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Biografisches Handbuch

Rudolf Buss

geboren am 20. März 1946 in Gaindorf (Gemeinde Ravelsbach, Niederösterreich) | erschossen am 23. Mai 1974 | Ort des Vorfalls: bei Vysoká pri Morave im Grenzfluss Morava/March (ČSSR)
Der gebürtige Österreicher Rudolf Buss war in die DDR übergesiedelt. Da ihm eine legale Rückkehr verweigert wurde, versuchte er über den Grenzfluss Morava aus der ČSSR nach Österreich zu gelangen. Als er bereits durch den Fluss watete, erschoss ihn ein Grenzsoldat.

Rudolf Erwin Buss wurde am 20. März 1946 im Niederösterreichischen Gaindorf (Gemeinde Ravelsbach) geboren. Seine Eltern waren die 22jährige landwirtschaftliche Arbeiterin Maria Schindler, geborene Langmayr aus Bachmanning in Oberösterreich und der 27jährige Schiffer Wilhelm Buss aus Aurich in Niedersachsen. Rudolf Buss war ein uneheliches Kind und wurde in den amtlichen Unterlagen auch unter dem Namen Leopold geführt. Mindestens bis zum Jahr 1954 blieb er in Gaindorf wohnen, dann muss er mit seinem drei Jahre älteren Bruder Gerhard in die DDR übergesiedelt sein. Er erlangte jedoch nicht die Staatsbürgerschaft der DDR, sondern erhielt eine Aufenthaltsberechtigung als Staatenloser. Beide Brüder wohnten in Mügeln (Landkreis Nordsachsen), Rudolf Buss im Ortsteil Glossen, wo er als Maurer in der LPG Glossen arbeitete und eine Familie gründete. Zwischen 1964 und 1969 wurde er in vier Fällen wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt. Seit dem 16. Mai 1974 war er von Christine Buss geschieden, ihre beiden gemeinsamen Kinder waren fünf und acht Jahre alt.

Laut einem Brief seiner geschiedenen Ehefrau hatte Rudolf Buss zu diesem Zeitpunkt seit 12 Jahren versucht, seine österreichische Staatsbürgerschaft zurückzuerlangen und in sein Heimatland ausreisen zu dürfen. Da sein Anliegen stets abgewiesen wurde, versuchte er schließlich illegal über die Tschechoslowakei nach Österreich zu gelangen. Am 22. Mai 1974 bestieg er einen Zug von Brno nach Bratislava, dort stieg er in eine Bahn um, mit der er ins 25 km entfernte Zohor fuhr. Die österreichische Grenze war von hier aus noch 5 Kilometer entfernt. Er hatte seinen Personalausweis für Staatenlose, seine Fahrerlaubnis, seinen Ausweis des Deutschen Roten Kreuzes, seine Geburtsurkunde und rund 510 Mark sowie 285 tschechoslowakische Kronen eingesteckt und bis auf einen Bleistift, einen Konservenöffner, zwei Fotos und zwei Taschentücher kein Gepäck bei sich.

Laut den Unterlagen der tschechoslowakischen Grenzwache und der Staatssicherheit aus Bratislava beobachtete der Gefreite einer Wachpatrouille Ladislav Szabo am 23. Mai 1974 gegen 8.45 Uhr in der Nähe des westslowakischen Ortes Vysoká pri Morave Rudolf Buss an dem Signalzaun, dem zum Landesinneren gewandten Grenzzaun. Szabo, der zwischen 200 und 250 Meter von Buss entfernt war, meldete seine Beobachtung über Funk der 6. Grenzschutzkompanie Vysoká und wollte anschließend die Kontrolle und gegebenenfalls die Festnahme durchführen. Doch Buss kletterte nun über den Grenzzaun und lief in Richtung des Grenzflusses Morava (dt. March). Szabo erklärte später, er habe ihn aufgefordert stehen zu bleiben, aus seiner Maschinenpistole einen Warnschuss abgegeben und sei ihm anschließend über den Signalzaun gefolgt. Nachdem Szabo zwei Salven auf den Flüchtenden abgegeben hatte, ohne ihn zu treffen, sah er ihn schließlich vom Ufer der Morava aus, als Buss in 10 Meter Entfernung durch den Fluss in Richtung des österreichischen Territoriums watete. Hierauf feuerte der Gefreite mit seiner Maschinenpistole eine Salve von fünf Patronen auf den 28-Jährigen ab. Ein Schuss traf ihn in den Rücken, durchdrang seinen Oberkörper und trat am Bauch wieder aus. Tödlich verletzt, stürzte Rudolf Buss ins Wasser und wurde von der Strömung fortgetragen. Insgesamt hatte Szabo bei seinem Einsatz 57 Patronen abgefeuert.

