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Biografisches Handbuch

Gerald Gennert

geboren am 31. Januar 1958 in Bernburg | verschollen seit dem 25. September 1980 | Ort des Vorfalls: Ostsee
BildunterschriftGerald Gennert
BildquellePrivatsammlung Gabriele Gennert
Quelle: Privatsammlung Gabriele Gennert
Gerald Gennert versuchte vermutlich am 25. September 1980 gemeinsam mit Detlef Günther mit einem Faltboot von Göhren auf Rügen nach Schweden zu gelangen, um nach Westdeutschland zu kommen. Dieses Vorhaben missglückte. Detlef Günther wurde tot am Strand in Polen aufgefunden, Gerald Gennert bleibt bis heute verschollen.

Gerald Gennert wurde am 31. Januar 1958 in Bernburg, einer Stadt in Sachsen-Anhalt, geboren. Dank der Auskünfte seiner jüngeren Schwester lassen sich viele persönliche Momente seines Lebens berichten, die aus den Akten nicht hervorgegangen wären. Sein Vater beging Republikflucht, erkannte aber zuvor noch die Vaterschaft für den unehelich geborenen Knaben im Juli 1958 an. Seine Eltern waren damals sehr verliebt, doch seine Mutter wollte nicht mit über die Grenze. Sie hatte Angst und mochte ihre Heimat nicht verlassen. Der Kontakt brach damit ab und es gab auch keine anderen Verbindungen nach Westdeutschland in der Familie, die hätten gepflegt werden können. Die Mutter kam aus einer Großfamilie mit neun Geschwistern, die der Idee des Kommunismus zugetan war. Sie blieb in Bernburg und gebar 1959 Gerald Gennerts Schwester, die einen anderen Vater hatte, der aber keinen aktiven Part in der Familie bekleidete. Gennerts Mutter blieb ledig und alleinerziehend, verdiente den Lebensunterhalt für die Kinder und sich als Land- und Hilfsarbeiterin, hatte später eine Laborstelle. Die kleine Familie lebte in (sehr) einfachen und beengten Verhältnissen in einer Zwei-Raum-Wohnung mit Kohleheizung und Außentoilette: Eine kleine Küche von knapp 5 m2, ein Wohnzimmer und ein gemeinsamer kleiner Schlafraum mit zwei Betten, in dem sich Mutter und Tochter ein großes Bett teilten und Gerald ein Einzelbett für sich hatte. Das Wohnumfeld war einfach und gepflegt, doch es fehlte an geistiger Fülle und Ansporn.

Für die beiden Kinder wurde die Schule zum Zentrum und Anker des sozialen Lebens: Hier waren sie tief eingebunden in die dortigen Arbeitsgemeinschaften und aktive Mitglieder der FDJ. Seine Schwester war die sportliche von beiden und machte Geräteturnen. Gerald, bis in die Pubertät eher von schmächtigem Körperbau, war hingegen ein sehr in sich gekehrter, nachdenklicher Junge, der eher dem Wort als der Tat zugetan war. Dies führte während der Kindheit immer wieder dazu, dass die Schwester ihren älteren Bruder vor größeren Jungs verteidigte, weil er sich in Konfliktsituationen nicht selber zur Wehr setzte. Er glänzte eher mit seinen geistigen Fähigkeiten, war erfolgreich als Sprecher für Agitation und Propaganda. Er wurde für eine Rede nach Halle eingeladen und bekam hier das Abzeichen für gutes Wissen in Gold verliehen, eine Auszeichnung der FDJ für Kenntnisse des politischen und gesellschaftlichen Lebens in der DDR und des Marxismus-Leninismus.

