Heinz Georg Sender, von allen Georg genannt, wurde am 10. Juli 1937 im Lürschau im Kreis Schleswig geboren. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg gefallen, umso inniger war das Verhältnis zu seiner Mutter, deren einziges Kind er war. Obwohl sein Interesse technischen Berufen galt, nahm er 1952 auf Anraten seiner Mutter eine Ausbildung zum Postbeamten in Schleswig auf, die er 1955 abschloss. Er nahm danach auch eine Anstellung als Postbeamter an, arbeitete in dem Beruf aber nur ein Jahr.
Gegenüber einem Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit hat er später offengelegt, dass er 1955 ein Verhältnis mit einer „Bardame“ eingegangen sei, das ihm einige Schulden eingebracht hatte, weshalb er sich nach lukrativeren Beschäftigungsmöglichkeiten umsehen musste. Diese fand er von 1956 bis 1957 in Essen, wo er als Bergarbeiter arbeitete. Im Folgejahr 1958 war er in seine Heimatregion zurückgekehrt und lebte auf dem Gut Falkenberg ganz in der Nähe seiner Geburtsstadt Lürschau.
Am 7. Januar 1959 erfolgte dann seine Einberufung zum Wehrdienst, der er nachkam. In der Bundeswehr war der Unteroffizier Sender zuletzt in der 16. Brigade der 6. Panzergrenadier-Division Flensburg in der Funkerausbildung eingesetzt. Es lässt sich nicht mehr genau zeitlich rekonstruieren, aber während seines Wehrdienstes hatte er sich sowohl einen PKW gekauft als auch einen Autounfall, womöglich mit eben jenem Fahrzeug, verursacht – daraus ergaben sich für ihn Schulden von etwa 1.700 DM, von denen er 700 DM am 8. Januar 1961 bezahlen sollte.
Georg Sender verfügte offensichtlich nicht über die nötigen finanziellen Mittel und so ersann er einen Plan, die politische Situation im Kalten Krieg für sich zu nutzen. Dazu begab er sich am 6. Januar 1961 an den Grenzübergang Horst und ließ sich vom MfS anwerben. Er trat bei diesem ersten Kontakt selbstbewusst und offensiv auf und legte seine Motivation offen: Er brauchte Geld und war bereit, dafür Dienstgeheimnisse, auf die er als Funkerausbilder Zugriff hatte, an das MfS zu verkaufen. Er ging sogar so weit, zu behaupten, dass er die Unteroffizierslaufbahn nur eingeschlagen hatte, um an mehr Geheimnisse zu kommen, die er dann dem MfS zutragen konnte. Das MfS nahm sein Angebot an und schickte ihn mit etwas Geld und kleineren Aufträgen als Geheimer Mitarbeiter (GM) „Norbert“ zurück in die Bundesrepublik. Seine Arbeit als GM für die Abteilung XV des MfS erledigte er zur Zufriedenheit seines Führungsoffiziers. Der notierte in einem Bericht über die Arbeit seines GM, Sender „lieferte brauchbare Informationen“ und absolvierte sogar ein Treffen mit einem „Instrukteur“ im „Operationsgebiet“ – also in der Bundesrepublik.
Seine Aktivitäten in Diensten des MfS blieben allerdings auf Seiten der westdeutschen Behörden nicht unbemerkt. Einen guten Monat nach seiner Anwerbung schickte er dem MfS eine Begründung für seinen Übersiedlungswunsch, indem er darlegte, dass er sich vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) verfolgt fühlte. Er sei zu einem Gespräch mit einem Offizier einberufen worden, der ihn direkt sehr vertraulich begrüßte, was Sender stutzig machte. Danach sei dieser dazu übergegangen, ihm vorzurechnen, dass er eigentlich zu wenig Geld verdiene, um sich seinen Lebensstil zu finanzieren. Dabei habe ihm der Offizier sogar die Raten aus seinem Autokauf vorgerechnet.
