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Biografisches Handbuch

Jürgen Gottschalk

geboren am 11. Februar 1944 in Chemnitz | tot geborgen am 5. September 1969 in Warnemünde | Ort des Vorfalls: Ostsee
Jürgen Gottschalk versuchte zweimal vergeblich, über die Ostsee aus der DDR zu fliehen. Der erste Vorstoß wurde durch eine Festnahme unterbunden. Jahre später wagte er es erneut und kam dabei ums Leben.

Jürgen Gottschalk wurde am 11. Februar 1944 in Chemnitz geboren. Sein Vater war von Beruf Universalfräser und seine Mutter war als Gemeindeschwester tätig. Bis zu seiner Volljährigkeit lebte er gemeinsam mit seinen Geschwistern bei den Eltern. Nach Besuch der Grund- und Oberschule machte er eine Lehre zum Betonbauer. Seine Berufsausbildung war mit dem Erlangen der Hochschulreife verbunden, sodass er 1962 neben der Facharbeiterprüfung auch das Abitur absolvierte und beides mit der Note „gut“ abschloss. Am 1. April 1964 wurde er für die Nationale Volksarmee gemustert, sein Wehrdienst jedoch vorerst zurückgestellt, da er im gleichen Sommer einen Studienplatz an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee für „Formgebung der Industrie“ erhielt. Er zog nach Berlin, bezog ein Stipendium von 192 Mark und wohnte von seinem Studienort etwa 20 Gehminuten entfernt in der Streustraße.

Jürgen Gottschalk war kein besonders guter Student. Die ersten beiden Studienjahre bestritt er mit durchschnittlichen Ergebnissen. Im dritten Studienjahr sanken seine Leistungen jedoch derart rapide ab, dass seitens der Hochschule eine Intervention in Erwägung gezogen wurde: Gedacht war hierbei an eine Exmatrikulation oder zumindest eine Unterbrechung des Studiums. Der Misserfolg Jürgen Gottschalks wurde nicht auf sein fehlendes künstlerisches Potenzial zurückgeführt, sondern ihm mangelte es laut Akte wohl an Ehrgeiz und Zielstrebigkeit. Am meisten wurde sein soziales Verhalten kritisiert: Er bemühte sich nicht darum, über die reine Studienzeit hinaus mit seinen Kommilitonen Kontakte zu halten und zu pflegen, hatte keine Mitgliedschaft in der SED oder anderen der Partei untergeordneten gesellschaftlichen Organisationen und lehnte die Lehren des Marxismus-Leninismus ab, was als ursächlich für seine passive Einstellung zur DDR gewertet wurde. Unter seinen Studienkameraden äußerte er wohl oft, dass er davon träumte, die Welt kennenzulernen und schwärmte von Frankreich und Kanada. Dieses offenkundige Interesse für die fernen Länder war es vermutlich, was seinen Studienkollegen J. dazu veranlasste, Jürgen Gottschalk anzusprechen und ihm seinen Fluchtgedanken zu offenbaren.

J. studierte seit 1961 in Weißensee das Fach „Formgebung der Industrie“ und stach im Gegensatz zu Gottschalk durch hervorragende Leistungen heraus und hatte gute Aussichten, direkt nach seinem Diplom beim VEB Autowerk Eisenach zu arbeiten. Einzig in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern waren seine Leistungen mittelmäßig und wurden mit der Zeit immer schlechter, was seine Zulassung zur Diplomprüfung gefährdete. Im November 1964 besuchte J. seinen ehemaligen Abendschulkameraden Z., der beim funktechnischen Kommando der NVA in Neubrandenburg war. Z. gefiel es nicht bei der NVA und er versuchte durch seine Tätigkeit, Kontakte zu Personen aus dem Ausland aufzubauen, welche ihm helfen könnten, aus der DDR zu fliehen. J. und Z. hatten von einem gemeinsamen Bekannten Post aus dem Westen erhalten. Diesem war es gelungen, mit dem Boot über die Ostsee nach Dänemark zu kommen. Jetzt lebte er in Westberlin und studierte an der Freien Universität. Die beiden jungen Männer kamen überein, dass sie gemeinsam auch über den Seeweg fliehen wollten und verabredeten, sich um Weihnachten in Berlin zu treffen, um ihr Vorhaben genauer zu planen. Dieses Treffen fiel aufgrund einer Reise von Z. aus.