Im Sommer 1973 reiste der zu dieser Zeit noch vom Sozialismus überzeugte Jugendliche mit seiner FDJ-Gruppe zu den Weltfestspielen nach Berlin. Hier genoss er das Aufgebot bunter Vielfalt und begegnete Andersdenkenden. Es kam zu einer Wandel seiner politischen Haltung. Gerald hatte seine Gruppe in Berlin für ein Treffen mit anderen verlassen. Was er dort erlebte oder welche Gespräche er führte, ist nicht klar, doch als er nach Bernburg zurückkahm, veränderte er sich: Der Junge, der bis dahin seine Mutter, die abends im Radio Deutschlandfunk wegen der Musik hörte, anmeckerte, weil sich das nicht gehörte, begann, energisch nach seinem Vater zu fragen. Vorher hatte sie diese Fragen der Kinder nie beantwortet, nun ließ er nicht nach und erfuhr, dass sein Vater in Westdeutschland lebte. Gerald wandelte sich sowohl äußerlich als auch innerlich: Er ließ sich die Haare wachsen, legte seine Konformität mit dem sozialistischen Weltbild ab und bekam Probleme in der Schule. Er fing an, alles zu lesen, was er bekommen konnte, und begann alles zu hinterfragen und kritisch zu durchdenken. Da ihm durch sein Umfeld keine Möglichkeit geboten wurde, den Wissensdurst und Drang zum Verstehen zu bedienen, versuchte er, seine Identität über die Literatur zu finden und auszubilden. Sehr stark setzte er sich mit Hermann Hesses Steppenwolf auseinander.

In nächtlichen Gesprächen wurde der introvertierte Junge, der sich nur zögernd anderen öffnete, zum Mentor seiner Schwester. In Diskussionen verdeutlichte er ihr seine Sichtweise und übte mit ihr das kritische Denken ein. Er brachte sie dazu, sich selber zu belesen, zu reflektieren und Dinge zu hinterfragen und bestärkte ihr gegenüber seine Haltung, dass sich alles mit Worten lösen und viel mehr erreichen lasse. Einmal sagte er zu ihr, dass die Deutsche Sprache eine wunderbare Sprache sei, mit der man viel ausdrücken könne.

Nach der Schule wollte Gerald ursprünglich zur Handelsmarine, doch aufgrund seines in der Bundesrepublik lebenden Vaters, den er nicht kannte und zu dem er keinen Kontakt hatte, wurde ihm dieser Wunsch verwehrt. Er bekam eine Stelle im Bergbau bei der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut und lernte in Gera/Ronneburg Hauer. Der einst schmächtige Junge hatte sich durch die körperliche Arbeit zu einem kräftigen Mann entwickelt und überzeugte mit seiner Leistung während der Ausbildung, sodass er diese bereits nach eineinhalb Jahren beenden konnte. In seiner Zeit als Bergmann hatte er einen Unfall und musste klinisch behandelt werden. Dazu erzählte er seiner Familie jedoch wenig.

Als seine Schwester sich auf die Prüfungen in der zehnten Klasse vorbereiten musste, vertraute sie ihm an einem gemeinsamen Abend in einer Kneipe an, dass sie nicht wisse, wie sie den Abschluss hinbekommen solle. Ihr Bruder erinnerte sie an die sie umgebende Propaganda und beruhigte sie mit dem Rat, einfach den Sozialismus zu verherrlichen, dann würde sie schon bestehen. An jenem Abend provozierte ein anderer Gast in der Wirtschaft die Geschwister und drohte auf aggressive Weise. Anstatt auf die Aggressionen einzugehen, redete Gerald lange auf ihn ein und löste nicht nur gewaltfrei den Konflikt, sondern schaffte es auch, die Stimmung wieder derart zu heben, dass sich der Mann beim Abschied bei ihm für den schönen Abend bedankte.

