Günter Siewert entstammte einer Rügener Familie aus Lohme und lebte dort bis zu seinem Verschwinden. Er wurde am 4. Oktober 1961 im Krankenhaus in Bergen zur Welt gebracht und lebte daraufhin im großen Haus seiner Familie mit seinen Eltern und Geschwistern. Über seine Kindheit und Jugend ist kaum etwas in den Quellen überliefert.
Er besuchte in Lohme die Polytechnische Oberschule und erlernte den Beruf des Eisenbahnfacharbeiters, arbeitete aber zunächst in der Fischräucherei Lohme. Nach seinem Wehrdienst nahm er beim Bau- und Montagekombinat in Saßnitz eine Beschäftigung auf und beteiligte sich dort am Bau der Hafenmole.
Siewert pflegte anscheinend einen recht unsteten Umgang mit Frauen. Zu seiner geschiedenen Ehefrau hatte er keinen Kontakt mehr, obwohl er mit dieser sogar eine Tochter hatte. Diese hat er nur einmal nach ihrer Geburt gesehen. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens hatte er eine Freundin, die ebenfalls in Lohme aufgewachsen war und nun in Saßnitz wohnte. Sie war aber nicht die Frau, die Günter Siewert zum letzten Mal sehen sollte.
Etwa eine Woche vor seinem Verschwinden am 23. September 1988 hat Günter Siewert eine Urlauberin am Strand angesprochen. Sie gingen daraufhin häufig abends zusammen aus und verbrachten auch Abende bei Siewert zu Hause. Dennoch war sie nur selten von dessen Familie gesehen worden und für diese im Prinzip unbekannt, weshalb sie nach Siewerts Verschwinden auch in Verdacht geriet. Sie war zwar keine Rüganerin, aber sie hing sehr an Lohme, wie sie später in Briefen an Siewerts Mutter schrieb. Sie war schockiert, von Günters Verschwinden so kurz nach ihrer Romanze mit ihm zu erfahren, sie habe eine sehr schöne Zeit mit Günter gehabt.
Die Volkspolizei war nicht in der Lage gewesen, die Frau ausfindig zu machen, was Günter Siewerts Mutter sehr verärgerte. Die Familie hatte generell den Eindruck, dass die Volkspolizei ihnen kein Verständnis einräumte und nicht richtig ermittelte. Diese erbrachte nämlich keinerlei Anhaltspunkte zu seinem Aufenthalt und auch sein Verschwinden konnte letztlich nicht geklärt werden.
Durch die Ermittlungen der Volkspolizei wurde klar, dass Siewert seinen wertvollsten Besitz, seine zwei PKW-Trabant, im Vorfeld seines Verschwindens veräußert hat, sodass er zuletzt über etwa 20.000 Mark verfügte. Dieses Geld ließ er aber unangetastet. Tatsächlich fanden die Ermittler der Volkspolizei bei der Durchsuchung seiner Sachen auch ein am 1. September 1988 aufgesetztes Testament. Darin enterbte er seine Tochter und verfügte, dass seine Mutter sein Bargeld und sein Bruder seinen Sachbesitz erben sollte.
Damit war zumindest klar, dass Günter Siewert sich über seine Abwesenheit in seiner Familie Gedanken gemacht hat. Ob diese Gedanken eher durch das Vorhaben einer Flucht, Suizidgedanken oder aus anderen Gründen entstanden waren, lässt sich heute nicht mehr aufklären. Die Zielstrebigkeit, mit der er seine Habe kurz vor seinem Verschwinden organisiert hat, deutet darauf hin, dass er konkrete Gründe gehabt haben könnte. Ein Suizid erschien jedenfalls sowohl seiner Familie als auch seiner letzten Bekannten völlig ausgeschlossen. Günter Siewert hat sich dem Anschein nach in seiner Familie und mit seinem Leben in Lohme wohlgefühlt.
