Der zehnjährige Wolfgang W. aus Elend sah beim gemeinsamen Spielen mit seinem Zwillingsbruder plötzlich auf: Vor ihnen stand ein Mann, 50 Jahre alt, sonnengebräunt, drahtiger Körper, bartstopplig und mit Filzstiefeln bekleidet. Der Junge wusste, dass es einer der Arbeiter aus Halberstadt war, die für die Forstwirtschaft Garagen bauten. Der Mann fragte, ob er eine Leiter bekommen könne, die am Schuppen neben ihrem Wohnhaus hing. Er wolle einen Baum fällen. Später, es war nach 15 Uhr, hörte der Junge aufgeregtes Rufen. Jemand habe im Haus einen Koffer gestohlen! Wolfgang W. blickte zum Haus. Das Fenster zum Zimmer der Haushälterin stand offen. Am Schuppen fehlte die Leiter. Dann stürmte die Haushälterin heraus, rief ihm zu, er solle sofort die Polizei holen, und lief dem flüchtenden Arbeiter hinterher.
Robert Michalak war in Halberstadt zur Welt gekommen und hatte Stellmacher gelernt. 1941 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und im darauffolgenden Jahr bei einem Jagdfliegerangriff in Frankreich so schwer verwundet, dass ihn die Wehrmacht als kriegsdienstuntauglich ausmusterte. Ein Jahr später starb seine Frau, so war er 1942 mit zwei Töchtern allein auf sich gestellt. 1947 heiratete er erneut und gründete mit der Hausgehilfin Gerda M. wieder eine Familie. 1949 kam ein Sohn, ein Jahr später eine Tochter zur Welt. Die Hochund Tiefbau-Firma Müller und Starke in Halberstadt stellte Robert Michalak in den 1950er Jahren ein. Der Betrieb schickte ihn im Mai 1955 auf eine Baustelle nach Elend im Harz. Robert Michalak bezog dort ein Quartier und kam am Wochenende nach Hause zurück. Am Dienstag, dem 17. Mai 1955, entwendete er stark angetrunken den Koffer aus einem Wohnhaus und floh durch ein Waldgebiet in Richtung Schierke, um der aufgebrachten Haushälterin und den herbeigerufenen Grenzpolizisten zu entkommen. Den gestohlenen Koffer warf er bald beiseite, um besser voranzukommen. Vielleicht wusste er nicht einmal, dass dieser hauptsächlich Wäsche enthielt.
Das Elendstal zwischen Elend und Schierke gehörte zum Grenzgebiet der DDR. Die Grenzpolizei am Ort war zu dieser Zeit in ehemaligen Pensionen untergebracht. Nachdem der zehnjährige Wolfgang W. den Diebstahl gemeldet hatte, stellte der diensthabende Leutnant R. sofort eine Alarmgruppe der Grenzpolizei zusammen und gab den Befehl auszuschwärmen, um die Gegend nach dem Dieb abzusuchen. Ein Urlauber wies den Grenzpolizisten den Weg. Robert Michalak war den steilen, steinigen Fußpfad zum Barenberg hinaufgelaufen. Wäre sein Ziel die Grenze zu Niedersachsen gewesen, so hätte er abbiegen und noch eine Entfernung von vier Kilometern zurücklegen müssen. Über das weitere Geschehen gibt eine Tagesmeldung der Grenzpolizei folgendermaßen Auskunft: Eine „verdächtige Person“ war am Barenberg gesichtet und zum Stehenbleiben aufgefordert worden. „Trotz der Aufforderung und Abgabe von 3 Warnschüssen flüchtete die Person weiterhin in Richtung Grenze. Durch den Gefr. D[…] von der Alarmgruppe wurde ein Zielschuß abgegeben, der die Person verletzte. Diese lief jedoch weiter und stürzte hierbei eine 6 Meter tiefe Felsenklippe hinunter. Der Leiter der Alarmgruppe Genosse Ltn. R[…] begab sich zur Absturzstelle und leistete erste Hilfe, da sie durch Oberschenkeldurchschuß verletzt war. Nach ca. 10 Minuten verstarb die Person. Der Vertragsarzt der VP stellte als Todesursache Schädelgrundbruch und Wirbelsäulenbruch fest.“
Der Staatsanwalt des Kreises Wernigerode mag sich gewundert haben, als er am 18. Mai 1955 die Angaben der Grenzpolizei mit den Obduktionsergebnissen verglich. Die Obduktion ergab als Todesursache einen Durchschuss des rechten Oberschenkels, der beide Blutgefäße zerrissen hatte. Der Staatsanwalt schrieb in seinem Bericht: „Eine Verblutung bei einer Verletzung des Oberschenkelgefäßbandes kann ohne weiteres bereits in 8 bis 10 Minuten eintreten. […] Insbesondere konnte ein Schädelbruch oder eine Wirbelsäulenverletzung evtl. als Sturzfolge ausgeschlossen werden.“
Am gleichen Tag klingelten zwei Grenzpolizisten an der Wohnungstür von Frau Michalak. Sie erklärten der ahnungslosen Frau, dass ihr Mann bei dem Versuch, die Grenze zu überschreiten, einen Oberschenkeldurchschuss erlitten hatte, jedoch weiterzulaufen versuchte und dabei gestürzt sei und sich das Genick gebrochen habe. Als Frau Michalak nach dem genauen Ablauf und den Umständen des Todes fragte, schwiegen die Uniformierten. So blieb sie mit ihren Fragen, dem sechsjährigen Sohn und der einjährigen Tochter zurück.
Der Gefreite D., der geschossen hatte, konnte nicht mehr juristisch zur Verantwortung gezogen werden, er starb 1994. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin wegen Totschlags wurde eingestellt.