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Biografisches Handbuch

Kerstin Helmholdt

geboren am 20. Dezember 1961 in Blankenburg | erschossen am 5. August 1982 | Ort des Zwischenfalls: ungarisch-jugoslawische Grenze, Grenzbezirk Kiskunhalas, bei Csikéria (Ungarn)
Kerstin Helmholdt wollte mit ihrem Verlobten, einem Bundesbürger, zusammenleben. Dafür versuchte sie gemeinsam mit ihrer Mutter eine Flucht von Ungarn nach Jugoslawien. Unmittelbar an der Grenze erschoss ein Grenzsoldat die 20-Jährige.

Die Ermittler des Volkspolizei-Kreisamtes Wernigerode konnten als Ergebnis ihrer Nachforschungen im Wohngebiet und Arbeitsumfeld Kerstin Helmholdts ihrem Stabschef berichten, dass die Betreffende eine völlig unbescholtene Bürgerin war. Sie hatte sich seit 1978 zur Krankenschwester im Diakonissenmutterhaus „Neuvandsburg“ in Elbingerode ausbilden lassen, wo sie auch in einem Internatszimmer wohnte. Sie war dort immer pünktlich und zuverlässig, hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Kolleginnen und erfüllte ihre Aufgaben zur allseitigen Zufriedenheit. Ohne Funktionen zu übernehmen war sie der FDJ beigetreten. An freien Tagen fuhr sie mit ihrem Moped, einer „Schwalbe“, nach Hause. In Blankenburg, wo sie aufgewachsen war, wohnte sie mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einer „Drei-Raum-Wohnung“. Die Familie hatte auch hier einen guten Leumund. Frau Helmholdt arbeitete im VEB Harzer Mineralquellen, mit dem Vater ihrer Tochter wurde kein Umgang mehr gepflegt.

Die Kreisdienststelle des MfS in Wernigerode bemerkte jedoch am 27. August 1980 aus der Postüberwachung, dass Kerstin Helmholdt ein Liebesverhältnis mit dem Bundesbürger Uwe M. unterhielt. Der Postbeamte aus dem Landkreis Gießen und die Krankenschwester hatten sich in diesem Jahr während des Ungarn-Urlaubs am Balaton kennengelernt und führten nun einen regen Briefwechsel. Im folgenden Jahr verbrachten sie ihre Ferien gemeinsam in Fonyód am Balaton. Im Frühjahr 1982 erklärte Kerstin Helmholdt ihrer Mutter, dass sie sich mit Uwe M. verlobt hat. Sie wollten in der Bundesrepublik heiraten und dort zusammen leben. Eine Übersiedlung auf dem Antragsweg zu erreichen, kam für Kerstin Helmholdt jedoch nicht in Frage. Die Bearbeitung würde zu lange dauern und der Ausgang wäre ungewiss. So entschloss sie sich, im Sommer über die ungarisch-jugoslawische Grenze zu flüchten. Ihre Mutter wollte sie dabei begleiten. Uwe M. wollte mit seinem Vater bei der Flucht helfen.

Am 31. Juli 1982 fuhren die beiden Frauen mit dem „Favorit“-Express nach Foynód. Die Tage bis zum 4. August verbrachten sie als Urlauber. Dann holte sie Gerhard M., der Vater des Bräutigams, in Boglárlelle mit dem Auto ab und fuhr ins rund 200 km entfernte Grenzgebiet bei Csikéria. Dort hatte er bereits eine ihm günstig erscheinende Stelle für die Flucht ausgemacht. Gegen 18.30 Uhr hielten sie an der Straße zwischen Bácsalmás und Kunbaja. Gerhard M. erklärte anhand einer Karte, wie sie zur Grenze kämen. Er selbst wollte über den Grenzübergang Tompa auf die jugoslawische Seite wechseln und sie bei Donji Tavankut an einem Gehöft erwarten. Den Weg dorthin hielt er auf einer Skizze fest. Geplant war, anschließend gemeinsam nach Belgrad zu fahren, um in der bundesdeutschen Botschaft die Dokumente für eine Weiterreise in die Bundesrepublik zu erhalten.

Von Gerhard M. mit einem Kompass, der Skizze über den Grenzverlauf, einem Seitenschneider und einem Abwehrspray gegen Hunde ausgerüstet, machten sich Mutter und Tochter auf einen etwa 10 km weiten Weg durch ein spärlich besiedeltes, landwirtschaftlich genutztes Flachland. Hier wurden Wein, Mais und Sonnenblumen, die im August mehr als zwei Meter erreichen konnten, angebaut. Die Grenze nach Jugoslawien war, anders als die Grenze zu Österreich, nicht mit Zäunen gesichert. Sie verlief quer über die Felder und war nur am Manöverweg, dem Spurenstreifen, Grenzsteinen und vereinzelt stehenden Wachtürmen erkennbar. Das Ziel schien auf der Karte vielleicht einfach zu erreichen, dennoch gelangten die beiden Frauen erst nach Mitternacht in die unmittelbare Grenznähe.