Im Januar 1965 äußerte J. in einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden Jürgen Gottschalk gegenüber seine Absicht der Flucht aus der DDR. Gottschalk war diesem Gedanken offenbar nicht abgeneigt, denn daraufhin trafen sich die beiden Studenten bei Gottschalk in der Wohnung und besprachen Möglichkeiten, wie sie das Land verlassen könnten. Zunächst schien ihnen die Idee attraktiv, eine Urlaubsreise nach Polen oder Bulgarien als Vorwand zu nutzen, um von dort aus dann die Grenze zu überwinden. Im Februar erkundigten sie sich im Reisebüro nach Reisen nach Bulgarien, doch diese waren für das Jahr schon alle vergeben. Sie kamen überein, gemeinsam mit Z. mit einem Paddelboot über die Ostsee nach Dänemark zu fliehen. J. unterrichtete Z. bei einem Besuch in Neubrandenburg von der Beteiligung Gottschalks und die beiden ehemaligen Abendschulkameraden beschlossen, dass Gottschalk und J. sich ein Zweisitzer-Paddelboot, Z. sich einen Einsitzer besorgen sollten und sie im August dann die Flucht begehen wollten.

Im März 1965 trafen sie sich zu dritt in Berlin, damit sich Gottschalk und Z. persönlich kennenlernen konnten und konzipierten ihr Fluchtvorhaben genauer. Z. äußerte, dass er von den eisernen Rationen, die er bei Manöverübungen bekam, etwas aufheben werde, damit sie genügend Proviant hätten. Von J. und Gottschalk wollte er, dass sie außer den Booten auch noch Taucherbrillen, Schwimmflossen und Spritzdecken besorgen sollten und die Paddel einen schwarzen Anstrich benötigten, damit sie im Dunkeln nicht auffallen würden.

In der Folgezeit besorgten Gottschalk und J. die erforderliche Ausrüstung und mieteten im südlichen Köpenick eine Bootsstelle in Karolinenhof, einer Ortschaft am Langen See, der neben dem Seddinsee, dem Zeuthener See und weiteren Gewässern zur dort gelegenen Seenlandschaft gehört. Die beiden trainierten regelmäßig in den unterschiedlichen von der Bootsstelle aus erreichbaren Gewässern und übten sich auch in Kentermanövern, um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Sie fühlten sich startbereit.

Im April 1965 besuchten sie Z. in Neubrandenburg, damit sie sich über den jeweiligen Fortschritt der Planung austauschen konnten. Z. hatte bereits Zeltplätze für den Zeitraum 15. Juli – 15. August reserviert, musste aber noch einmal umdisponieren, da er nicht berücksichtigt hatte, dass an der Kunsthochschule Weißensee die Ferien erst später begannen. Die neue Reservierung war nun vom 8. August bis zum 5. September 1965.

Am 16. Juni kam Z. überraschend nach Berlin. Er hatte kurzfristig bis zum 23. Juni Urlaub bekommen, weil sein Großvater gestorben war. Er schlug vor, dies als Möglichkeit zu nutzen, die Flucht früher durchzuführen. Nun zu dritt und mit zwei Booten machten sie eine Testfahrt in Karolinenhof, bei der sich herausstellte, dass Z. mit seinem Einsitzer-Paddelboot nicht zurechtkam. Kurzerhand beschlossen sie, den Zweisitzer zu einem Dreisitzer umzurüsten. Sie besorgten ein Auto, mit dem sie das Zweisitzer-Boot und den einzelnen Sitz in Gottschalks Wohnung schafften und es umrüsteten. Gottschalk besorgte noch fünf Luftmatratzen, um dem Boot mit dem nun aufkommenden Mehrgewicht mehr Auftrieb zu verschaffen. Sie probierten in Karolinenhof das umgebaute Boot aus und fanden, dass die Variante zu dritt funktionieren würde.

Am 19. Juni fuhren sie mit dem Leihwagen und der Ausrüstung nach Norden. Die Ausrüstung stellten sie in Rostock in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs ab. Danach fuhren sie nach Graal-Müritz, um eine geeignete Ablegestelle und einen Ort für den unauffälligen Aufbau des Bootes zu suchen. Zurück in Rostock verbrachten sie die Nacht im „Haus der Hochseefischer“ und fuhren am nächsten Abend mit dem Boot und dem weiteren Material nach Graal-Müritz. Das Auto stellten sie in Graal-Müritz ab. Als sie mit der Ausrüstung an den Strand gehen wollten, wurden Gottschalk und J. von Grenzsicherungstruppen noch vor dem Strand im Wurzelweg gestellt und festgenommen. Z. gelang es vorerst, zu fliehen, doch auch er wurde später festgenommen.

