Am 22. Juni 1963 erblickte Jürgen Bernhardt als zweites Kind von Christa Bernhardt, geborene Rasch, und Siegbert Bernhardt in Lauta (Oberlausitz) das Licht der Welt. Seine Schwester Annerose war 15 Monate älter. Aufgrund ihres geringen Altersunterschiedes hatten die Geschwister ein sehr enges Verhältnis. Im Juli 1965 wurde die Ehe der Eltern rechtskräftig geschieden. Bereits zuvor war Christa Bernhardt mit den beiden Kindern nach Peickwitz-Flur (etwa 10 km von Lauta entfernt) zur Großmutter der Kinder gezogen. Später konnten sie eine Betriebswohnung des nahen Glaswerks Hosena in der Hüttenstraße 2 beziehen. Christa Bernhardt arbeitete dort im Schichtdienst. Zu seinem Vater, der weiterhin in Lauta lebte, hatte Jürgen Bernhardt nach der Trennung seiner Eltern keinen Kontakt mehr.
Anfangs brachte Christa Bernhardt den kleinen Jürgen in die Wochenkrippe in Ruhland. Dort erhielten vorrangig alleinerziehende Mütter, Studierende oder im Schichtsystem arbeitende Eltern für ihre Kinder im Alter zwischen sechs Wochen und drei Jahren einen Betreuungsplatz. Danach besuchte Jürgen Bernhardt den Kindergarten in Peickwitz-Flur. Im November 1974 heiratete seine Mutter ein zweites Mal. Jürgen Bernhardt beendete 1980 seine Schulzeit an der Polytechnischen Oberschule (POS) Hosena, der heutigen Linden-Grundschule. Nach einer zweijährigen Lehre bei der Deutschen Reichsbahn hatte er sich zu drei Jahren Militärdienst an der Grenze verpflichtet. Er kam von Oktober 1982 bis Oktober 1985 im Grenzregiment Berlin-Blankenfelde zum Einsatz.
Die Familie bezog im März 1986 in Hosena eine Wohnung im Nachbarhaus in der Hüttenstraße 1. Jürgen Bernhardt hatte einen großen Bekannten- und Freundeskreis. Er war zielstrebig, ein leidenschaftlicher Schachspieler und interessierte sich für Autos und Motorräder. Diese Leidenschaft machte er zu seinem Beruf und arbeitete als ungelernter Motorradmechaniker bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) „Gute Fahrt“ in Hoyerswerda. Später war er als Heizer im Glassandwerk Hosena und 1989 auf einem Geflügelhof im nahe gelegenen Schwarzheide beschäftigt.
Am Jahresende 1986 lernte Jürgen Bernhardt die 1969 geborene Daniela P. kennen. Die beiden heirateten am 31. Dezember 1987 in Senftenberg. Im folgenden März kam ihre gemeinsame Tochter Pia Janin zur Welt. Im Juli 1988 zog die kleine Familie in den nahe gelegenen Ort Schipkau.
Die Ehe verlief jedoch nicht glücklich, ein erster Scheidungstermin vor dem Kreisgericht Senftenberg im Sommer 1989 wurde vertagt, da Jürgen Bernhardt das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter beanspruchte. Zu einem weiteren Termin kam es nicht mehr. Am 11. September 1989 trafen sich Jürgen Bernhardt und seine Schwester Annerose in Senftenberg. Sie erzählte ihm, dass in der Nacht zuvor Ungarn seine Grenze geöffnet hatte. Jürgen Bernhardt hatte davon noch nichts gehört und begleitete seine Schwester nach Hause, wo sie gemeinsam die Berichterstattung im Westfernsehen anschauten. Als er sah, dass zahlreiche DDR-Bürger über Ungarn die Grenze Richtung Westen überquerten, sagte er zu seiner Schwester: „Kleene, ich mach auch los“. Einige seiner Freunde und Bekannten waren bereits geflüchtet und er wollte es ihnen gleichtun. Seine familiären Probleme trugen das übrige dazu bei.
Er machte sich auf den Weg zum Bahnhof, um sich nach dem Touristen-Express („Tourex“) zu erkundigen. Dieser im Auftrag des staatlichen Reisebüros der DDR eingesetzte Schlafwagenzug verkehrte einmal pro Woche zwischen Dresden und Varna an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Am darauffolgenden Morgen kam Jürgen Bernhardt noch einmal bei seiner Schwester vorbei. Er fragte sie, ob sie nicht mit ihm kommen wolle. Doch weil sie Kind und Mutter nicht im Stich lassen würde, kam für sie ein solcher Schritt nicht in Frage. Sie bat ihn inständig, doch besser nicht zu gehen. Er brauche sich auch keiner Botschaftsbesetzung anzuschließen, man würde die DDR-Bürger sowieso nicht rauslassen. Doch er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abhalten. „Kleene, ich melde mich erst, wenn ich es geschafft habe“, waren seine letzten Worte, bevor er sich auf den Weg machte, um Geld für die Reise zu tauschen.
