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Biografisches Handbuch

Michael Kühnel

geboren am 6. Juli 1959 in Ebersbach | gestorben nach Unfall am 19. Dezember 1978 | Ort des Vorfalls: Straße zwischen Litvínov und Most (ČSSR)
Michael Kühnel wollte mit dem Motorrad über die ČSSR in die Bundesrepublik flüchten. Als die Polizei versuchte, ihn an der Weiterfahrt zu hindern, prallte er mit hoher Geschwindigkeit frontal auf ein quer über die Straße gestelltes Dienstfahrzeug. Sein Mitfahrer überlebte den Unfall schwer verletzt.

Hans Michael Kühnel wohnte bei seiner Familie in einer Werkswohnung des Kliniksanatoriums Bad Gottleuba. Der 19-Jährige arbeitete als Beifahrer in einem Transportbetrieb der SDAG Wismut und war, wie sein Freund Detlef L., fasziniert vom Motorsport. Der 17-jährige Detlef L. war Hilfsarbeiter im VEB Metallwaren Bad Gottleuba. Beiden hatte die Polizei die Personalausweise eingezogen, wahrscheinlich wegen der Teilnahme an illegalen Motorrad-Rennen.

Am 17. Dezember 1978 fuhren Michael Kühnel und Detlef L. um 20.00 Uhr mit dem Motorrad nach Ebersbach-Neugersdorf, wo sie gegen 22.00 Uhr eintrafen. Die Kleinstadt an der tschechoslowakischen Grenze war Kühnels Geburtsort. Er steuerte die MZ TS 250 von Detlef L., da dieser nur einen Mopedführerschein besaß. Nach den Ermittlungsergebnissen des Volkspolizeikreisamtes Pirna haben sich Kühnel und L. am 18. Dezember in Ebersbach-Neugersdorf aufgehalten, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden. Am Nachmittag hätten sie sich spontan zu einer Flucht in die Bundesrepublik entschlossen und seien gegen 22.00 Uhr mit dem Motorrad aufgebrochen. Michael Kühnel sollte im Januar 1979 auf der Kreisdienststelle der Staatssicherheit in Pirna erscheinen, die Vorladung trug er bei sich, der Grund für die Einbestellung bleibt jedoch unbekannt. Darüber hinaus hatten sie nur ihre Führerscheine, etwas Kleingeld und eine Europakarte dabei, in der die Strecke Rumburk-Cheb eingezeichnet war. Rumburk ist ein Nachbarort von Ebersbach-Neugersdorf auf der tschechischen Seite.

Durch seine Ortskenntnis wusste Michael Kühnel, wo sie außerhalb eines Grenzübergangs und unbemerkt von Grenzsoldaten in die ČSSR gelangen konnten. Sie umfuhren in einem Waldgebiet einen Schlagbaum und das Drahthindernis und gelangten so bis in den Raum Litvínov (Leutensdorf). Nach der späteren Aussage von Detlef L., der im Februar 1979 von der Volkspolizei vernommen wurde, wollte Michael Kühnel dort Freunde treffen, die ihm bei der Flucht in die Bundesrepublik helfen sollten. Doch hier fiel das Motorrad gegen 2.00 Uhr aufgrund überhöhter Fahrgeschwindigkeit einer Polizei-Streife auf. Diese versuchte zweimal vergeblich das Motorrad mit Lichtsignalen zum Halten zu bewegen. Daraufhin ordnete die Leitstelle der Bezirksverwaltung des Nationalen Sicherheitskorps Most an, dass Polizei-Oberstwachtmeister Vrastislav Fejfar mit seinem Dienstwagen die Straße zwischen Litvínov und Most (Brüx) mit angeschaltetem Blaulicht blockieren solle. 150 m im Vorfeld sollte eine Streife rotem Licht das Motorrad stoppen. Um 2.35 Uhr näherte sich Michael Kühnel mit Detlef L. auf dem Beifahrersitz der Straßensperre, sie hatten eine Geschwindigkeit von bis zu 130 km/h. Erneut reagierte Kühnel nicht auf das Signal, er versuchte der Polizei zu entkommen und prallte ungebremst auf den quer zur Straße gestellten Moskwitsch. Michael Kühnel starb noch am Unfallort, sein Freund Detlef L. wurde schwerverletzt ins Krankenhaus Most gebracht. Mit Frakturen der Beine, des Beckens und der Schulter wurde er dort bis zum 19. Februar 1979 behandelt. Die Ermittlungsabteilung des Korps für die öffentliche Sicherheit eröffnete eine Untersuchung wegen des Verkehrsunfalls mit tödlichem Ausgang und schwerer Körperverletzung, die um den Straftatbestand des illegalen Grenzübertritts erweitert wurde. Im Rahmen der Ermittlungen wurde lt. Tagesmeldung vom 22. Dezember 1978 der Vater von Detlef L. nach Most vorgeladen. Dieser berichtete, dass Michael Kühnel von der Staatssicherheit gesucht wurde und vorhatte in die Bundesrepublik zu flüchten, hierzu habe er seinen Sohn Detlef L. überredet. Aufgrund des Todes von Michael Kühnel stellte das Bezirksministerium für öffentliche Sicherheit in Most die Ermittlungen am 15. Januar 1979 ein. Kühnels Urne wurde lt. einer Meldung des MfS nach Bad Gottleuba überführt und am 19. Februar 1979 auf dem dortigen Friedhof bestattet.

