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Biografisches Handbuch

Jürgen Schwarz

geboren am 22. Mai 1952 in Leisnig, OT Altleisnig (Landkreis Mittelsachsen) | ertrunken am 25. August 1989 | in der Donau bei Komárno, Slowakei
Als Jürgen Schwarz feststellen musste, dass seine Ehefrau mit einem Nachbarn nach Ungarn aufgebrochen war, um von dort aus nach Österreich zu flüchten, folgte er ihr einen Tag später gemeinsam mit seiner jugendlichen Tochter. Beim Versuch, die Donau von der ČSSR aus nach Ungarn zu durchschwimmen, ertrank der 37-jährige Filmvorführer. Seine Tochter erreichte allein das ungarische Ufer.

Walter Jürgen Schwarz wurde am 22. Mai 1952 im sächsischen Altleisnig geboren, seine Eltern waren Walter Schwarz und Eva Schwarz, geb. Mücke. Von 1958 bis 1968 besuchte er bis zum Abschluss der 10. Klasse die Polytechnische Oberschule in Leisnig. Während der schulischen Ausbildung erlernte er zudem den Schlosserberuf. Seit 1970 arbeitete er in wechselnden Betrieben als Kraftfahrer, 1978 setzte ihn das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten als Fahrer der DDR-Botschaft in Aden (VR Jemen) ein, wo er bis zum 14. Juli 1981 beschäftigt war. Am 21. August 1978 wurde er in die SED aufgenommen. Nach seiner Rückkehr in die DDR zog er nach Waldheim. Dort arbeitete er als Kraftfahrer der örtlichen Gebäudewirtschaft und heiratete. Aus der später wieder geschiedenen Ehe ging 1973 eine Tochter hervor. 1986 zog Jürgen Schwarz nach Bad Düben und nahm am 1. Oktober 1986 eine Tätigkeit als Kino-Rundfunkmechaniker beim NVA-Bataillon Chemische Abwehr (BChA-3) an – er wurde Filmvorführer. Hier schloss er eine zweite Ehe mit einer Zivilbeschäftigten der NVA in Bad Düben. Die Tochter von Jürgen Schwarz lebte mit dem Ehepaar in einem Wohnhaus der NVA.

Im November 1988 wurde die für die Überwachung der NVA zuständige Hauptabteilung I des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf Familie Schwarz aufmerksam, weil sie ohne Zustimmung des Kommandeurs persönliche und postalische Verbindungen in die Bundesrepublik unterhielt. Dies war für das MfS umso alarmierender, als befreundete Nachbarn, das Ehepaar Peter und Birgit E., ebenfalls unerlaubte Westkontakte pflegten und sogar Verwandte aus Westdeutschland bei diesen Familien im NVA-Wohnobjekt zu Besuch kamen. Peter E., Jahrgang 1960, war Oberfähnrich der NVA. Im Rahmen der Erfassung für die Kerblochkartei des MfS wurde das verwandtschaftliche Umfeld der Familie Schwarz der Postkontrolle unterzogen, Besucher wurden durch die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS IM „Brigitte“ und „Bernd“ gemeldet und heimlich fotografiert. Während das MfS mit diesen beiden IM über einen Zugang zum Privatleben und der Wohnung von Jürgen Schwarz hatte, überwachte ein IM „Karl-Heinz“ seine dienstliche Tätigkeit. Es sollte u.a. geklärt werden, welchen Charakter seine Beziehungen zu Westdeutschen hatten und welchen „negativen, politischen Einfluß“ Jürgen Schwarz und Peter E. aufeinander ausübten. Für Peter E. hatten die MfS-Ermittlungen bald berufliche Konsequenzen. Er wurde im März 1989 aus dem Militärdienst entlassen, da er den Kontakt zu seiner Schwester aufrechterhielt, die 1987 in den Westen geflohen war. Am 19. Juli 1989 vermerkte das MfS als „operative Momente“ zu Schwarz, dass er „ideologische Aufweichungserscheinungen“ zeige und die Absicht habe, aus der SED auszutreten.

In der zweiten Julihälfte 1989 verbrachten die Familien Schwarz und E. einen gemeinsamen Camping-Urlaub am Balaton-See in Ungarn. Bereits am 27. Juni waren die Bilder um die Welt gegangen, die den Außenminister Ungarns Gyula Horn und seinen österreichischen Amtskollegen Alois Mock zeigten, wie sie symbolisch ein Loch in den ungarischen Grenzzaun schnitten. In Ungarn fanden sich mehr und mehr DDR-Bürger ein, die nach Möglichkeiten suchten, das Land in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Auch für die Familien Schwarz und E. am Balaton war dies ein Gesprächsthema. Doch als Peter E. laut drüber nachdachte, die Chance zu nutzen und gemeinsam Richtung Westen aufzubrechen, fassten das die anderen als Scherz auf, der keiner weiteren Überlegung wert sei. Nicht so jedoch Frau Schwarz. Bald nach ihrer Rückkehr müssen sie und Peter E. vereinbart haben, noch einmal nach Ungarn zu fahren und dort eine Flucht über die durchlässig gewordene Grenze zu versuchen. In der Bundesrepublik würde die Schwester von Peter E. sie aufnehmen können. Am Mittwoch den 23. August 1989 brachen sie auf. Gemeinsam durchschwammen sie die Donau, da sie ohne Visa nicht mehr aus der Tschechoslowakei nach Ungarn ausreisen durften, hielten sich noch bis Anfang September in Ungarn auf, überquerten dann die Grenze nach Österreich und gelangten von dort zu E.‘s Schwester nach Westdeutschland. Am 19. September meldete sich Frau Schwarz aus Baden-Württemberg bei ihren Eltern in Leipzig.