Dennoch war er einfach so verschwunden. Er war noch am Abend des 22. September mit seiner neuen Bekannten im Café „Niedlich“ am Strand von Lohme gewesen und wurde auch dabei gesehen, wie er mit ihr gemeinsam zum Wohnhaus seiner Familie ging. Am nächsten Morgen wollte seine Schwägerin ihn eigentlich um 05:45 Uhr wecken, aber er war nicht zu Hause. Auf seiner Arbeit wurde Siewert nicht vermisst, weil er am Vortag eine „Verblitzung“ am Arbeitsplatz erlitten hatte. Davon wusste sein Chef, aber nicht seine Familie. Nachdem an diesem Freitag abends dann auch noch seine Freundin aus Saßnitz nach Lohme kam, um sich nach ihm zu erkundigen, schöpfte man in der Familie Verdacht. Siewert hatte eigentlich vorgehabt, sie am Freitag nach seiner Schicht aus Sassnitz nach Lohme mitzunehmen, war aber nicht bei ihr aufgetaucht.
Familie Siewert meldete Günter am 26. September 1988 als vermisst. Die Ermittlungen konnten dem bereits Geschilderten wenig hinzufügen, bis auf eine Liste von fehlenden Gegenständen und Kleidungsstücken: Es stellte sich heraus, dass Siewert eigentlich nichts mitgenommen hatte, außer Papieren und Kleidung. Es war auffällig, dass er seine wichtigsten persönlichen Dokumente eingepackt hatte: Personalausweis, Wehrdienstausweis, Sozialversicherungsbuch, Führerschein und wahrscheinlich auch seine Geburtsurkunde. An Kleidung fehlten unter anderem zwei Paar Schuhe und zwei Hosen – ein Hinweis darauf, dass Siewert wohl damit rechnete, länger nicht wieder nach Hause zu kommen. Oder er hat diese Kleidung einfach verkauft und die Volkspolizei konnte das nicht ermitteln.
Ansonsten war sein Hausrat vollständig, sogar sein Auto stand noch da, mit dem Zündschlüssel im Zündschloss. Er fuhr nämlich nach Absprache mit seinem Bruder seinen Trabant noch, nachdem er ihn bereits an diesen verkauft hatte. Nur eine Sache fehlte: Sein Faltboot mit dem dazugehörigen Paddel. Mit diesem hatte er den Großen Jasmunder Bodden befahren und war vielleicht seinem Traum nachgehangen: Laut seiner Mutter war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, zur See zu fahren. Aber mit parteilosen Eltern, einem Onkel im Westen und seit 1986 in Person seiner Schwester mit deren Mann Antragstellern auf Ausreise in der Familie hatte er dafür schlechte Chancen. Dennoch versuchte er immer wieder durch Bewerbungen irgendwie zur See fahren zu können. Als er im Juni 1988 erfuhr, dass sein Schwager wegen dessen Ausreiseantrags sogar in Haft genommen worden war, war er außer sich und sprach von Gestapo-Methoden.
Günter Siewert bleibt seit dem 23. September 1988 verschwunden. Seine Familie stellte auch nach der Wiedervereinigung weiter intensive Bemühungen an, seinen Verbleib aufzuklären, hatte aber keinen Erfolg. Anfragen der Mutter bei der Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen (Zest), dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes und beim Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen verliefen negativ. Auch die Ermittler der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) konnten keine Klärung herbeiführen. Lediglich sein Verschwinden wurde immer weiter bestätigt.
So bleibt der Kenntnisstand heute folgender: Günter Siewert hat in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1988 das Haus seiner Familie in Lohme verlassen und dabei höchstwahrscheinlich sein Faltboot mit Paddel, einige Kleidungsstücke und seine wichtigsten persönlichen Dokumente mitgenommen. Seitdem fehlt von ihm, wie vom Faltboot, jede Spur. Eine tödlich verlaufene Ostseeflucht liegt nahe, kann aber nicht zweifelsfrei bestätigt werden.