500 Meter flussabwärts bargen Angehörige der 6. Grenzschutzkompanie den Körper von Rudolf Buss und legten ihn 60 Meter vom Ufer entfernt ab, wo ein Arzt den Tod bestätigte. Zwei Stunden später begann die Tatortuntersuchung unter der Leitung des Stabschefs der 11. Grenzbrigade Bratislava. Anwesend waren ein Militärstaatsanwalt, ein Vertreter des Prager Hauptquartiers der Grenzwache und ein Vertreter des Staatssicherheitsdienstes aus Bratislava. Ladislav Szabo wurde bestätigt, dass seine Schusswaffenanwendung den Dienstvorschriften entsprach. Laut Abschlussbericht der Staatssicherheit aus Bratislava „musste die Grenzwache gegen den Grenzverletzer von der Dienstwaffe Gebrauch machen, da er auf die milderen Mittel nicht reagierte. Es war also Gefahr im Verzuge und auf andere Weise konnte er nicht festgenommen werden.“

Bei der Obduktion der Leiche im Institut für Gerichtsmedizin in Bratislava kamen Dr. Korman und Dr. Krahulec zu dem Ergebnis, dass der Durchschuss die unmittelbare Todesursache war. Das Projektil hatte wichtige Blutgefäße zerstört und durch den Blutverlust einen hämorrhagischen Schock verursacht. „Die Verletzung vom Schuß führte zu einem schnellen Tod durch Kreislaufstillstand, bevor noch der Effekt Ersticken durch Ertrinken auftreten konnte.“ Buss war kurz nach dem Treffer im Wasser treibend gestorben.

Der Staatssicherheitsdienst der DDR wurde bereits am Abend des 23. Mai 1974 inoffiziell durch die Operativgruppe Prag über den Todesfall unterrichtet und gab die Information an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR weiter. Die beiden Behörden stimmten sich dahingehend ab, für weitere Schritte die offizielle Mitteilung des Konsulats in Bratislava oder der Botschaft in Prag abzuwarten. Am 28. Mai 1974 benachrichtigte MfAA-Hauptabteilungsleiter August Klobes den Rat des Kreises Oschatz über den Todesfall. Als persönliche Information an den Vorsitzenden des Kreisrates übermittelte er die falsche Angabe, Rudolf Buss sei im Fluß Morava ertrunken, als er versuchte, die Grenze zu durchbrechen. Der Vorsitzende für Inneres im Rat des Kreises Oschatz musste nun die Verwandten benachrichtigen und die Modalitäten der Leichenüberführung klären. Am 29. Mai meldete er dem MfAA, dass der Bruder Gerhard Buss erreicht werden konnte und die Kosten für eine Urnenüberführung übernehmen wolle. Die Beisetzung sollte auf dem Friedhof in Mügeln erfolgen. Am 6. Juli 1974 wurde die Leiche von Rudolf Buss im Krematorium Bratislava eingeäschert und die Urne in die DDR überführt. Auch Christine Buss erhielt von der Abteilung Inneres des Rates Oschatz die Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann in einem Grenzgewässer der ČSSR ertrunken sei. Für sie begann nun der Kampf um eine Sterbeurkunde, da sie für ihre Kinder die Waisenunterstützung beantragen musste, wie sie am 10. Juli 1974 an das DDR-Außenministerium schrieb.

Martin Pulec, der den Fall für eine Dokumentation des tschechischen Instituts für das Studium totalitärer Regime (Ústav pro studium totalitních režimů) aufgearbeitet hat, wies auf den Mangel an sachlichen Archivalien hin. So fehle in den ČSSR-Akten zu Buss eine Tatortskizze, die sonst ein üblicher Bestandteil der Untersuchungsvorgänge sei. Möglicherweise habe der Umstand, dass Buss die Mitte des Wasserlaufes überschritten und bereits österreichisches Gebiet erreicht hatte, verdeckt werden sollen.


Biografie von Rudolf Buss, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/404-rudolf-buss/, Letzter Zugriff: 05.11.2024