Georg Sender stellte sich erstaunt. Er blieb auch noch bei seiner Tarnung, als der Offizier ihm eröffnete, dass der Militärische Abschirmdienst im Raum Husum-Flensburg, wo Sender eingesetzt war, Agenten beobachte und man nur noch nicht zugeschlagen hätte, weil man an die Hintermänner kommen wolle. Er machte Sender anscheinend keinen konkreten Vorwurf und bot ihm sogar die Zusammenarbeit an. Es käme, falls er spioniert habe, zunächst darauf an, was er bisher preisgegeben habe, und er könne unter Umständen sogar straffrei aus der Sache herauskommen. Der Offizier gab ihm deutlich zu verstehen, dass es ein leichtes wäre, ihn für seine Spionage festzunehmen und Georg Sender glaubte ihm das auch. Statt aber dessen Angebote anzunehmen, beschloss er, sich in die DDR abzusetzen.
So erschien er am 19. Februar 1961 in Begleitung seiner Verlobten auf dem Grenzübergang Horst und verlangte ein Gespräch mit einem Vertreter des MfS. In dem Gespräch vermittelte er seine Bedrohungswahrnehmung durch den MAD. Beim MfS nahm man seine Ausführungen ernst und verfügte, dass ihm und seiner Verlobten Asyl in der DDR gewährt werden sollte. In der Sprache der Staatssicherheit wurde „der GM wegen Gefährdung abgezogen“. In einem Schreiben Heinz Georg Senders wirkte die Ausreise auch nicht wie eine Flucht und er beschloss es mit einem regelrechten Schwur: „Wir haben unsererseits beschlossen, mit ganzer Kraft für Sie weiterzuarbeiten.“
Er und seine Frau kamen 1961 nach Schwerin und durften sich dort ein Eigenheim am Schweriner See bauen. Nach der Einwanderung in die DDR arbeitete sie sehr erfolgreich als Pädagogin in einem Kindergarten und er im Heizkraftwerk Schwerin, das zum VEB Vereinigte Bauelemente Stralsund gehörte. Beide bekamen von ihren Arbeitsstätten exzellente Bewertungen. Sie wurden nicht nur wegen ihres professionellen Einsatzes geschätzt, sondern auch als linientreu angesehen. Insbesondere Georg musste die Wendung seines Arbeitslebens als glücklich empfunden haben. Der Beruf entsprach viel mehr seinen eigenen Interessen als seine Beschäftigungen in der BRD, und so erbrachte er darin äußerst gute Leistungen, die ihm auch von der Betriebsleitung bestätigt wurden. Er setzte sich überaus stark in seinem neuen Betrieb ein, indem er weniger qualifizierte Kollegen weiterbildete, praktisch wirksame technische Umbauten anregte und sogar außerhalb seiner Dienstzeit für Reparaturen zur Verfügung stand.
Noch im Jahr ihrer Übersiedlung heirateten die beiden in Schwerin und bekamen ihr erstes Kind, einen Sohn. Die Flucht in die DDR erschien von hier aus betrachtet wie der Startpunkt einer glücklichen Familie: Beide gingen in ihren Berufen auf, im Juli 1963 wurde die erste Tochter, Susanne, geboren und im Mai 1965 erblickte ihr drittes Kind Beate das Licht der Welt. Jedoch hatte die Entscheidung, in die DDR zu gehen, einen entscheidenden Makel: Georg und seine Frau hatten ihre Familien und Freunde in der Bundesrepublik zurückgelassen und hatten keine Verwandten in der DDR. Georgs Mutter war von diesem Tag an allein und sehnte sich nach ihrem Sohn und ihren Enkelkindern. Seine Schwiegereltern vermissten ihr einziges Kind, ihren Schwiegersohn, und ihre Enkel ebenfalls schmerzlich. Der Schwiegervater, zu dem Georg ein Verhältnis hatte, das er gegenüber der Stasi als „ähnlich eines Vaters zum Kinde“ beschrieb, hatte kurz nach der Ausreise der beiden einen Herzinfarkt erlitten. Heinz Georg und seine Frau müssen schockiert gewesen sein, als noch im Jahr ihrer Übersiedlung mit der Befestigung der deutsch-deutschen Grenze und der Errichtung der Berliner Mauer begonnen wurde.