Wegen Verstoßes gegen die Passverordnung wurden die beiden Berliner Studenten im Oktober 1965 zu Gefängnisstrafen verurteilt. J. bekam 22 Monate, Gottschalk 20 Monate Haftzeit auferlegt. Wie es nach der Verhaftung für Z. weiterging, ist in den Akten nicht überliefert.

Jürgen Gottschalk verbüßte seine Haftstrafe in der Strafvollzugsanstalt Berlin Rummelsburg. Hier war er beim Haftarbeitskommando aufgrund seiner Qualifikation im Entwurfsbüro als Zeichner eingesetzt worden. Seine Strafgefangenenarbeit schien ihm von der Profession her keine unangenehme Pflicht gewesen zu sein. Seinem Führungsbericht lässt sich entnehmen, dass seine fachliche Arbeit sehr gut gewesen sein muss und er gewissenhaft arbeitete, was dazu führte, dass er auch zu Sonderaufträgen herangezogen wurde und seine Ideen dort umsetzen konnte. Er qualifizierte sich fachlich zum Teilkonstrukteur weiter und konnte selbständig an kleineren Objekten arbeiteten. Überdies nahm er an den kulturellen und sportlichen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung teil und las viel. Doch diese vielversprechende Beurteilung steht im Kontrast zu seiner fortbestehenden Haltung gegenüber der DDR, die er nicht verbarg. Er brachte offen zum Ausdruck, dass seine Haftstrafe Unrecht sei und Westdeutschland seiner Vorstellung einer freiheitlichen Demokratie entspräche, weswegen er nur dort eine neue Heimat finden könne. Dieses Auftreten führte immer wieder zu Konflikten zwischen ihm und dem Wachpersonal, weshalb er des Öfteren wegen undisziplinierten Verhaltens zur Rechenschaft gezogen wurde und ihm in einem Fall zehn Tage Arrest auferlegt wurden.

Sein Ansinnen, in die Bundesrepublik zu ziehen, hatte Jürgen Gottschalk nicht aufgegeben, wie sich einem Schreiben an das Ministerium des Innern entnehmen lässt. Am 9. November 1966, nach etwas mehr als einem Jahr Haft in Rummelsburg, beantragte er auf offiziellem Wege die Genehmigung seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland nach seiner voraussichtlichen Haftentlassung im Februar 1967. Diesen Antrag begründete er mit einer Äußerung seitens der Staatsanwaltschaft während der Gerichtsverhandlungen im Oktober 1965, dass Gottschalk sich um legale Möglichkeiten der Aussiedlung gar nicht bemüht hatte, was er aber nun versuchen wollte. Er beanstandete die Alleinherrschaft einer Partei, die Andersdenkende ausschließe und deren Regierung Gesetze und Maßnahmen erlassen habe, die er für undemokratisch und der Verfassung widersprechend hielte. Seine ablehnende Haltung gegenüber der DDR wurde durch die Erfahrungen seiner bisherigen Haftzeit verstärkt und gefestigt. Für ihn gab es keine Möglichkeit, sich so zu arrangieren, dass er sein Leben sinnvoll führen könnte, da er den Strafvollzug und seine der Gesellschaftsordnung entgegenstehende Meinung als ein Stigma einschätze, das ihm die Türen zu einer ihm wunschgemäßen Lebensfortführung versperrte. Für ihn war ein Bleiben in der DDR ausgeschlossen und er wollte nicht ein zweites Mal illegale Bemühungen zum Erreichen seines Ziels anstellen müssen. Zusätzlich zu diesen persönlichen Begründungen verwies er noch auf die Artikel 8 und 10 der Verfassung der DDR, die die freie Wahl des Wohnsitzes und das Recht der Auswanderung gewährleisteten.