1977 kam es dann zu einem einschneidenden Tiefpunkt: Gerald Gennert muss denunziert worden sein. Er war in Gera in einer Kneipe und wurde überraschend von der Stasi abgeholt und inhaftiert. Wohin genau er gebracht wurde, wusste er nicht, aber er erinnerte sich daran, dass an der Hausfassade Industrie- und Handelskammer stand. Er wurde drei Tage lang dort in einem Keller festgehalten und verhört. Man versuchte, ihn durch körperliche Gewalt zu beugen, folterte ihn mit willkürlichem An- und Ausschalten des Lichts. Nachdem er wieder freikam, wurde er am 9. Januar 1977 aufgrund des Tatbestandes der Körperverletzung zu einer Gelstrafe von 500 Mark verurteilt. Warum dies alles geschah und der Verfechter des Wortes plötzlich ein Mann der Gewalt geworden sein soll, ist nicht überliefert. Doch diese Erfahrung hat ihn derart gebrochen, dass er nervös wurde, keinen Augenkontakt mehr halten konnte und sich noch schwerer anderen gegenüber öffnete. Er warnte seine Schwester inständig, dass sie keinem trauen könne, sie vorsichtig sein müsse und sich nicht öffnen dürfe. Er mahnte sie auch, bei Themen und Diskussionen immer darauf zu achten, mit wem sie gerade Umgang hat.

Gerald hielt weiterhin an der Wortkunst fest, aus der er Trost und Kraft schöpfen konnte. Er wollte in Leipzig Philosophie und Schauspiel studieren und hatte dort auch schon einen Studienplatz zugesichert bekommen. Doch dieser Traum platzte, als er am 3. Mai 1977 zum Grundwehrdienst bei der NVA nach Weißenfels eingezogen wurde. Spätestens hier lernte er seinen späteren Fluchtgefährten Detlef Günther kennen, dessen Einberufung nach Weißenfels zum Termin stattfand.

Nach den ersten Wochen beim Grundwehrdienst hatte Gerald seinen ersten Heimatbesuch und berichtete seiner Schwester, dass es in der NVA schwer auszuhalten sei. Es störte ihn, dass er unter der Befehlsgewalt eines Vorgesetzten war, der seiner Ansicht nach „dumm“ sei und dass man dort zu sinnlosen und demütigenden Handlungen genötigt wurde. Doch er nahm sich vor, durchzuhalten, die Zeit bei der NVA durchzustehen, um dann endlich zu studieren. Ein anderes Mal erzählte er seiner Schwester, dass es leicht gewesen sei, sich unerlaubt von der Kaserne zu entfernen. Er hatte zu dieser Zeit eine Freundin, welche er heimlich besuchte.

In der Armee war er stark dem Visier der Stasi ausgesetzt. Das MfS fertigte Berichte und Beurteilungen zu Gerald Gennert, die mit dem bisherigen Bild des zurückhaltenden und abwartenden Mannes, dessen gewählte Waffe dank seiner Eloquenz die Worte gewesen waren und der niemandem traute, gänzlich unvereinbar sind. Vor allem der Inoffizielle Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches (IMS) „Siegfried Kaiser“, der in der Truppe die innere Sicherheit gewährleisten sollte und zugleich sein Vorgesetzter war, beobachtete ihn scharf. Mit „Beate Kuba“ wurde eine Person als IMV (Inoffizieller Mitarbeiter, der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen mitarbeitet) auf ihn persönlich angesetzt und gewann sein Vertrauen. In einem Bericht vom 29. Mai 1978 aus der Personenkontrollakte von Detlef Günther berichtet „Beate Kuba“ über Inhalte eines Gesprächs mit Gennert. Hier ist vor allem die Fluchtabsicht von Detlef Günther das Thema, doch am Ende gibt es einen Absatz, in dem steht, dass Gennert, falls er nach dem Dienst keinen Studienplatz erhalten sollte, auch abhauen wolle. Sein möglicher Plan war, sich mit jemanden in Polen zu treffen, der ihm einen Pass mitbringen würde, um so auszureisen.

Möglicherweise ist es dieser Bericht, der zu einer verschärften Beobachtung und vermutlich auch geplanten Demoralisierung von Gerald Gennert führte. Die Personenkontrollakte zu Gerald Gennert wurde erst am 28. Juli 1978 angelegt, nachdem Anfang Juli „Siegfried Kaiser“ und „Beate Kuba“ sich gegenseitig in Hinweisen bestätigten, dass es durch ihn wohl zu Ausschreitungen gegenüber anderen NVA-Angehörigen gekommen sei und dass sie ihn als fluchtwillig einschätzten.