Obwohl sein besonderer Wert als Bundeswehrangehöriger für die Staatssicherheit mit seiner Übersiedlung verloren war, wurde Sender auch innerhalb der DDR weiter von der Stasi eingesetzt. Er sollte in Schwerin „abwehrmäßige Hinweise“ er- und bearbeiten und wurde für „Kontaktierungen“ eingesetzt. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit wurde der Abteilung XV des MfS im Bezirk Schwerin am 14. September 1963 aus Berlin mitgeteilt, dass „sich eine namentlich nicht bekannte Dienststelle des amerikanischen Geheimdienstes für unseren ‚Karl‘ interessiert.“ Eine der Zielpersonen von „Karl“ hatte anscheinend über ihn im Westen berichtet – so vermuteten es jedenfalls die für ihn zuständigen Stasi-Angehörigen.
Georg Sender verlor während seiner Arbeit für die Staatssicherheit nie seine eigenen Ziele aus den Augen. Jedoch verließ ihn im Spiel zwischen Ost und West durch die Übersiedlung das Glück. Er wollte Vorteile aus seiner Verpflichtung ziehen und versuchte sogar, die Ausreise aus der DDR? seiner Familie über das MfS zu organisieren, was sein erster interner Antrag 1963 bezeugt. Nachdem er diesen Antrag zurückgezogen hatte, machte er gegenüber seinem Führungsoffizier immer wieder Vorschläge für Operationen, die er auf dem Gebiet der Bundesrepublik ausführen könnte, die aber als unrealistisch abgelehnt wurden. Danach verlangte er, sich wenigstens als Mitarbeiter der Stasi legitimieren zu können, also einen Dienstausweis, der ihm, nach den Regeln der Stasi, verwehrt wurde. Die Selbstverständlichkeit, mit der Sender versucht hat, seine eigenen Ziele auch in der Zusammenarbeit mit der Stasi zu erreichen, machte die Offiziere dort bereits 1964 stutzig, insbesondere, weil seine ideologischen Bekenntnisse ansonsten voll auf Linie der Stasi lagen. Im Dezember 1964 schreibt einer dieser Offiziere in einem Abschlussbericht über die Arbeit des GM „Norbert“: „Hiervon ausgehend kann zu diesem Zeitpunkt nicht eingeschätzt werden, aus welchem Grund der GM ‚Norbert‘ für uns arbeitet.“ Dennoch blieb Georg Sender bis 1969 in den Diensten der Staatssicherheit, zuletzt für die Kreisdienststelle Schwerin.
Die Familie Sender stellte also von 1963 bis 1975 vier Ausreiseanträge, die allesamt Georg Sender verfasste. Sogar der letzte Antrag, den sie im August 1975 unter dem Eindruck der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki stellten, wurde zu ihrem Entsetzen abgelehnt. Hatten die Anträge anfangs noch mit Dankbarkeitsbezeugungen gegenüber der DDR begonnen, konnte man an ihnen später mehr und mehr die Enttäuschung von Georg Sender ablesen. Um das Anliegen seiner Familie zu unterstützen, machte er auch zahlreiche Eingaben, etwa beim Oberbürgermeister Schwerins, beim Rat der Stadt Schwerin, beim damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker und beim Ministerrat der DDR. Mit jeder neuen Eingabe wurde er dabei deutlicher und verbissener und bei den ‚Aussprachen‘, zu denen er geladen wurde, konnte er sich immer weniger zurückhalten.