Zur Kenntnisnahme gab er der Gefängnisleitung eine Durchschrift dieses Antrags, welche ihm jedoch eröffnete, dass sein Schreiben den Empfänger wohl nicht erreichen werde, da er als Strafgefangener nicht das Recht hätte, auf diese Weise seine persönlichen Angelegenheiten für die Zukunft wahrzunehmen. Dennoch würde eine Abschrift des Antrags an die zuständige Staatsanwältin weitergeleitet. Auf seinen Antrag erhielt Gottschalk weder vom Ministerium noch von der Staatsanwältin eine Antwort. Knapp einen Monat vor seiner bevorstehenden Entlassung am 18. Februar 1967 schrieb er erneut einen Brief. Adressatin war die zuständige Staatsanwältin, die er am 5. Januar um Unterstützung seines Antrags auf Übersiedlung bat und dabei auch ankündigte, dass er sich nach der Entlassung nicht um eine Arbeitsaufnahme kümmern würde, da er nichts tun werde, was auf einen längeren Aufenthalt in der DDR hinzielen könnte. Dieses Schriftstück bewirkte jedoch nicht, was Gottschalk sich erhoffte. Handschriftlichen Notizen auf dem Brief ist zu entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft seine Ankündigungen als Drohung interpretierte, diese Informationen an das Ministerium des Inneren weitergab und im Falle der tatsächlich ausbleibenden Arbeitsaufnahme nach Entlassung die Einleitung „entsprechender Maßnahmen“ verfügte. Er sollte überwacht werden. Seiner Kartei der Strafvollzugsanstalt sind Meldungen eines Vertraulichen Informanten (VI) zu entnehmen. Am 3. Januar 1967, also schon vor dem Brief an die Staatsanwältin, äußerte sich Gottschalk gegenüber dem VI, „dass er nächstes Weihnachten im Westen verleben will“ und einen Antrag auf Ausweisung gestellt habe. Sollte sein Gesuch abgelehnt werden, wolle er sofort zum Rechtsanwalt Vogel gehen. Weiterhin hätte Gottschalks Mutter von einem ehemaligen Strafgefangenen Post erhalten, der versicherte, Wege zu finden, ihn nach Westdeutschland zu holen. Drei Wochen später, am 25. Januar meldete der VI, dass Gottschalks Eltern wohl ständig Post von ehemaligen Strafgefangenen erhielten, die nach Westdeutschland ausgewiesen wurden und Gottschalk hoffe darauf, dass diese Leute ihn ausschleusen könnten. Falls dies nicht möglich gemacht werden könne, dann wollte er jede Gelegenheit wahrnehmen, um auch gewaltsam über die Staatsgrenze zu kommen.

Nach seiner Entlassung am 13. Februar 1967 wohnte Gottschalk in Karl-Marx-Stadt. Seine erhoffte Genehmigung zur Aussiedlung hatte er nicht erhalten. Ende Mai beantragte er eine Reise in die damalige ČSSR, woraufhin er am 2. Juni 1967 zum Volkspolizeikreisamt geladen wurde. Hier erfuhr er, dass er aufgrund seines Vergehens gegen die Passverordnung derzeit nicht in das „sozialistische Ausland“ reisen dürfe. Auf die Nachfrage hin, wann er denn wieder reisen dürfe, wurde ihm lediglich geantwortet, dass es ja an ihm läge. Mit diesem Reiseverbot und der Unklarheit über dessen Andauern wollte er sich nicht zufriedengeben. Ob aus Frustration oder tatsächlich aufgrund des Glaubens an die Gesetze, schrieb er am 30. August erneut einen Brief an die Staatsanwaltschaft. Diesmal wies er darauf hin, dass er aus seinem Rechtspflegeerlass und aus anderen Gesetzen wisse, dass er nach dem Abbüßen seiner Strafe nicht mehr benachteiligt werden dürfe, die vollen Bürgerrechte besitze und dem Gesetz nach ein gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft sei. Zudem wurde ihm seinerzeit bei seiner Verurteilung kein Reiseverbot ausgesprochen. Dennoch wurde entgegen dieser Regelung in seinem Fall anders entschieden und er sähe nicht ein, dass seiner gerichtlich festgelegten Strafe nun eine weitere folgte, die nicht gesetzlich fundiert erklärbar war. Er bat um Antwort und Erklärung. Wie diese Antwort sich gestaltete, ist unbekannt. Doch vermutlich war sie nicht zufriedenstellend.

Im September 1969 wagte er einen neuen Versuch, die DDR über die Ostsee zu verlassen. Diesmal alleine und lediglich in Taucherausrüstung gelang es dem nunmehr 25-Jährigen, an den Wachposten in Warnemünde vorbeizukommen und zum Fährschiff zu schwimmen, welches das dänische Gedser zum Ziel hatte. Mit einem Seil hing er sich an das Schiff, um sich ziehen zu lassen. Hierbei scheint er ertrunken zu sein. Am 5. September 1969 fand man seine Leiche vor Warnemünde in der Ostsee.


Biografie von Jürgen Gottschalk, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/juergen-gottschalk/, Letzter Zugriff: 27.04.2024