Bereits am 18. Juli wurde ein Maßnahmeplan erstellt: IMV „Beate Kuba“ sollte das persönliche Verhältnis zu ihm festigen; jegliche Handlung, die sich als Straftatbestand vermuten lässt, herausarbeiten; jede Äußerung erfassen, die sich auf eine geplante Fahnen- oder Republikflucht deuten lässt und Hinweise erarbeiten, die die Vermutung eines gemeinschaftlichen Vorgehens von Gennert und Günther bestätigen lassen.  Zudem sollte das Persönlichkeitsbild von Gerald Gennert aufgeklärt werden. Die letztgenannte Aufgabe hatte auch „Siegried Kaiser“ erhalten, der als Vorgesetzter überdies Gennert immer im Blick behalten sollte und ihn vor allem mittels einer herausfordernden politisch-ideologischen Auseinandersetzung provozieren sollte. Als drittes sollte eine Person aus dem Kreis der Soldaten gefunden werden, die daran mitwirken würde, offensiv die Auswirkungen des „feindlich-negativen“ Auftreten von Gerald Gennerts zurückzudrängen. Der vierte Punkt war ein Persönlichkeitsprofil zu Gennert. Schwerpunkte waren die Einflussnahme von Schule und Betrieb auf seine Entwicklung, aber vor allem die Verbindung zu seinem in Westdeutschland lebendem Vater. Der Plan nannte den 10. Oktober 1978 als Termin, an dem die bis dahin zusammengetragenen Informationen analysiert werden sollten, um dann Vorschläge zur Weiterbearbeitung zu machen.

Das Vorhaben verlief im Sinne der Anweisung: Auf den 8. August 1978 ist ein Bericht von „Beate Kuba“ datiert, welcher einen erniedrigenden und gewalttätigen Vorfall am 4. August thematisiert, an dem auch Gennert beteiligt gewesen sein soll. Daraufhin wurde eine legendierte Befragung des bei diesem Vorfall Leidtragenden angeordnet, um Beweise gegen Gennert zu schaffen. Laut Bericht eines weiteren Stubengenossen, dessen gesamter Inhalt darauf abzielt, Gerald Gennert abzuqualifizieren, brüstete sich Gennert wohl damit, dass er sich mindestens 70 mal von der Kaserne fortgestohlen habe. Mit welchem Ziel ist hier nicht ersichtlich. Zudem habe er unverschleiert die Ansicht vertreten, dass das Leben in der Bundesrepublik besser sei als in der DDR und überlegte angeblich offen, auf welche Art und Weise eine Flucht möglich wäre. Dabei habe er wohl auf die Unterstützung seiner Angehörigen aus Westdeutschland gehofft. Eine mögliche Variante sah er angeblich im nächtlichen Postenstehen bei der „Muni-Wache“ (Wache, die das Munitionslager außerhalb der Kaserne bewachte): Nach einem Wegschleichen hätte man zunächst einen Vorsprung von zwei bis drei Stunden, die Autobahn sei nicht weit und mit Hilfe einer mitgenommenen MPi (Kleinkaliberpistole zu Ausbildungszwecken in der DDR) sowie einer Taschenlampe könne ein Auto angehalten werden, mit dem man bis zur Grenze fahren könne und mit der Waffe sei es dann möglich, diese zu überwinden.