Der Grenzsoldat István K. bezog um 19.45 Uhr seinen etwa 500 Meter von der Grenze entfernten Posten und aktivierte die Signalanlage. Um 22.00 Uhr bemerkte er, wie zwei Personen durch ein Sonnenblumenfeld auf ihn zukamen. Er befahl ihnen stehenzubleiben und die Hände zu heben, doch die beiden wichen zurück und flohen. K. schoss daraufhin zwei Leuchtraketen in die Luft, um besser sehen zu können, auch feuerte er einen Warnschuss ab, doch er konnte die beiden Flüchtenden nicht mehr erreichen. Anschließend erstattete er Meldung und berichtete dem eintreffenden Kommandanten den Vorfall. Daraufhin wurde der Befehl erteilt, die Grenze und den umliegenden Raum abzuriegeln. Im Abstand von 100 bis 150 Meter kam eine Postenkette 15 Meter vor der jugoslawischen Grenze zum Einsatz. Dass die Flucht jetzt noch gelingen konnte, war so gut wie ausgeschlossen. Der 22jährige Unteroffizier Imre T. erhielt den Auftrag die Abriegelung zu überwachen. Bei seinem Kontrollgang um 1.00 Uhr bemerkte er im hohen Gras die beiden Frauen. Nach seiner Aussage vor der Untersuchungsabteilung des Innenministeriums in Budapest richtete er seine Taschenlampe auf sie und befahl ihnen „fast brüllend“ aufzustehen. In diesem Moment habe die Mutter von Kerstin Helmhold begonnen in Richtung Jugoslawien zu laufen, während Kerstin Helmholdt stehenblieb. Imre T. drohte mit dem Schusswaffengebrauch und feuerte schließlich eine Salve als Warnschuss ab. Daraufhin sei Frau Helmholdt, die sich inzwischen nur wenige Schritte von jugoslawischem Gebiet entfernt dem Spurenstreifens befand, stehengeblieben. Imre T. sagte weiter aus, dass er sich nun der jüngeren Frau zuwandte. „Ich packte sie an der Kleidung und wollte sie so dazu zwingen vom Spurstreifen auf den Manöverweg zu treten. Da spritze sie mir mit dem Pfefferspray, das sie schon vorher in die Hand genommen hatte, welches ich aber zuvor nicht bemerkt hatte, ins Gesicht. Tränen übergossen meine Augen, ich spürte ein ätzendes Gefühl, konnte nichts mehr sehen und lies deshalb die Frau los und fasste mir mit beiden Händen ins Gesicht.“

Der Grenzsoldat Miklós Sz., der zur Abriegelung eingesetzt war, beobachtete aus einer Entfernung von etwa 50 Metern, wie die beiden Flüchtlinge entdeckt wurden. Nach seiner Aussage vor der Untersuchungsabteilung rannte er daraufhin zu Imre T. Als er ihm bis auf 15 Meter nahegekommen war, sah er, wie Imre T. sich ans Gesicht griff, während die Person, die dieser festnehmen wollte, über den Spurenstreifen in Richtung Grenze lief. Miklós Sz. erklärte, die flüchtende Person, die er nicht als Frau erkannt hatte, vorschriftsgemäß zum Stehenbleiben aufgefordert und den Waffengebrauch angekündigt zu haben. Er habe dann mit seiner Pistole zwei Warnschüsse abgefeuert, bevor er sich zu einem gezielten Schuss entschloss. „Ich hatte ihr Bein treffen wollen, doch alles ging so schnell: Ich schoss im Laufen und so traf die Kugel dann in die linke Schläfe.“ Kerstin Helmholdt fiel fünf Meter vor der Grenze auf den Spurenstreifen nieder. Ihre Mutter sagte bei der Vernehmung im Polizeihauptquartier in Bács-Kiskun aus, dass sie in ihrer Aufregung weder die Aufforderung des Grenzers noch die Warnschüsse gehört habe. Als sie ihre Tochter nicht mehr hinter sich bemerkte, habe sie sich umgewandt und gesehen, wie sie zu Boden sank. Dann sei sie zu ihr gelaufen. Der Schuss war tödlich, die Ersten-Hilfe-Maßnahmen, die die Grenzer gemeinsam mit dem inzwischen eingetroffenen Kommandanten leisteten, retteten Kerstin Helmholdt nicht mehr. Sie starb um 1.52 Uhr. Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch ihren Tod feststellen.

Vom ungarischen Staatssicherheitsdienst wurde Frau Helmholdt in ein Budapester Untersuchungsgefängnis gebracht. Dort willigte sie ein, dass der Leichnam ihrer Tochter eingeäschert und die Urne dem städtischen Friedhof in Blankenburg übergeben werden sollte. Am 13. August 1982 wurde sie aus Ungarn ausgewiesen und dem MfS übergeben. Gegen sie wurde ein Ermittlungsverfahren mit Haft wegen Verstoßes gegen den § 213 des DDR-Strafgesetzbuches eröffnet.

Hauptamtliche Mitarbeiter des MfS-Kreisdienststelle Wernigerode überwachten die Urnenbeisetzung Kerstin Helmholdts am 14. Dezember 1982, ohne „negative Momente“ feststellen zu können. Am 22. Dezember trat ihre Mutter eine zweijährige Haftstrafe in der Strafvollzugsanstalt Hoheneck an. Nach ihrer Entlassung stellte sie einen Ausreiseantrag und begann einen mehrjährigen Kampf um ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik, die der Rat des Kreises Wernigerode am 30. Juni 1989 bewilligte.
Gegen Gerhard M. erließ das ungarische Innenminium eine Einreisesperre, das MfS eröffnete gegen Uwe M. und seinen Vater am 18. August 1982 einen Operativvorgang mit Namen „Spray“. Gerhard M. habe nach Ansicht des MfS-Oberstleutnants Pfütze die strafrechtliche und moralische Verantwortung für den Tod von Kerstin Helmholdt getragen. Der Operativvorgang wurde am 25. April 1983 geschlossen.


Biografie von Kerstin Helmholdt, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/447-kerstin-helmholdt/, Letzter Zugriff: 21.11.2024