Logo

Suche im Biographischem Handbuch

Biografisches Handbuch

Gudrun Lehmann

geboren am 5. September 1938 in Gotha | nach gescheitertem Fluchtversuch gestorben am Abend des 4. August 1967 an einer Überdosis Morphium | im Bezirkskrankenhaus Burgas
BildunterschriftGudrun Lehmann
BildquelleArchiv Stefan Appelius
EPSON scanner image
Quelle: Archiv Stefan Appelius
Drei Fluchthelfer wollten im August 1967 die DDR-Ärztin Gudrun Lehmann mit gefälschten Papieren über die bulgarisch-türkische Grenze in den Westen bringen. Das Vorhaben scheiterte schon bei der Einreise der Fluchthelfer am Grenzübergang Kalotina. Gudrun Lehmann, die im bulgarischen Urlaubsort Nessebar vergeblich ihre Fluchthelfer erwartete, starb vier Tage nach deren Festnahme an einer Überdosis Morphium.

Gudrun Lehmann kam am 5. September 1938 als Tochter der Krankenschwester Gertrude Lehmann und der Arztes Herbert Lehmann in Gotha zur Welt. Sie war das dritte Kind der Familie. Ihre Geschwister, die Zwillinge Peter und Brigitte Lehmann, waren im Mai 1937 geboren. Die Ehe der Eltern endete 1955 mit einer Scheidung. Die Zwillinge wurden dem Vater zugesprochen, Gudrun blieb bei der Mutter. Aus einer außerehelichen Beziehung ihres Vaters ging eine Halbschwester hervor. Herbert Lehmann flüchtete 1956 mit den Zwillingen nach Westdeutschland. Sein Sohn Peter war kurz zuvor aus einer einjährigen Strafhaft entlassen worden, zu der er verurteilt worden war, weil er im Stadtgebiet von Karl-Marx-Stadt Flugblätter des Ostbüros der SPD verbreitet hatte.

Gertrude Lehmann verdiente als Krankenschwester im VEB Elektronische Rechenmaschinen Karl-Marx-Stadt den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter. Gudrun Lehmann studierte nach dem Abitur bis 1964 an der Medizinischen Akademie in Magdeburg. Dort wurde sie 1963 Mitglied der SED. Nach ihrem Studienabschluss arbeitete sie als Ärztin im thüringischen Ohrdruf und danach als Ambulanzärztin in Kieselbach, Kreis Bad Salzungen. Dort wollte sie sich zur Fachärztin für allgemeine Medizin weiterbilden. In einer späteren Beurteilung des DDR-Staatssicherheitsdienstes wurde ihre Einstellung „zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat“ als „nicht sehr positiv“ bezeichnet.  „Sie zahlte weder in der Abteilung Gesundheitswesen noch in der WPO [Wohnparteiorganisation] ihren Parteibeitrag. Das lehnte sie einfach ab.” Auch habe sie im Wohngebiet keine öffentlichen Veranstaltungen besucht. Sie pflege keine Männerbekanntschaften und habe häufig Westbesuch erhalten.

Nach Ermittlungen des Staatssicherheitsdienstes nahm Gudrun Lehmann über das Deutsche Rote Kreuz (West) 1962 Verbindung mit ihrem Bruder Peter und ihrem Vater auf, die sie in der Folgezeit häufiger in der DDR besuchten. Es kam auch zu Treffen mit ihrer Schwester Brigitte, die den Holländer Antony van den Boorn geheiratet hatte und in Maastricht lebte. Seit 1964 erörterte Gudrun Lehmann mit ihren Westverwandten Fluchtmöglichkeiten. Da der Weg über die innerdeutsche Grenze zu gefährlich schien, erkundete Antony van den Boorn andere Fluchtwege und bekam von türkischen Bekannten Hinweise auf erfolgreiche Fluchten über den Grenzübergang Kapitan Andreewo an der bulgarisch-türkischen Grenze. Um diese Möglichkeit zu erkunden, trat das Ehepaar van den Boorn im Sommer 1966 eine Reise nach Bulgarien an, die allerdings durch einen schweren Verkehrsunfall bereits in Österreich vorzeitig endete. Mit der Begründung, dass bei dem Unfall ihre Reisepässe verbrannt seien, beantragte Antony van den Boorn nach der Rückkehr in Maastricht neue Reisdokumente. Da sich seine Frau Brigitte noch im Krankenhaus befand, reichte er auch für sie den Antrag auf einen neuen Pass ein und fügte dem ein Bild seiner Schwägerin Gudrun Lehmann bei. Das fiel das den Maastrichter Behörden wegen des ähnlichen Aussehens der beiden Schwestern nicht weiter auf.

