Rudolf Claus Pietschmann stammte aus dem im nördlichen Böhmen gelegenen Schluckenau, dass heute Šluknov heißt und zur Tschechischen Republik gehört. Sein Vater war im Verlauf des Zweiten Weltkriegs in britische Kriegsgefangenschaft geraten. Deswegen siedelten Rudolf und seine Mutter zunächst nach Mecklenburg um. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Vater aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und hat als gelernter Dessinateur in einer kleinen Weberei in Kahlenberg in Thüringen eine Anstellung als Weber gefunden.
Daraufhin zogen auch Rudolf Pietschmann und seine Mutter nach Kahlenberg. Obwohl sie gelernte Stenotypistin war, fand seine Mutter im selben Betrieb wie sein Vater eine Anstellung als Spulerin. Die Familie hatte damit eine neue Heimat gefunden. Rudolf trat am 4. September 1952 in die Grundschule im Ort Schönau an der Hörsel, der direkt an Kahlenberg angrenzt, ein.
Dort begann Rudolf eine vorbildliche Schulkarriere. Schon in der Grundschule wurde er „mehrmals mit Büchern sowie mit dem Abzeichen »Für gute Arbeit in der Schule« ausgezeichnet;“ wie er später im Lebenslauf für seine Bewerbung an der Friedrich-Schiller-Universitär Jena angab. Seit 1956, also ab der vierten Klasse, gehörte er zu den Pionieren, mit 14 Jahren wurde er Mitglied der FDJ. Die Familie hatte in dieser Zeit Verbindungen in die Bundesrepublik. Im Jahr 1954 war Rudolf zweimal dort zu Besuch gewesen: zu Ostern in Köln und im August in Göppingen in Baden-Württemberg. Wen die Familie dort besucht hat, ist nicht überliefert.
Seine guten Leitungen in der Grundschule führten dazu, dass er ab 1960 die Ernst-Abbe-Oberschule in Eisenach besuchen und dort die Reifeprüfung, äquivalent zum Abitur, anstreben durfte. Er war dort, gegen seine Interessen, in den sogenannten „A-Zweig“ eingetreten, der eine sprachliche Vertiefung vorsah. Rudolf hatte nämlich mehr und mehr sein Talent zur Mathematik entdeckt und entwickelt, sodass er bereits ab 1961 die Leitung eines Förderzirkels für Mathematik an seiner Schule übernommen hatte. Im Jahr 1962 nahm er an der Kreis-Mathematikolympiade teil und belegte dort den 3. Platz. Deshalb hatte er sich zusätzliche Mathematiklehrbücher besorgt, um keinen Rückstand zu den Schülerinnen und Schülern des „B-Zweiges“ aufkommen zu lassen, die im Gegensatz zu ihm einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt in ihren Oberschulklassen durchliefen.
Zudem war er sportlich aktiv. Zum einen als Handballer in der BSG „Motor“ Eisenach, andererseits erwarb er das Sportabzeichen in Silber und war FDJ-Sportfunktionär an seiner Schule. Er erhielt von seiner Oberschule eine ausgezeichnete Beurteilung, die ihm zu einem Studienplatz der Mathematik an der Uni Jena verhelfen sollte.
In der Beurteilung wurden nicht nur seine Eltern erwähnt, die ihm als Arbeiterkind „ungestörte häusliche Verhältnisse“ boten. Er selbst war über Jahre Klassenbester in den naturwissenschaftlichen Fächern, aber „Fleiß, Exaktheit und Arbeitsfreude verteilten sich gleichmäßig auf alle Fächer.“ Er „half im Kollektiv, unterstützte individuell schwächere Schüler und leitet seit Jahren vorbildlich den Mathematikzirkel.“ Auf seine Klasse habe er einen positiven Einfluss ausgeübt. Abgesehen davon beteiligte er sich „bereitwillig“ an allen gesellschaftlichen Einsätzen, wie zum Beispiel Ernteeinsätzen in den Ferien, und übte in seiner Heimatgemeinde das Amt des Luftschutzmelders aus.
Sie wohnten während ihrer Studienzeit in Jena im gleichen Studentenwohnheim. Über den Einfluss, den sie gegenseitig aufeinander ausübten, kann nur spekuliert werden, aber Pietschmann wurde plötzlich ganz anders wahrgenommen. In einer Beurteilung durch die Universität Jena, die nach seinem Verschwinden von der Kriminalpolizei Jena angefordert worden war, findet man den vorbildlichen und mathematisch brillanten jungen Mann aus der Oberschule nicht mehr wieder:
Pietschmann habe zu den „fachlich mittelmäßigen“ Studenten gehört. Seine Arbeitsweise sei „unstetig“, wobei er bei Interesse durchaus in der Lage gewesen sei, seinen Fleiß und seine Arbeitsintensität zu steigern und seine Leistungen merklich zu verbessern. „Derartige Perioden waren aber relativ selten.“ Auch als Freiwilliger oder Funktionär trat er kaum noch in Erscheinung: „An Versammlungen seiner FDJ-Gruppe nahm er nur sehr selten teil.“ In politischen Diskussionen habe er einen „farblosen Eindruck“ gemacht, wenngleich er auch nie „provokatorisch“ aufgetreten sei.
Bei seinen Kommilitonen machte sich auf anderen Gebieten verdient, nämlich sportlich und kulturell. Hier organisierte er Veranstaltungen, die nicht näher beschrieben wurden. Sein Ansehen steigerte sich durch zahlreiche ausländische Brieffreundschaften, die er unterhielt, unter anderem nach Hawaii und Ungarn.
Gemeinsam mit seinem Freund Frank Lowes nahm er 1966 in den Semesterferien an einem Ernteeinsatz teil, der an der mecklenburgischen Ostseeküste in Harkensee stattfand. Während dieses Einsatzes fiel Pietschmann politisch negativ auf, denn er „bezweifelte die Rechtmäßigkeit des Kampfes des vietnamesischen Volkes und begründete sein Desinteresse an den Vorgängen damit, daß [sic!] Vietnam sehr weit entfernt sei und ohnehin keine ausreichenden Informationen zur Verfügung ständen.“
Am Abend des 30. September gingen Pietschmann und Lowes dann gemeinsam in die Gaststätte in Harkensee, das nur etwa zwei Kilometer vom Ostseestrand entfernt ist. Es liegt relativ weit im Westen der DDR in der Nähe der Lübecker Bucht, durch die viele DDR-Bürgerinnen und Bürger versucht haben, in die Freiheit zu schwimmen. Es ist unklar, ob ihr Entschluss spontan war, aber die beiden kehrten am 30. September 1966 nicht mehr aus der Gaststätte zurück, sondern begaben sich an den Ostseestrand. Um den zu erreichen, mussten sie unter einer Drahtsperre hindurchkriechen, was ihnen auch gelang. Am Strand angekommen, legten sie in den Dünen ihre Kleidung ab und schwammen los.
Seitdem ist Rudolf Claus Pietschmann verschwunden. Die letzte Spur die die beiden gemeinsam hinterlassen haben sind ihre Kleidungsstücke, die eine Grenzstreife am folgenden Tag, dem 1. Oktober 1966 gefunden hatte. Die Leiche von Frank Lowes wurde am 3. November am Strand der Gemeinde Schashagen in Schleswig-Holstein geborgen.