Die tschechischen Behörden übergaben Detlef L. am 19. Februar 1979 an der GÜSt Zinnwald der Volkspolizei, die ihn ins Kreiskrankenhaus Pirna überführte. Bis zur ersten Vernehmung am selben Tag hatten die DDR-Behörden den Tod Michael Kühnels als Folge eines Verkehrsunfalls behandelt, auch seine Familie erfuhr keinen anderen Grund, obwohl die tschechoslowakische Grenzwache in ihrer Tagesmeldung vom 22. Dezember 1978 bereits festhielt, dass er und sein Mitfahrer einen illegalen Grenzübertritt in die die Bundesrepublik vorhatten. Detlef L. sagte nun über Kühnels Fluchtabsichten aus und erklärte, dass er von ihm beeinflusst worden sei. Er selbst hatte nicht in die Bundesrepublik gewollt und sich bereits entschieden gehabt, wieder nach Bad Gottleuba zurückzukehren. Wegen des ungesetzlichen Grenzübertritts in die ČSSR erhielt er eine Bewährungsstrafe und arbeitete nach seiner Genesung wieder als Transportarbeiter im VEB Metallwaren Bad Gottleuba.

Prokop Tomek beurteilte den Fall auf der Basis der tschechoslowakischen Aktenüberlieferung in einer Untersuchung für das Prager Institut für das Studium totalitärer Regime als „untypisch“, da er sich nicht im Grenzgebiet zur Bundesrepublik, sondern im Vorfeld, noch in der Nähe zur DDR-Grenze ereignete. Zudem sei die Überlieferung zu diesem Fall nur minimal, „die wichtigste Akte wurde bereits vernichtet“. Dem Bericht Tomeks ähnelt Ivo Pejčochs Darstellung in seinem Buch Přechody přes železnou oponu (2011), wobei Pejčoch das Geschehen erzählerisch dramatisiert. Die Archivüberlieferung des MfS und der NVA-Grenztruppen arbeitete Jan Gülzau (2012) auf, einige Ermittlungsunterlagen müssen ihm jedoch nicht vorgelegen haben. Für ihn ist es offen, ob Kühnel und Detlef L. beim Grenzübertritt in die ČSSR „von der tschechoslowakischen Grenzsicherung sogleich auf frischer Tat ertappt wurden, oder ob sie lediglich wg. Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit die Aufmerksamkeit der tschechoslowakischen Polizei auf sich zogen“. Tatsächlich hatten sie bereits gut 100 km auf tschechoslowakischem Gebiet zurückgelegt, bis sie der Polizei auffielen, so dass der zweite Grund zutreffen wird.


Biografie von Michael Kühnel, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/406-michael-kuehnel/, Letzter Zugriff: 24.04.2024