Anfang 1967 traf Gudrun Lehmann ihren Vater Herbert in Ost-Berlin und erhielt von ihm die Mitteilung über eine Fluchtmöglichkeit mit den holländischen Papieren ihrer Schwester Brigitte. Gudrun Lehmann buchte daraufhin beim DDR-Reisebüro einen Ferienaufenthalt in Nessebar-Sonnenstrand. Als sie sich vor ihrer Urlaubsreise in Kieselbach von der Gemeindeschwester und einer Ambulanzmitarbeiterin verabschiedete, soll sie einen bedrückten Eindruck gemacht haben. Die Gemeindeschwester sagte später aus, die Ärztin habe sie entgegen ihrer Art umarmt und ihr alles Gute und ein Lebewohl gewünscht. Am 27. Juli 1967 traf Gudrun Lehmann mit der DDR-Reisgruppe Nr. 6552 für einen zweiwöchigen Urlaubsaufenthalt in Nessebar ein. Im dortigem Hotel „Europa“ teilte sie sich das Zimmer 1219 mit der Mitreisenden Margit Ebert, einer Lehrerin, die zur selben Reisgruppe gehörte. Ein Mitreisender Arzt, der während einer Weinprobe am 31. Juli 1967 in einem alten Kellerlokal neben den beiden Frauen saß, erinnerte sich an einen vergnügten Abend. Auf dem Rückweg zum Hotel sei Gudrun Lehmann sehr fröhlich gewesen und habe „auf der Straße wildfremde Männer abgeküßt“. Am nächsten Morgen meldeten sich die beiden Frauen bei der Reiseleiterin Dorothe Leven nach Burgas ab. Von dort aus unternahmen sie mit einem Taxi einen Ausflug nach Stara Sagora, da Gudrun Lehmann dort, wie sie ihrer Bekannten sagte, einen alten Freund treffen wolle. In der Stadt angekommen, trennten sie sich. Nach einer Stadtbesichtigung fuhr Frau Ebert mit dem Taxi nach Nessebar zurück. Sie traf dort im Hotel „Europa“ am frühen Abend ein und meldete sich zurück. Gudrun Lehmann kehrte erst in den frühen Morgenstunden des 2. August zurück. Dem Mitarbeiter der Ständigen Vertretung des DDR-Reisebüros in Nessebar Henke, berichtete Frau Ebert drei Tage später in einer „Aussprache“, dass ihre Mitbewohnerin mit ihr „sehr gut gelaunt die Fahrt nach Stara Sagora angetreten habe, jedoch sehr enttäuscht und gebrochen zurückgekommen ist“. Sie habe zur Begründung ihrer Niedergeschlagenheit erklärt, dass sie in Stara Sagora feststellen musste, dass ihr Freund, den sie besuchen wollte, dort verheiratet sei.

