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Biografisches Handbuch

Steffen Anders

geboren am 21. August 1977 in Altenburg | ertrunken am 24. August 1983 | im Donauzufluss Waag (slow. Váh, ung. Vág), nordöstlich von Komárno
Der 6jährige Steffen Anders aus Altenburg ertrank am 24. August 1983, als seine Mutter Monika Anders und deren Freund Wolfgang H. gemeinsam mit ihm den Fluss Waag in Höhe der Stadt Komárno durchschwammen. Sie hatten fälschlicherweise angenommen, dass es sich um die Donau handele, von dort wollten sie über Jugoslawien in den Westen flüchten.

Steffen Anders erblickte am 21. August 1977 als uneheliches Kind der 1955 geborenen Facharbeiterin für Druckformenherstellung Monika Kamprad und Bernd Anders das Licht der Welt. Am 1. November 1977 erkannte Anders die Vaterschaft an und Steffen Kamprad hieß fortan Steffen Anders. Um geeigneten Wohnraum zu bekommen, heirateten Monika Kamprad und Bernd Anders am 6. Oktober 1979, ließen sich jedoch im April 1981 wieder scheiden. Bernd Anders bekam die eheliche Wohnung in der Altenburger Otto-Buchwitz-Straße zugesprochen, verpflichtete sich jedoch dazu, für seine geschiedene Frau und Steffen eine Wohnung auszubauen. Dieser Verpflichtung kam er nicht nach und Monika Anders und Steffen lebten weiterhin mit Bernd Anders unter einem Dach.

Im April 1983 lernte Monika Anders über ein Inserat in einer Wochenzeitschrift den ebenfalls 1955 geborenen Wolfgang H. kennen. Der in Deutzen – etwa 16 Kilometer nördlich von Altenburg gelegen – lebende Elektromonteur war ebenfalls geschieden. Er zog kurze Zeit später zu Monika Anders nach Altenburg. Dies führte zu Konflikten und Auseinandersetzungen, da der ehemalige Ehemann Bernd Anders ebenfalls noch dort wohnte. Die Situation war so untragbar und belastend, dass sich Monika Anders und ihr Freund H. bereit erklärten, bis zum November 1983 aus der Wohnung auszuziehen. Sie unternahmen verstärkte Anstrengungen, eine geeignete Wohnung für sich und Steffen zu finden. H., seit 1972 Mitglied der SED, schrieb Eingaben, und Monika Anders hielt immer wieder Rücksprachen bei der Abteilung Wohnungspolitik des Rates der Stadt Altenburg. Als ihr allerdings bei einem wiederholten Gesprächstermin beim Rat der Stadt am 23. August 1983 wieder keine Wohnung in Aussicht gestellt werden konnte, und auch der Versuch fehlschlug, in Zwickau Arbeit und eine Wohnung zu finden, entschlossen sich Wolfgang H. und Monika Anders noch am selben Tag dazu, gemeinsam mit dem Sohn Steffen die DDR zu verlassen. Konkrete Vorstellungen über die Durchführung dieses Vorhabens hatten sie zu diesem Zeitpunkt nicht.

Monika Anders und Wolfgang H. suchten mit Hilfe eines alten Schulatlanten nach einer möglichen Fluchtroute. Sie wollten visafrei in die Tschechoslowakei einreisen, weiter über die Grenze zu Ungarn, um über Jugoslawien nach Italien oder in die Türkei schließlich nach Westdeutschland zu gelangen. H., der zu diesem Zeitpunkt gerade Urlaub hatte, drängte darauf, noch am gleichen Abend, also am 23. August 1983, mit der Umsetzung des Fluchtplans zu beginnen. Dem kleinen Steffen sagten sie, sie würden eine Urlaubsreise unternehmen.