Die MfS-Akten zeichnen insgesamt ein abwertendes Persönlichkeitsbild von Gerald Gennert, welches sich in vielen Punkten nicht mit seinem beschriebenen Wesen vor dem Eintritt in den Wehrdienst vereinbaren lässt: Den Schriftstücken zufolge wurde er aufgrund fortgesetzter Disziplinarverstöße häufig zur Verantwortung gezogen. Aufgrund seiner dem Staat gegenüber indifferenten bis ablehnenden Position und ständigen Hörens westlicher Rundfunkstationen wurde er als Träger der politisch-ideologischen Diversion charakterisiert. Er soll zudem egoistisch, jähzornig und zynisch gewesen sein. Das Ergebnis einer Ermittlung in seinem ehemaligen Wohngebiet zeichnet hingegen ein Bild von Gennert, wie es aus der Zeit vor der NVA bekannt ist: Weder im Schulbereich noch im Arbeitsbetrieb wurde Nachteiliges bekannt. Er war zwar Mitglied der gängigen Organisationen (FDJ und FDGB), übte dort aber keine Funktion aus und war dort auch nicht anderweitig aktiv. Den Staat betreffende negative Diskussionen waren in seinem Umfeld nicht bekannt, insgesamt besaß er in seinem Wohngebiet einen guten Leumund Er erscheint hier als ein wenig engagierter Mensch, der nicht auffallen wollte. Welchen Wahrheitsgehalt die Berichte tatsächlich haben und an welchen Stellen es sich um ausgedachte oder falsch wiedergegebene Berichte handelte, um einen Andersdenkenden zu diskreditieren, ist nicht ergründbar. Die bis zum 14. August 1978 zusammengetragenen Informationen zu Gennert genügten jedoch aus, um nun offiziell gegen ihn vorzugehen: Am 23. August 1978 wurde durch den Militärstaatsanwalt gegen Gerald Gennert ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet. Daraufhin wurde er im „Roten Ochsen“, einer Justizvollzugsanstalt in Halle, inhaftiert. Hier durfte seine Schwester ihn lediglich einmal besuchen und ihre Teilnahme an der Gerichtsverhandlung am 20. Oktober 1978 wurde nicht erlaubt. Überdies verstand sie die ganze Anklage gegen ihren Bruder, den sie so anders kannte, nicht. Das Militärgericht Halle verurteilte Gerald Gennert dann wegen Befehlsverweigerung und mehrfachen unerlaubten Entfernens von der Truppe zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren.

Später war Gerald Gennert dann in Rackwitz, einem Außenlager der JVA Leipzig, untergebracht, wo er einen schonungslosen Freiheitsentzug erlitt: Die Haftbedingungen waren elend, Briefe an ihn wurden abgefangen und nicht ausgehändigt und er wurde wiederholt durch Besuchsverbot traktiert. Letzteres geschah in der Regel sehr kurzfristig, seine Mutter und Schwester waren immer schon vor Ort, als sie plötzlich eine Absage des Termins erhielten. Eine Schikane, die nicht nur für Gerald, sondern auch für die beiden Frauen eine Qual war. Lediglich zweimal durfte der kleine Familienkreis sich in dieser Zeit begegnen. Bei einem dieser Besuche war Geralds unheilvolle Situation wahrnehmbar: Er war abgemagert und fahrig, seine Haut gereizt und entzündet, er wirkte eingeschüchtert, sprach nicht viel und wagte nur oberflächliche Gesprächsthemen. Der körperlich und psychisch erschöpfte Gerald, der darauf hoffte, von seiner Schwester Literatur zugeschickt bekommen zu können, um damit etwas Halt zu finden, bot ein erschütterndes Bild und seine Mutter verstand die Welt nicht mehr.

Trotz dieser Repressionen gelang es Gerald Gennert, einen Brief an seine Schwester, den er im August 1979 verfasste, durch einen entlassenen Mithäftling aus dem Gefängnis zu schmuggeln und ihr zukommen zu lassen. In diesem formuliert er gefühlsstark seine Sehnsucht nach einer besseren Zeit, in der die Werte “Humanité, Fraternité, Egalité [und] Liberté” zum Tragen kommen werden und klagt über das ihn umgebende “Klima geistiger Perversion”. Er bittet seine Schwester, ihm ein paar Bücher zu besorgen und sich zu erkundigen, was es mit den neuen Strafgesetzen auf sich hat, da er dazu im Gefängnis keine Informationen bekommt. Am 28. Juni 1979 wurde das Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik novelliert und verschärft.