Tatsächlich aber hatte sie in der Stadt vergeblich auf ihren Schwager gewartet, der sie über die Grenze bringen sollte. Was geschehen war teilte die „Operativgruppe VR Bulgarien“ des DDR-Staatssicherheitsdienstes am 5. August 1967 der Berliner Zentrale als ein „besonderes Vorkommnis am Kurort Sonnenstrand“ mit. Demnach hatten bulgarische Passkontrolleure am 1. August 1967 drei Personen bei der Einreise am Grenzkontrollpunkt Kalotina festgenommen. Es handelte sich dabei um den holländischen Staatsbürger Antony van den Boorn, den Solinger Lehrer Peter Lehmann und dessen Kollegen Wilfried Kadur. Die beiden Deutschen trafen mit einem Opel Kapitän, der Holländer mit einem PKW NSU kurz nacheinander am Grenzübergang ein. Bei der Einreise legte van den Boorn „den Paß einer van den Boorn, Brigitte, Holländerin mit zur Abstempelung vor, obwohl sich eine solche nicht im PKW befand“. Bei der Befragung durch die bulgarischen Sicherheitsleute habe van den Boorn zugegeben, „daß dieser Paß in Holland angefertigt worden sei und daß damit eine DDR-Bürgerin namens Lehmann, Gudrun, die sich gegenwärtig am Kurort Sonnenstrand im Hotel Europa aufhalte, aus der VR Bulgarien ausgeschleust werden sollte“. Nach einer Überprüfung der Einreiseunterlagen wollten die bulgarischen Sicherheitsorgane Gudrun Lehmann am frühen Abend des 2. August 1967 in ihrem Hotel festnehmen. Sie fanden die 29-Jährige jedoch dort bewusstlos im Bett liegend vor. Ihre Mitbewohnerin Margit Ebert berichtete, dass ihre Mitbewohnerin nach der Rückkehr am frühen Morgen eine schwere Gallenkolik erlitten und durch einen Anruf in der Poliklinik einen bulgarischen Arzt um eine Morphiumspritze gebeten hatte. Der Arzt habe sich jedoch nicht bereit erklärt in das Hotel zu kommen, sondern Gudrun Lehmann aufgefordert, die Klinik aufzusuchen. Das sei ihr aber wegen der starken Schmerzen nicht möglich gewesen. Sie habe sich daraufhin selbst eine doppelte Dosis des Schlafmittels Luminal gespritzt. Am Vormittag des 2. August behandelte ein mitreisender Arzt aus der DDR ihre Schmerzen, indem er ihr Morphium und Atropin spritzte. Als Margit Ebert am Nachmittag vom Strand zurückkehrte und Gudrun Lehmann in apathischem Zustand im Bett antraf, bat sie den im selben Hotel wohnende Kreisarzt aus Schkopau, Dr. Alfred Scheigele, hinzu. Er stellte einen nur schwachen Pulsschlag bei Gudrun Lehmann fest und erklärte, sie müsse bei einer weiteren Verschlechterung in ein Krankenhaus eingewiesen werden. Gegen 19:00 Uhr suchte ihn Frau Ebert sehr aufgeregt in seinem Zimmer auf und berichtete, dass  ihre Mitbewohnerin nicht mehr ansprechbar sei. Dr. Scheigele fand Gudrun Lehmann im Zustand der Agonie vor und veranlasste gemeinsam mit einem von der Miliz herbeigerufenen bulgarischen Arzt ihre sofortige Krankenhauseinweisung. Bei der Einlieferung in das Bezirkskrankenhaus Burgas war die Patientin bereits ins Koma gefallen. Den behandelnden Ärzten gelang es jedoch trotz künstlicher Beatmung nicht, ihren Zustand zu stabilisieren. Sie starb am Abend des 4. August 1967 ohne ihr Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Als Todesursache stellten die Obduzenten eine Morphium-Vergiftung fest. Im Sektionsprotokoll von Dr. Iwanow Walkow, Gerichtsmediziner am Bezirkskrankenhaus Burgas, wurde festgehalten, dass im Blut der Verstorbenen starke Spuren von Morphium enthalten waren. Injektionsstiche wurden in der Armbeuge beider Ellenbogengelenke sowie auf beiden Oberarmflächen und auf der vorderen Fläche des Oberschenkels festgestellt. Die Untersuchung des Magens ergab eine schwere toxische Hepatitis. Der Tod trat durch Herzschwäche infolge schwerer toxischer Distrophinänderungen der inneren Organe, des Gehirns, der Nieren und der Leber ein.