Nachdem H. 1.500 Mark von seinem Konto abgehoben hatte, fuhren sie mit dem Zug von Altenburg nach Leipzig und gegen 21.30 Uhr von dort weiter Richtung Prag. Dort angekommen tauschten sie DDR-Mark gegen Kronen und kauften zur besseren Orientierung einen Autoatlas der ČSSR. Von dort reisten sie mit dem Zug weiter nach Bratislava. Während dieser Fahrt befragte H. mitreisende ČSSR-Bürger nach der besten Stelle, um die Donau Richtung Ungarn zu überqueren. Ihnen wurde die Gegend von Komárno oder Sturovo genannt. Deswegen brachen sie nach Komárno auf, wo sie am 24. August gegen 20.30 Uhr eintrafen. Sie gaben ihren Koffer als Reisegepäck Richtung Budapest auf, um ihn dort nach dem erfolgreichen Überwinden der Grenze wieder abholen zu können. Danach fuhren sie per Anhalter bis zur Grenzübergangsstelle Komárno. Da sie  die Grenze nach Ungarn jedoch außerhalb der Grenzübergangsstelle überwinden wollten, liefen sie etwa 20 Minuten landeinwärts in nördliche Richtung. Zwischen 22.00 Uhr und 23.30 Uhr – es war noch immer der 24. August – stießen sie auf den Fluss Waag, der bei Komárno in die Donau mündet. Sie glaubten jedoch, sie hätten bereits  die Donau erreicht.

Während H. sich nach einer günstigen Stelle für die Flussüberquerung umschaute, blieben Monika Anders und ihr Sohn Steffen in einem Versteck am Ufer. Steffen schlief, müde von der langen Reise, bald ein. Monika Anders bekam nun Bedenken. Dieses breite und unbekannte Gewässer sollten sie nachts in voller Bekleidung durchschwimmen? Ihr sechsjähriger Sohn konnte noch gar nicht schwimmen, und Hilfsmittel wie einen Schwimmring oder ähnliches, an dem er sich hätte festhalten können, hatten sie nicht dabei. Deshalb schlug sie nach H.s Rückkehr von der Erkundungstour vor, den Fluchtversuch lieber auf den nächsten Tag zu verschieben. Doch H. wollte keine Zeit verlieren. Er befürchtete, dass in der DDR bereits nach ihnen gefahndet würde. Zudem hielt er sich für einen guten Schwimmer, da er während seiner Schulzeit das Schwimmabzeichen der Stufe III erworben hatte. Dafür hatte er in einer kurzen Zeit jeweils 100 m in zwei Schwimmarten zurücklegen müssen. Monika  Anders ließ sich umstimmen und weckte ihren Sohn, der noch verschlafen äußerte, er wolle um diese Zeit nicht mehr „baden“ gehen. Doch Wolfgang H. nahm den Jungen auf seinen Rücken und ging ins Wasser. Bereits beim Losschwimmen merkte er, dass es besonderer Kraftanstrengungen bedurfte, um mit dem Kind auf dem Rücken in der Strömung voran zu kommen. Der kleine Junge hielt sich an H.s Schultern fest, eine weitere Sicherung des Kindes, etwa durch ein Seil, gab es nicht. Monika Anders schwamm etwa drei bis vier Meter neben Wolfgang H. und ihrem Sohn. Sie trug eine Handtasche und einen Plastikbeutel mit Wäsche bei sich.

Etwa in der Mitte des Flusses konnte Wolfgang H. sich und das Kind nicht mehr über Wasser halten. Das Körpergewicht des Jungen drückte ihn in der Strömung unter Wasser. Er fürchtete zu ertrinken und rief Monika Anders um Hilfe. Als sie ihren Sohn von H.s Schultern nahm, und ihn vor ihre Brust hielt, krallte er sich in Todesangst um ihren Hals und drückte ihr die Luft ab. Es gelang ihr nicht, sich aus der Umklammerung zu befreien, doch schaffte sie es anfangs noch, den Kopf ihres Sohnes über Wasser zu halten. Doch nach und nach erlahmten ihre Kräfte. Ihr Sohn, der immer mehr Wasser schluckte, konnte sich nicht mehr an seiner Mutter festhalten und versank im Fluss.

Monika Anders und Wolfgang H. waren nicht mehr in der Lage, zu tauchen und nach dem Jungen zu suchen.  Sie schwammen zum gegenüberliegenden Ufer und glaubten, es nach Ungarn geschafft zu haben. Die verzweifelte Mutter wollte nach ihrem Sohn suchen, doch H. hielt sie mit der Begründung davon ab, dies sei aussichtslos und würde ihr Fluchtvorhaben gefährden. Sie liefen in östlicher Richtung und stießen auf ein Ortseingangsschild, dem sie entnehmen mussten, dass sie sich nicht in Ungarn, sondern noch immer auf dem Territorium der ČSSR befanden. Statt der Donau hatten sie die Waag, einen aus nördlicher Richtung kommenden Donauzufluss, etwa 2,50 m tief und 180 m breit, durchschwommen.