Nach der Entlassung begann Gerald Gennert zunächst, wieder beim Bergwerk zu arbeiten, kündigte dort jedoch nach einiger Zeit und trat eine Arbeitsstelle beim Heizwerk an. Er zog nach Weißenfels zu seiner Freundin. Nach der Verbüßung seiner Strafe empfand er das Leben in der DDR als würdelos erniedrigend. Deutlich wird das in einem von ihm formuliertes Gedicht, das er an den Radiosender RIAS schicken wollte. Doch die Stasi fing diesen Brief ab und das Schriftstück landete in den Akten des MfS.

Gerald Gennert hielt es nicht mehr in der DDR aus und trainierte körperlich hart, um sich auf eine Flucht vorzubereiten. Seine Schwester wusste um die Fluchtpläne und fragte ihn, ob er sich das denn gut überlegt hätte und es nicht doch nur eine fixe Idee sei, worauf er sagte: „Ich muss hier raus!“. Als Gerald dann seine Fluchtpläne umsetzte, konnte seine Schwester ihn nicht aufhalten. Sie lag im Krankenhaus im Wochenbett.

Seit dem 24. September 1980 gilt Gerald Gennert als verschollen. An diesem Tag verabschiedete sich Gerald von seiner Mutter, indem er ihr mitteilte, dass er mit seinem Freund Detlef auf Arbeitssuche gehen würde. Im Gegensatz zur Schwester wusste sie nichts von seiner Absicht, die DDR zu verlassen und ahnte nicht, dass die beiden an diesem Tag aufbrachen, um ihr gemeinsames Fluchtvorhaben umzusetzen.

Mit einem PKW „Moskwitsch“ verließen die beiden Bernburg. Am 25. September 1980 gegen 11 Uhr kauften sie in Berlin ein Faltboot. Ein Zeuge, vermutlich ein Verkäufer aus dem Laden, berichtete, wie er den beiden Männern half, das Faltboot aufzubauen. Er schilderte, dass Detlef und Gerald beim Aufbau des Bootes zu scheitern schienen, weil sie schon einige Teile vollkommen falsch zusammengebaut hatten, weswegen der Zeuge gemeinsam mit ihnen die Teile des Faltbootes zurück in den Laden brachte und ihnen die ordnungsgemäße Montage zeigte. Währenddessen fragte der Verkäufer die beiden, wohin sie in dieser Jahreszeit mit dem Faltboot wollten, woraufhin sie antworteten, dass ihr Ziel der ungarische Balaton sei. Detlef und Gerald nannten auch Ortsnamen, die der Zeuge zwar nicht kannte, da er aber selbst in Ungarn einen Urlaub verbracht hatte, schöpfte er keinen Verdacht. Weiterhin erwähnten die beiden, dass sie noch nach Oranienburg wollten, um dort einen Freund abzuholen, der ihnen eine Bekanntschaft in Ungarn vermittelt habe und mit in den Urlaub wollte. Da sie jedoch offensichtlich keine Ahnung hatten, wie sie nach Oranienburg kommen sollten, zeigte er ihnen den Weg auf einer Karte.

