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Biografisches Handbuch

Siegfried Rau

geboren am 29. Februar 1944 in Freiberg | ums Leben gekommen bei einem Fluchtversuch am 2. Oktober 1961 | Ort des Vorfalls: Grenzübergangsstelle Juchhöh (Thüringen)
Als der Kleintransporter, in dem Siegfried Rau und drei Mitflüchtlinge saßen, den Schlagbaum des Grenzübergangs Juchhöh durchbrach, geriet das Fahrzeug ins Schleudern und prallte auf einen Reisebus. Dabei verlor der 17-Jährige sein Leben.

Die Jugendlichen Edwin R. ( Jg. 45), Klaus-Dieter L. ( Jg. 44), Klaus S. ( Jg. 43), Annelore Sch. ( Jg. 46) und Siegfried Rau kannten sich aus einem Jugendwerkhof bzw. aus einem Jugenddurchgangsheim im Kreis Gera. Sie wollten gemeinsam in den Westen flüchten. Um ihren Fluchtplan umzusetzen, stahlen sie einen Barkas-Kleintransporter des VEB Deutsche Spedition Gera und fuhren mit diesem am 2. Oktober 1961 zum Grenzübergang Juchhöh. Hier durchbrachen sie mit dem Lieferwagen um 5.55 Uhr den heruntergelassenen Schlagbaum des Grenzübergangs. Der Wagengeriet dabei ins Schleudern und prallte gegen einen parkenden West-Berliner Reisebus. Siegfried Rau (17) kam bei dem Aufprall ums Leben. Annelore Sch. erlitt schwere Verletzungen. Klaus-Dieter L. hatte sich noch kurz vor der Abfahrt von dem Vorhaben zurückgezogen.

Der Staatssicherheitsdienst meldete an seine Zentrale in Berlin, der 17-jährige „vorbestrafte“ Edwin R. habe den Grenzdurchbruch mit drei weiteren „sich umhertreibenden und wegen krimineller Verbrechen angefallenen 16–18 jährigen Jugendlichen“ versucht. Sie seien dem Einfluss „westlicher Hetzsender“ und „von Schund- und Schmutzliteratur“ erlegen. Am Grenzkontrollpunkt Juchhöh habe Edwin R. die Haltesignale eines Volkspolizisten ignoriert und sei mit etwa 100 Stundenkilometern durch den Schlagbaum gerast. Das Fahrzeug sei dann auf einen Reisebus geprallt und nach 50 Metern zum Stehen gekommen. „Durch diese Zusammenstöße wurden ein Jugendlicher tödlich, ein weiterer schwer und 25 westdeutsche Gäste leicht verletzt.“ Auf der Westseite meldete das Grenzkommissariat Hof den Vorfall dem Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei in München und teilte mit, im Krankenhaus Schleiz seien vermutlich zwei der namentlich nicht bekannten Unfallopfer ihren Verletzungen erlegen.

Gegen die überlebenden Jugendlichen erhob die Staatsanwaltschaft Gera Anklage. In dem Strafantrag hieß es: „Die Bonner Ultras versuchten bereits seit langer Zeit durch den organisierten Menschenhandel die Volkswirtschaft der DDR zu schädigen. Für ihr schändliches Handwerk ist ihnen jedes Mittel recht. Durch die von der Regierung der DDR an der Staatsgrenze getroffenen Schutzsicherungsmaßnahmen vom 13.8.61 wurde den westlichen Imperialisten und Militaristen ein erheblicher Schlag versetzt.“ Nun werde durch hetzerische Radio- und Fernsehsendungen versucht, „auf die Herzen und Hirne der Bürger der DDR einzuwirken“. Das zeige besonders bei jungen und ungefestigten Menschen Wirkung und habe bei den Angeklagten dazu geführt, dass sie versuchten, die DDR illegal zu verlassen. „Die 4 Beschuldigten sind hemmungslose Menschen, die trotz vieler Mühe der Erziehungsberechtigten und sonstigen fortschrittlichen Bürgern [sic!] der Gesellschaft keinerlei Anstrengungen machten, ein ordentliches Leben zu führen.“ Stattdessen „schenkten die Beschuldigten dem Gegner Gehör und verübten damit Verrat an der DDR“. Edwin R., der Fahrer des Wagens, erhielt eine zehnjährige Haftstrafe. Das Bezirksgericht Gera verurteilte weiterhin Klaus S. zu sechs Jahren und Klaus-Dieter L. zu drei Jahren Haft. Annelore Sch. wurde freigesprochen und zur Besserung in einen Jugendwerkhof eingewiesen.

Das Bezirksgericht Gera hob 1991 die gegen Edwin R., Klaus S. und Klaus-Dieter L. ergangenen Urteile als rechtsstaatswidrig auf. Edwin R., der 1961 dem Urteil schriftlich widersprach, musste die Strafe von Oktober 1961 bis September 1970 verbüßen.


Biografie von Siegfried Rau, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/93-siegfried-rau/, Letzter Zugriff: 26.04.2024