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Biografisches Handbuch

Bruno Heinrich

geboren am 22. April 1935 in Bottrop | getötet am 10. Juli 1963 durch Stromschlag am elektrisch geladenen Grenzzaun | an der Grenze der Tschechoslowakei zu Bayern bei Horní Hraničná (Okres Cheb)
Der ehemalige Fremdenlegionär Bruno Heinrich siedelte aus Köln in die DDR über. Nach dem Mauerbau versuchte er über die tschechisch-bundesdeutsche Grenze zurückzukehren. Er erlitt einen tödlichen Stromschlag am elektrisch gesicherten Grenzzaun.

Der Lebensbericht, den der 27-jährige Bruno Heinrich bei seiner Vernehmung auf dem Volkspolizeikreisamt Strausberg am 6. November 1962 gab, mochte auf den Volkspolizei-Unterleutnant Lichtenberg unglaubwürdig gewirkt haben, dennoch ermöglicht sein umfangreiches Protokoll einen Einblick in eine unstete, von Verwerfungen und Fluchten geprägte Biografie. Eigentlich wegen eines Diebstahldeliktes vorgeladen, führte Heinrich aus, dass er das fünfte von sechs Kindern des Bergmanns und Schuhmachers Albert Heinrich und seiner Ehefrau Emilie, geborene Domke, ist. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Mutter mit den Kindern von Bottrop nach Pommern evakuiert. Der Vater wurde zum Kriegsdienst eingezogen und blieb vermisst. 1945 kam die Familie auf der Flucht nach Berlin. Bei einem Bombenangriff starb die Mutter, der 10jährige Bruno Heinrich wurde mit seinem Bruder verschüttet. Er wurde 1946 in ein Bottroper Waisenhaus untergebracht. Nach seiner Schulentlassung aus der 9. Klasse begann er eine Lehre als Bergmann, die er abbrach, um in einen bäuerlichen Lehrbetrieb zu wechseln. Nach einem halben Jahr zog er zu seiner Schwester nach Köln, wo er eine Maurerlehre begann.

Auf dem Strausberger Volkspolizeiamt erklärte Bruno Heinrich weiter, dass er während seiner Lehrzeit bei einer Radtour einem Mann begegnet war, der für die Fremdenlegion geworben und auf die Rekrutierungsstelle „Burg Ehrenbreitstein“ in Koblenz hingewiesen hatte. Dort habe er sich am 3. September 1953 gemeldet und sei in Frankreich (wo er bereits zu desertieren versuchte) und Algerien ausgebildet und im Indochinakrieg eingesetzt worden. Nach Einsätzen gegen die Việt Minh Guerilla im Indochinakrieg (1946 – 1954), setzte ihn die Fremdenlegion nach dem Waffenstillstand im Juli 1954 wieder in Marokko ein. Dort sei er desertiert, um über Vietnam nach Thailand zu gelangen. An der Grenze zu Nordvietnam habe man ihn verhaftet, nach Marokko zurückgebracht und unter unmenschlichen Bedingungen eingekerkert. Er sei in der Haft an Malaria erkrankt. Das Militärstrafverfahren gegen ihn habe dann in Saigon (heute Ho Chi Minh-Stadt) stattgefunden. Wegen Desertion sei er zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden, die er in Frankreich verbüßte. Auch nach der Haft habe ihn die Fremdenlegion noch nicht entlassen, sondern im Juli 1956 zum Dienst in Algerien und Marokko gezwungen. Dort gelang ihm mit arabischer Unterstützung die Flucht in das spanische Protektorat und über Madrid im November 1956 die Rückkehr nach Köln.

Während seines Dienstes in der Fremdenlegion habe er durch ein Zeitungsinserat seine spätere Ehefrau, die DDR-Bürgerin Christel Barsties kennengelernt. Nach der gemeinsamen Heirat am 31. Dezember 1957 zog sie zu ihm nach Köln. Dort habe er als Bauarbeiter, Vertreter und Verkaufsfahrer im Getränkehandel gearbeitet. Auf einem Pachtgrundstück baute er für sich und seine Frau ein Haus, doch als das Grundstück verkauft wurde und sie in ein Wohnlager ziehen sollten, entschlossen sie sich nach Neuenhagen in die DDR überzusiedeln, wo die Eltern der Ehefrau lebten. Christel Heinrich hatte im März 1959 ihr erstes Kind bekommen, nun war sie erneut hochschwanger.