Am 6. August suchte ein Volkspolizist Getrude Lehmann in ihrer Wohnung auf und teilte ihr den Tod ihrer Tochter mit. Angaben, was geschehen war, konnte er auf Nachfrage der Mutter nicht machen. Gudrun Lehmanns Leiche wurde am 9. August 1967 per Zug nach Karl-Marx-Stadt überführt und dort auf Wunsch der Mutter beigesetzt. An demselben Tag erhielt Brigitte van den Boorn, die vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes wartete, ein Telegramm aus der DDR: „Gudrun in Bulgarien gestorben. Todesursache unbekannt.“ Das Auswärtige Amt und das niederländische Außenministerium hatten unterdessen ihre Vertretungen in Sofia mit der Suche nach den drei vermissten jungen Männern beauftragt. Am 10. August 1967 schrieb Gertrude Lehmann an das DDR-Außenministerium (MfAA) und bat „ebenso herzlich wie dringend, mir mitzuteilen, was geschehen ist, und wie es zu dem fürchterlichen Unglück gekommen ist. Ich bitte Sie ganz von Herzen, mir als der Mutter, zu sagen, wie mein Kind ums Leben gekommen ist.“ Auf Nachfrage beim Ministerium für Staatssicherheit empfahl ein Hauptmann Müller aus der MfS-Hauptabteilung XX/1 dem MfAA am 18. August 1967, den Brief der Mutter Gertrude Lehmann in höflicher Form zu beantworten und darauf hinzuweisen, „daß der Selbstmord, der auf die Tätigkeit von Feindorganisationen zurückzuführen ist, die gegen die DDR und ihre Bürger einen aktiven Kampf führen, bedauert wird“. Eine weitere Auskunft könne das MfAA nicht geben.

Am 15. August 1967 berichteten westdeutsche Zeitungen ausführlich über die gescheiterte Fluchthilfe und den Tod einer DDR-Ärztin in Bulgarien. BILD schrieb am folgenden Tag: „Der Versuch des Solingers Peter Lehmann (30) seine in der Sowjetzone lebende Schwester Gudrun über Bulgarien in den Westen zu holen hat ein tragisches Ende gefunden.“ Am 17. August bestätigte das Neue Deutschland ohne Namensangabe den Todesfall unter der Überschrift „Agenten unschädlich gemacht“. Diese hätten versucht, „mit Hilfe eines ausländischen Passes eine in Bulgarien weilende DDR-Staatsangehörige ins westliche Ausland zu verschleppen“. Die Aktion sei systematisch und von langer Hand vorbereitet worden. „Durch Vorspiegelung falscher Tatsachen und Anwendung psychischen Drucks zur Verzweiflung getrieben, beging die DDR-Bürgerin Selbstmord“.

Ebenfalls an 17. August 1967 meldete dpa: „Verhaftete Fluchthelfer wieder in Freiheit. Zone bestätigt Selbstmord von Gudrun Lehmann“. Während Peter Lehmann und Wilfried Kadur nach Westdeutschland zurückkehren konnten, da ihnen nach bulgarischem Recht keine Straftat nachgewiesen werden konnte, wurde Antony van den Boorn auf Kaution freigelassen. Er musste bis Mitte Oktober 1967 in Sofia bleiben, um sich einem Gerichtsverfahren zu stellen. Das Städtische Gericht in Sofia verurteilte ihn wegen „Beihilfe die Grenzen unseres Landes ohne Erlaubnis seitens der zuständigen Behörden zu überschreiten“ zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

BildunterschriftNeue Illustrierte Revue
Bildquelle3. September 1967
Abb. 1:

Nachbemerkung: Das MfS stufte den Todesfall von Gudrun Lehmann als „Selbstmord“ ein, da nach seinen Ermittlungen „die L. zu mehreren Personen äußerte, daß sie im Falle einer Festnahme Selbstmord begeht“. Überliefert ist neben der DDR-Presseverlautbarung und den MfS-Einschätzungen dazu auch die Äußerung ihrer Schwester Brigitte van den Boorn in einem Interview, wonach Gudrun Lehmann ihr gegenüber erklärt habe: „Wenn sie mich schnappen, begehe ich Selbstmord.“ Die Möglichkeit, dass Gudrun Lehmanns Tod durch eine Überdosis von Medikamenten und ärztliche Behandlungsfehler verursacht wurde, ist jedoch auf Grundlage der vorliegenden Dokumente nicht gänzlich auszuschließen. (Autor: jos.; Recherche: App., jk, jos.)


Biografie von Gudrun Lehmann, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/409-gudrun-lehmann/, Letzter Zugriff: 21.11.2024