Wie genau diese Reise ablief und was in seinen letzten Tagen und Stunden passierte, ist nicht bekannt, auch nicht, ob er allein unterwegs war oder in Begleitung. Sicher ist nur, dass Jürgen Bernhardt nach dem 12. September 1989 in die ČSSR reiste und da er kein Visum hatte, von dort, über die Donau nach Ungarn zu schwimmen versuchte. Bei der ungarischen Gemeinde Pilismarot im Kreis Esztergom wurde am 19. September seine Leiche gefunden. Noch am selben Tag führte Dr. Mihaly Stattler, Polizeiarzt und Major beim ungarischen Innenministerium, die Obduktion durch. Auf Bernhardts Sterbeurkunde ist als Todeszeitpunkt der 16. September 1989 eingetragen und als Todesursache Tod durch Ertrinken. Seine Schwester erinnert sich, dass ihr Bruder kein guter Schwimmer war. Doch auch für geübte Schwimmer war ein Durchschwimmen der Donau schwer zu bewältigen. Mit ihren teils starken Strömungen, Untiefen und Strudeln, mit Treibholz, das Schwimmer verletzen oder unter Wasser drücken kann, ist der Fluss unberechenbar.
Die Nachricht vom Tod Jürgen Bernhardts kam am 20. September 1989 von den ungarischen Behörden über die Auslandsvertretung der DDR in Budapest zum Rat des Kreises Senftenberg. Bereits am folgenden Tag wurde die Leiche eingeäschert.
Nach seiner Abreise wartete seine Schwester Annerose jeden Tag auf ein Lebenszeichen von ihrem Bruder. Da sie zu Hause keinen Telefonanschluss hatte, hoffte sie darauf, dass ihr Bruder versuchen würde, sie auf ihrer Arbeitsstelle im Kosmetiksalon zu erreichen. Dort läutete häufig das Telefon, weil Kundinnen zu Terminabsprachen anriefen. Bei jedem Klingeln des Telefons hoffte sie auf den Anruf ihres Bruders, doch der blieb aus. Dann endlich, am 21. September, erhielt sie persönlich einen Anruf, allerdings nicht von ihrem Bruder, sondern aus dem Büro der Vorsitzenden der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) mit der Aufforderung, sich dort einzufinden. In der Dienststelle erwarteten sie zwei Vertreter der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises Senftenberg, die sie zunächst nach dem Verbleib ihres Bruders fragten, um ihr eine mögliche Mitwisserschaft zu entlocken. Erst im Anschluss daran teilten sie ihr seinen Tod mit. Zur selben Zeit wurde Bernhardts Mutter während ihrer Arbeit am Fließband im Glaswerk Hosena aufgesucht und ebenfalls über seinen Tod informiert.
Daniela Bernhardt, die ihren Mann bei der Scheidungsverhandlung vor dem Kreisgericht Senftenberg das letzte Mal gesehen hatte, erfuhr erst am 23. September 1989 durch eine Vorladung in die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises Senftenberg vom Tod ihres Mannes. Sie erinnerte sich im Mai 2019 im Gespräch mit Stefan Appelius, dass in Hosena der Tod ihres Mannes rasch publik war. „Der ist doch in der Donau ertrunken“, habe es einerseits geheißen. Andere Hosenaer vermuteten wiederum, dass er erschossen worden sei.
Die ungarischen Behörden ließen die Urne mit den sterblichen Überresten von Jürgen Bernhardt in die DDR überführen. Das Budapester Beerdigungsinstitut stellte eine Transportgebühr von 25.327 Forint in Rechnung. Am 1. Dezember 1989 fand auf dem Waldfriedhof in Senftenberg die Beisetzung Jürgen Bernhardts statt. Seine Familie hatte erst zwei Tage zuvor den Bestattungstermin erfahren. Das Kreisgericht Senftenberg lud zum 20. Dezember 1989 Daniela Bernhardt nochmals zu einem Gespräch vor. Eine Akte, die auf dem Tisch lag, enthielt Fotos der Leiche, welche die Witwe von Ferne, quer über den Tisch, sehen konnte. Ihr Mann habe „ganz friedlich ausgesehen, wie schlafend“. Zudem wurden ihr die persönlichen Sachen, die ihr Mann bei sich getragen hatte, übergeben. Der Todesfall sei dann wie ein Badeunfall behandelt worden. Sowohl die Lebensversicherung als auch die Unfallversicherung wurden bewilligt und ausgezahlt.
Annerose Bernhardt und ihre Mutter sind nie über den Verlust ihres Bruders und Sohnes hinweggekommen. Beide haben sich von der Außenwelt abgekapselt, getrauert und gesundheitliche Folgen davongetragen. Im Jahre 2010, nachdem ein Mitarbeiter der Brandenburger Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur eine Bürgersprechstunde in Senftenberg abhielt, hat Annerose Bernhardt beim Standesamt I in Berlin die Todesurkunde ihres Bruders angefragt.
Der Waldfriedhof in Senftenberg, auf dem sich Jürgen Bernhardts Grab befindet, lag zum Zeitpunkt seiner Beerdigung an einem kleinen Wäldchen. Nach dem Ende der DDR wurde dieses Wäldchen abgeholzt. Nun steht dort eine Tankstelle. „Das hätte ihm gefallen“, sagt seine Schwester. Sein „Motorenherz“ hätte wohl auch höhergeschlagen, als nur einige Kilometer entfernt im Jahre 2000 der Lausitzring als Grand-Prix-Kurs, Speedway und Teststrecke eröffnet worden ist.