Das Paar kehrte nun nach Komárno zurück und traf dort auf einen türkischen LKW-Fahrer, der sie in seinem LKW schlafen ließ. Am frühen Morgen des 25. August fuhren sie mit ihm nach Bratislava, kauften erneut einen Autoatlas, da sie den ersten bei der Flussüberquerung verloren hatten. Von Bratislava fuhren sie mit dem Zug Richtung Sturovo, und von dort mit dem Bus in das etwa 13 km entfernte Chlaba. Dort versuchten sie, über die tschechoslowakische Staatsgrenze nach Ungarn zu gelangen. Dabei wurden sie jedoch von ČSSR-Grenzwachen festgenommen.

Am 26. August 1983 gegen 15.30 Uhr fand eine Grenzstreife am Flusskilometer 1.741, etwa 30 km donauabwärts in der Nähe von Kravany nad Dunajom, die Leiche von Steffen Anders. Die durchgeführte Obduktion ergab als Todesursache Ersticken durch Ertrinken. Am 29. August 1983 musste Monika Anders die Leiche ihres Kindes in Komárno identifizieren. Laut Obduktionsprotokoll war Steffen Anders etwa 1,10 m groß und hatte eine sportliche Gestalt. Seine Haare waren kurz und blond, er hatte ein schmales Kinn und etwas breitere Wangen. Er trug einen selbstgestrickten orangefarbenen Pullover mit blauen Querstreifen. In der Innenseite des Pullovers war sein Name „Steffen Anders“ eingestickt. Zudem trug er kurze blaue Jeans und Sandalen, auf denen mit Kugelschreiber ebenfalls der Name geschrieben stand.

BildunterschriftFluss Waag, Ort des Geschehens (Vermessung vom 9.9.1980)
BildquelleBStU MfS, HA IX, Nr. 5713
Abb. 1:

Am 9. September 1983 wurde Steffen Anders auf den Wunsch der Mutter im Krematorium Bratislava eingeäschert. Auf dem Bestätigungsschreiben der Einäscherung des Krematoriums in Bratislava vom selben Tag findet sich ein maschinengeschriebener Vermerk in slowakischer Sprache, dass die Urne auf Weisung des Generalkonsuls der DDR an den Städtischen Friedhof in Altenburg geschickt werden solle. Monika Anders sprach sich jedoch dafür aus, ihren Sohn in der Nähe des Ereignisortes zu bestatten.

Monika Anders und Wolfgang H. blieben bis zum 29. August 1983 als Untersuchungshäftlinge in Komárno, bevor sie in das Gefängnis Bratislava überstellt wurden. Ein gegen sie eingeleitetes Strafverfahren wurde nach ihrer Auslieferung in die DDR am 7. September 1983 eingestellt. In der DDR leitete die Bezirksverwaltung Leipzig ein Ermittlungsverfahren gegen sie ein. Vor der Strafkammer des Kreisgerichtes Borna mussten sie sich wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung verantworten.  Am 23. Dezember 1983 wurde Wolfgang H. zu 5 Jahren und 6 Monaten, Monika Anders zu 2 Jahren Haft verurteilt. Auf der Anklageschrift ist jedoch handschriftlich vermerkt, dass ihre Strafe auf 4 Jahre und 6 Monaten zu erhöhen sei.

Wolfgang H. stellte am 6. Mai 1984 aus der Haftanstalt Bautzen heraus einen Antrag auf Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Monika Anders jedoch wollte keinen solchen Antrag stellen, wie sie ihm am 10. Mai 1984 bei einem Zusammentreffen in der Haftanstalt deutlich machte. Wolfgang H. zog seinen Antrag daraufhin zurück. Etwa anderthalb Jahre später, am 11. September 1985, kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

Monika Anders wurde am 27. Februar 1986 aus der Haft entlassen. Den Tod ihres Sohnes Steffen hat sie wohl nie verkraftet. Am 13. September 1986, zwei Tage vor ihrem 31. Geburtstag, nahm sie sich in ihrer Altenburger Wohnung das Leben. Zehn Tage später wurde sie auf dem Städtischen Friedhof Altenburg in der Abt. 4 Nr. 151 beigesetzt. Nach ihrem Tod wurde auch ihr Sohn Steffen in dieses Grab umgebettet. Im Jahr 2007 liefen die Nutzungsrechte aus und die Grabstätte wurde beräumt.


Biografie von Steffen Anders, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/411-steffen-anders/, Letzter Zugriff: 21.11.2024