Gegenüber Honecker bekräftigte er seine Bereitschaft, alles, auch Gefängnis oder Tod, dafür in Kauf zu nehmen, dass seine Familie ausreisen kann. Gegenüber dem Rat der Stadt Schwerin kündigt er an, öffentlich gegen die Behandlung seiner Familie zu demonstrieren. Hatte man ihm anfangs noch die Begründung gegeben, sein Argument zur Familienzusammenführung sei irrelevant, weil er seine Familie ja überhaupt erst in der DDR gegründet habe, wurde ihm später einfach mitgeteilt, dass die Anträge nicht bearbeitet würden und er damit auch keine positive Entscheidung zu erwarten habe. Entsprechend aussichtslos waren auch die sogenannten ‚Aussprachen‘ bei der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Schwerin. Nach einer solchen Aussprache am 9. November 1976 notierte ein Mitarbeiter des Rates der Stadt: „Sie haben das Gefühl, als wenn wir bei seiner Antragstellung um den heißen Brei gehen und wir sie jedesmal hinauskomplementieren wollen, weil wir keine Argumente mehr haben.“
Mit dieser Einschätzung lagen die Senders wahrscheinlich absolut richtig, denn aus heutiger Perspektive erscheint es ausgeschlossen, dass man ihnen die Ausreise aus der DDR genehmigt hätte. Georg Sender war Agent auf dem Gebiet der Bundesrepublik gewesen und hatte sich dort sogar im Geheimen mit einem Angehörigen der Staatssicherheit getroffen. Er war unter Verfolgungsdruck in die DDR geflohen und hatte in seiner weiteren Tätigkeit für die Stasi die Aufmerksamkeit amerikanischer Geheimdienste geweckt. Mit dieser Biografie konnte man ihn nicht in die BRD ausreisen lassen. Für die Stasi war erwartbar, dass Sender nach seiner Ankunft sofort vom MAD bearbeitet worden wäre und angesichts der Unsicherheit über seine Loyalitäten erwarteten die Entscheidungsträger offenbar nicht, dass Sender die Geheimnisse der Stasi besonders gut geschützt hätte.
Seit Anfang 1976 durfte Georg Senders Frau nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Da Georg die Ausreiseanträge stets für die ganze Familie, also auch für sie, gestellt hatte, galten diese Anträge als Zeugnis der Illoyalität auch seiner Frau gegenüber der DDR. Gegen sie wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das mit ihrer fristlosen Entlassung endete. Als ihnen kurz vor Weihnachten 1976 auch mit Inhaftierung und dem Entzug ihrer Kinder gedroht wurde, beschlossen die Senders, die DDR über die Ostsee zu verlassen und begannen sofort mit den Fluchtvorbereitungen. Mit den Großeltern in der BRD und den Eltern in Haft wären die Kinder vollkommen der DDR zugefallen und hätten wahrscheinlich den Rest ihrer Kindheit und Jugend in staatlichen Heimen verbringen müssen.
Am 8. März 1977 entwendete Heinz Georg Sender nachts einen Lastwagen aus seinem Betrieb und fuhr damit die Familie zum Küstenwald zwischen Kühlungsborn und Heiligendamm. Auf der Ladefläche lagen zwei Faltboote, mit denen sie die Ostsee überqueren wollten. Bei der Ablandung vom Strand bei Heiligendamm saß Georg mit seinen zwei Töchtern Susanne und Beate in einem Boot, seine Frau und sein Sohn im zweiten. Wie die Ermittlungen der Stasi später ergaben, führten sie auch einen Marschkompass und einen Feldstecher mit, um sich auf See zu orientieren.
Obwohl es sehr kalt war, schienen die Bedingungen günstig: es wehte ein leichter Wind Richtung Süd und die Ostsee lag spiegelglatt da. Dementsprechend kamen sie zunächst gut voran. Entgegen den zunächst vielversprechenden Wetterbedingungen steigerte sich der Wind während der Überfahrt aber auf Windstärke sechs, drehte sich in östliche Richtung und es entwickelte sich ein Seegang, der das Faltboot, in dem Heinz Georg Sender und seine beiden Töchter saßen, zum Kentern brachte. Der Vater versuchte bei etwa drei Grad Wassertemperatur noch, seine beiden Töchter zu retten, doch er trieb schließlich erschöpft ab und konnte nur noch seiner Frau und seinem Sohn zurufen, sie sollten die beiden Mädchen retten. Das gelang ihnen jedoch nicht; sie konnten Beate und Susanne nur an ihrem Faltboot festhalten und ihnen gut zureden, bis sie nicht mehr reagierten und irgendwann in der Ostsee versanken. Stunden später wurden sie von der dänischen Fähre „M/F Dronning Ingrid“ gerettet und nach einem Zwischenstopp in Warnemünde, den sie in der Kapitänskajüte versteckt verbrachten, nach Rødbyhavn gebracht, von wo aus sie sich auf den Weg in die Bundesrepublik machten.
Das Faltboot wird am 9. März 1977 in der Ostsee vor dem Darßer Ort geborgen. Von Heinz Georg Sender, damals 39 Jahre alt, und seinen beiden elf und dreizehn Jahre alten Töchtern Beate und Susanne fehlt seitdem jede Spur.