Am 23. August suchte Jürgen Schwarz gegen 21.00 Uhr seinen Vorgesetzten, den Stellvertreter des Kommandeurs für politische Arbeit, in dessen Wohnung auf und bat ihn um zwei Tage Urlaub, da seine Frau verschwunden sei. Schwarz habe einen „konfusen, verstörten Eindruck“ gemacht, berichtete der Vorgesetzte später. Der Urlaub wurde ihm gewährt. Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr verließ Jürgen Schwarz mit seiner 15-jährigen Tochter Bad Düben. Er vermutete, dass seine Ehefrau und Peter E. vorhatten, über Ungarn in den Westen zu flüchten. Da sie die Bahn nehmen müssten, wollte er sie mit dem Auto einholen. Die Tochter sagte am 29. August bei einer Vernehmung durch das MfS aus, dass ihr Vater „völlig ratlos“ über das Verschwinden seiner Ehefrau gewesen sei und sie Angst um ihn gehabt habe. Er wollte seine Frau wiederfinden und zur Rückkehr in die DDR bewegen. „Sollte sie aber über Österreich in die BRD wollen, wäre Vati mit ihr mitgegangen. Er war fest entschlossen, diesen Weg mitzugehen, wenn es dem Erhalt der Ehe dient. Ich selbst wäre meinem Vater nach Österreich gefolgt.“

Mit seinem delphingrauen Trabant fuhren Jürgen Schwarz und seine Tochter über den Grenzübergang Bahraetal in die ČSSR und von dort über Brno und Bratislava direkt nach Komárno an die Donau, in deren Mitte die Grenze zu Ungarn verläuft. Da sie kein Visum für Ungarn hatten, konnten nicht sie legal einreisen. Sie erreichten Komárno gegen 22.00 Uhr. Am nächsten Tag, dem 25. August, stiegen sie in der Nähe des Ortes gegen 17.00 Uhr in die Donau. Jürgen Schwarz hatte ihre Personalausweise in seinem Brustbeutel verstaut, Kleidung und persönliche Gegenstände packte er in einen Plastikbeutel. Dann begannen beide in Richtung des ungarischen Ufers zu schwimmen. Der Fluss war an dieser Stelle etwa 200 m breit. Als sie seine Mitte erreichten, wurden beide von der Strömung erfasst. Die Tochter, die ihren Vater bald aus dem Blickfeld verloren hatte, gelangte allein an das ungarische Ufer. Sie suchte ihn erfolglos und schlief schließlich vor Erschöpfung ein. Am 26. August fuhr sie per Anhalter in Richtung österreichische Grenze, weil sie annahm, ihr Vater sei bereits dorthin aufgebrochen. Etwa 10 km vor ihrem Ziel wurde sie von einer Zivilstreife der Polizei festgenommen, da sie keinen Ausweis bei sich hatte, und am selben Tag am Grenzübergang Rusovce den tschechoslowakischen Behörden übergeben, die sie in die DDR auswiesen. Das DDR-Konsulat in Bratislava stattete sie mit einem Ausweis und Geld für die Rückfahrt aus. Am Abend des 28. August kehrte sie in die elterliche Wohnung zurück, wurde zunächst von der Volkspolizei befragt und anschließend bei ihren Großeltern untergebracht. Später übernahm ein Bad Dübener Ehepaar die Vormundschaft.

Der Staatssicherheitsdienst erhielt am 27. August 1989 die Information über die Flucht von Jürgen Schwarz. Dort war man überrascht; es gab, wie es im Abschlussbericht der HA I vom 22. September 1989 heißt, keine Vorbereitungshandlungen oder vorausgehenden Hinweise, vielmehr müsse er seinen Entschluss in einer Konfliktsituation spontan gefällt haben. Die eingesetzten Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS hätten trotz persönlicher Verbindungen zu Jürgen Schwarz „keine Absichtserklärungen bzw. erkennbare Reaktionen und Verhaltensweisen im Sinne der späteren Handlungen“ bemerken können.

Am 29. August entdeckte ein Fischer gegen 20.00 Uhr die Leiche von Jürgen Schwarz am Donauufer bei Kravany nad Dunajom, etwa 30 km flussabwärts von Komárno entfernt. Nach der Bergung konnte man den Toten durch den mitgeführten Personalausweis identifizieren. Die Obduktion fand am 31. August 1989 im Krankenhaus von Nové Zámky statt. Als Todesursache wurde Ertrinken festgestellt. Am selben Tag meldete das Konsulat in Bratislava den Leichenfund dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) in Berlin. Dieses benachrichtigte am 1. September den Rat der Stadt Bad Düben, um die Überführung der Leiche und die Nachlassangelegenheiten zu regeln. Die Urne von Jürgen Schwarz wurde am 22. September 1989 auf dem evangelischen Stadtfriedhof in Bad Düben beigesetzt. Eine Todesanzeige durfte auf Weisung der MfS-Bezirksverwaltung in Leipzig nicht veröffentlicht werden. Am 13. November 1989 verfügte der Militärstaatsanwalt in Leipzig, Oberstleutnant Prengel, dass von einem Ermittlungsverfahren abgesehen wird. Die Untersuchungen hätten ergeben, „daß ein Unglücksfall vorliegt“.


Biografie von Jürgen Schwarz, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/434-juergen-schwarz/, Letzter Zugriff: 21.12.2024