. Zur Erinnerung an ihn wurde auf der Westseite ein Eichenholzkreuz errichtet.

Die Staatsanwaltschaft Schwerin ermittelte in den 1990er Jahren den für die Verlegung der tödlichen Minen verantwortlichen Kompaniechef einer Pionierkompanie des Pionierbataillons 8 und klagte ihn an, die Tötung von fluchtwilligen DDR-Bürgern billigend in Kauf genommen zu haben. Der Beschuldigte erklärte, er habe seinerzeit nicht angenommen, dass Menschen die gut bewachten Grenzsperren überwinden und trotz der aufgestellten Warnschilder in die Minenfelder eindringen könnten. Vielmehr habe er – entsprechend der offiziellen Verlautbarung – geglaubt, dass die unter seinem Kommando verlegten Bodenminen (PMD-6) als taktisches Mittel zur Grenzsicherung gegen mögliche militärische Provokationen und Angriffe von westlicher Seite auf das Territorium der DDR dienten. Über verletzte oder gar getötete DDR-Bürger an der Grenze habe er nichts gewusst und wegen des abgeschotteten Lebens in der Kaserne auch die durch westliche Medien verbreitete Kritik an der Minenverlegung im Grenzgebiet nicht mitbekommen. Das Landgericht Schwerin sprach den Beschuldigten im September 2000 vom Vorwurf der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung frei. Er habe sich 1962 die möglichen Folgen der Minenverlegung nicht bewusst gemacht. „Das war ihm unter Berücksichtigung der zeitlichen Einordnung seines Handelns in das Jahr 1962, seines damaligen Lebens- und Berufskreises und seines gesellschaftlichen Umfeldes nicht möglich und deshalb nicht zuzumuten.“


Biografie von Bernhard Simon, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/118-bernhard-simon/, Letzter Zugriff: 28.03.2024