Etwa gegen 13 Uhr verluden die drei Männer das Boot auf den PKW. Da das Auto keine Dachgepäckträger hatte, wurde das Boot auf Verpackungsmaterial gelegt, welches durch den Verkäufer zur Verfügung gestellt wurde. Vor der Abfahrt tranken sie noch eine Tasse Kaffee, die der Mann spendierte, da Günther und Gerald ihm noch beim Einräumen der Ware geholfen hatten. Ob die beiden Freunde nach der Verabschiedung tatsächlich nach Oranienburg fuhren und was sie dort wollten, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Die Zeugenaussage eines Göhrener Einwohners in den Akten gibt an, dass der PKW an diesem Tag in den Nachmittagsstunden in der Ortsmitte in Göhren in der Thiessower Straße durch einen Zeugen gesehen wurde. Dieser erkannte im PKW zwei junge Männer, von denen einer eine Brille getragen haben soll. Noch am selben Abend sah der Göhrener gegen 18 Uhr das Fahrzeug der beiden jungen Männer in der Nähe des Bootsliegeplatzes der Fischerei-Produktions-Genossenschaft (FPG) „Mönchgut“. Das Auto stand unauffällig in Höhe des Bootsliegeplatzes der FPG „Mönchgut“ unter einem Birnenbaum zwischen der Verbindungsstraße Göhren-Lobbe und der Düne. Man konnte es weder vom Strand noch von der Verbindungsstraße aus sehen. Ein angebrachtes Hanfseil am Wagen ließ den Zeugen annehmen, dass es sich um eine Panne handelte und der Wagen mit dem Seil vorerst hierhergeschleppt wurde. Am Tag darauf hörte der Rügener aus Gesprächen mit den Fischern heraus, dass eine Reuse, die vom Bootsliegeplatz aus ca. 700 Meter in die See hinausgestellt ist, an einer Stelle zerrissen oder zerschnitten worden sei.

Als das Auto zwei Tage später immer noch unverändert an der Stelle stand, schaute der Zeuge gemeinsam mit einem Bekannten das Fahrzeug noch einmal an und meldeten den Fund dem Abschnittsbevollmächtigten von Göhren, woraufhin das Auto geöffnet wurde.

Die im Auto hinterlassenen Gegenstände sprachen dafür, dass es sich hier um Spuren eines illegalen Grenzübertrittes handeln musste. So fand sich im Auto ein Zettel, mit der Aufschrift „Bin spätestens 9.00 Uhr zurück“ unterzeichnet mit „Detlef“. Neben fünf Litern Trinkwasser, waren auch Thermosflaschen, Koffein, Westen, zwei bis drei Tuben „Ärosmit“, Kassenzettel, Garantieschein, Bestandteile und Verpackung eines Faltbootes des Typs „Pouch/RZ 85 – 3 Exquisit“, eine Autokarte der DDR und eine Touristenkarte der Inseln Rügen und Hiddensee zu finden. Kleidungsstücke in verschiedenen Größen konnten Gerald Gennert und Detlef Günther zugeordnet werden. Es wurde angenommen, dass die beiden in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1980 die Reusen entweder durchschnitten, oder bei ihrer Überfahrt mit dem Faltboot zerrissen haben.

Nachdem die Familie lange kein Lebenszeichen von Gerald erhalten hatte, brachte seine Schwester ihre Mutter dazu, am 3. Februar 1981 eine Vermisstenanzeige bei der Polizei zu machen, schärfte ihr jedoch ein, kein Wort über die Flucht, von der sie mittlerweile wusste, zu sagen. Dennoch wurde Verdacht geschöpft und neben einer Fahndung eine Ermittlung gemäß § 213 (Republikflucht) eingeleitet. Annahmen der Ermittlungsbehörden nach planten Gerald und sein Freund Detlef von der Insel Rügen aus, die DDR über die Ostsee mit einem Faltboot Richtung Schweden zu verlassen. Vermutlich wollten sie im Anschluss über Schweden in die Bundesrepublik einreisen.

Gerald Gennert und Detlef Günther waren mit ihrem Fluchtversuch nicht erfolgreich. Detlef Günthers Leiche wurde am 14. Oktober 1980 etwa zehn Meilen vor der Küste bei Kolobrzeg (Wojewodschaft Koszalin) geborgen. Bis heute fehlt jede Spur von Gerald Gennert. Es ist anzunehmen, dass auch er beim Fluchtversuch gestorben ist. Seine Schwester hat ihn bewusst nicht für tot erklären.


Biografie von Gerald Gennert, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/gerald-gennert/, Letzter Zugriff: 27.04.2024