Mit der Übersiedlung in die DDR im März 1960 setzen die Berichte und Protokolle der Volkspolizei ein, die in den Vorgangsakten der MfS-Kreisdienststelle Strausberg abgelegt sind. Ein hierin überlieferter Brief aus Köln, der an den „Leiter des Durchgangslagers in Ostberlin“ adressiert war, belegt, dass Bruno Heinrich in der Bundesrepublik einigen Unmut auf sich gezogen hatte. Der Briefschreiber bezeichnet ihn als „großen Faulenzer“ und „Nazistrolch“, der nach Ost-Berlin geflohen sei, weil „ihm das Wasser zum Hals“ gestiegen und die Kriminalpolizei nach ihm gefahndet habe. Eine Auskunft aus dem Strafregister in Essen ergab tatsächlich Vorstrafen wegen Diebstahls und Fahrens ohne Führerschein, doch sprach dies augenscheinlich nicht gegen eine Aufnahme in der DDR. Die Familie kam zunächst in das Aufnahmeheim Blankenfelde und zog zum 31. März 1960 in das Haus der Eltern von Christel Heinrich in Neuenhagen. Bruno Heinrich arbeitete hier als Lebensmittelvertreter. Als seine Ehefrau im April ihr zweites Kind zur Welt brachte, musste eine bessere Wohnsituation geschaffen werden. Die Stadt sprach der Familie das Haus eines sogenannten „Republikflüchtlings“ zu, das ab dem 7. Juli 1960 bezogen werden konnte. Doch am Tag vor dem Einzug schrieb Bruno Heinrich seiner Ehefrau auf einem Zettel, dass er es in der DDR nicht mehr aushalte, er werde ständig kritisiert und belehrt und fühle sich überfordert. Über die Berliner Sektorengrenze verließ er die DDR und wurde am 6. Juli im Notaufnahmelager Marienfelde vorstellig. Als Fluchtgrund gab er dort an, dass er bis zum März 1960 in Westdeutschland lebte und dorthin wieder zurückkehren will. Nachdem er am 25. Juli 1960 nach Düsseldorf ausgeflogen worden war, hielt er sich bis zum 14. September bei Verwandten in Köln und Bottrop auf und arbeitete wieder als Verkaufs- und Kraftfahrer. Bei seiner Vernehmung durch Volkspolizei-Unterleutnant Lichtenberg am 6. November 1962 erklärte er, dass er in Westdeutschland nur dann eine Wohnung bekommen hätte, wenn seine Familie ebenfalls übergesiedelt wäre. Da Christel Heinrich jedoch in Neuenhagen bleiben wollte, steuerte er am 14. September 1960 einen LKW seines Arbeitgebers zum Grenzübergang Schwanheide, um wieder in die DDR zu wechseln. Dort traf er jedoch zu Fuß und ohne Gepäck ein. Er habe, gab er sechs Tage später im Aufnahmeheim Fürstenwalde/Spree zu Protokoll, nahe dem Grenzübergang noch einen Verkehrsunfall gehabt und kurzerhand Fahrzeug und Gepäck zurückgelassen, „ob er von der Polizei gesucht wird, kann er nicht sagen“. Laut einem Aktenvermerk vom 26. Mai 1961 fahndete die Staatsanwaltschaft Köln nach Heinrich wegen Betruges und eines Verkehrsvergehens.

Volkspolizei und Staatssicherheit hielten Bruno Heinrichs Aussagen im Aufnahmeheim zu seiner Biografie und seinem Fluchtgrund – er habe „sich nicht richtig in unsere gesellschaftlichen Verhältnisse einfinden“ können – für „sehr undurchsichtig“ und „unglaubwürdig“. „Bei einer Aufnahme in die DDR müsste er unter eine sehr genaue Kontrolle genommen werden“, heißt es in einer Einschätzung der Volkspolizei aus dem Aufnahmeheim. Am 23. September 1960 erhielt Heinrich die Rückkehrerlaubnis nach Neuenhagen. Im März 1961 bekam Christel Heinrich ihr drittes Kind. Die empfohlene Überwachung Heinrichs übernahm die Volkspolizei, vornehmlich über ihre Abschnittsbevollmächtigten. Misstrauen erweckten besonders die häufigen Arbeitsplatzwechsel Heinrichs, deren Grund zumeist Entlassungen wegen unentschuldigten Fernbleibens waren. Polizeibekannt war er „als Arbeitsbummelant“. Das Motoren-Instandsetzungs-Werk Neuenhagen, bei dem Heinrich fünf Monate beschäftigt war, schrieb in seiner Beurteilung vom Mai 1961, dass kein Gespräch vermocht hätte, ihn zum regelmäßigen Arbeiten zu bewegen. „Unerklärlich ist uns, wovon der Kollege Heinrich lebt, da er verheiratet ist und 3 Kinder hat und nur einen geringen Verdienst seit Monaten aufgrund seines häufigen Fehlens hat.“ Weil er des Öfteren nach Berlin fuhr und trotz seines geringen Einkommens Anschaffungen machte, verdächtigte ihn die Volkspolizei, im Auftrag einer Agentenorganisation zu arbeiten oder andere feindliche Handlungen vorzubereiten. Akribisch halten die Polizeiberichte fest, wie sich der Beobachtete während seiner Krankschreibungen verhielt (er arbeite „von früh bis abends im Garten“), wie sich die Familie ernährte („es ist zu verzeichnen, daß sie frühmorgens zum 1. Frühstück Wurst essen können“) und wie weit die Einkäufe das Einkommen das Ehepaars überstiegen („z.B. ein gebrauchtes Schlafzimmer für ca. 220.- DM“). Über ein bei Heinrich gesehenes „Phillips Tonbandgerät“ wurde ebenso polizeilich und sicherheitsdienstlich spekuliert, wie darüber, dass er bis spät nachts in seinem Keller hämmerte. Doch nicht nur die staatlichen Organe begegneten ihm mit Argwohn, auch bei seinen Nachbarn muss er Unmut erregt haben. So heißt es in einem Polizeibericht vom August 1961: „Von Seiten der Bewohner wird verlangt[,] das[s] Heinrich wieder aus Neuenhagen ausgewiesen wird.“ Der Abschnittsbevollmächtigte VP-Meister Böttcher erhielt von dem Volkspolizeikreisamt Strausberg umfangreiche Fragelisten. Beispielsweise sollte er herausfinden, mit wem Heinrich verkehre, was er sich anschaffe, wohin er verreise, ob er an den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 17. September 1961 teilgenommen habe und dabei in die Wahlkabine gegangen sei – Nutzer von Wahlkabinen wurden verdächtigt, gegen die Einheitsliste gestimmt zu haben, indem sie die Namen der Kandidaten durchstrichen. Weiterhin wollte die Volkspolizei wissen: „Was für Diskussionen führte er über die Maßnahmen der Regierung der DDR vom 13.08.61, zur Wahl am 17.9.61 und zum Gesetz zur Verteidigung der Heimat“? VP-Meister Böttcher beantwortete die Fragelisten jedoch nur summarisch, da er ohnehin alle drei Wochen über Heinrich einen Bericht anzufertigen und an das Volkspolizeikreisamt Strausberg zu übersenden hatte.

Bereits am 6. Juli 1961 wurde Heinrich zur MfS-Kreisdienststelle nach Strausberg vorgeladen und über die Finanzierung seiner Anschaffungen befragt. Zunächst erklärte er, dass er in West-Berlin gearbeitet und seinen Lohn dann in DDR-Währung umgetauscht habe. Dies wiederrief er jedoch sogleich, um auszuführen, dass er in einem Linienbus eine Brieftasche mit 2.200 Mark gefunden und das Geld eingesteckt habe. Wann das war, wisse er aber nicht mehr. Der Vernehmer schätzte die Aussagen als wenig glaubwürdig ein. Dennoch wurde gegen Heinrich, der im Sommer 1961 als Eisverkäufer am S-Bahnhof Dahlwitz-Hoppegarten arbeitete, wegen Fundunterschlagung einer Brieftasche und Einfuhr von ca. 400.- DM aus West-Berlin vom VPKA Strausberg ein Ermittlungsverfahren mit Haftbefehl eingeleitet. Das dortige Kreisgericht verurteilte ihn wegen dieser Vergehen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die er im Haftarbeitslager Rüdersdorf vom 8. Dezember 1961 bis zum 25. August 1962 verbüßte. Wegen guter Leistungen vorzeitig entlassen, wurde ihm ein Arbeitsplatz auf der Baustelle des Umspannwerks Neuenhagen zugewiesen. Während seiner Haft gebar Christel Heinrich ihr viertes Kind.

Nach seiner Entlassung sollten zwei Geheime Informanten (GI) des MfS mit den Decknamen „Holländer“ und „Zaunkönig“ Bruno Heinrich unter ständiger Kontrolle halten, bereits 1961 hatte GI „Gisela Schröder“ über ihn berichtet. Zwar blieb Heinrich politisch unauffällig, doch entwendete er in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 1962 aus dem Baubüro seines Betriebes eine Geldkassette mit 610.- Mark. Das Geld nahm er mit nach Hause und versteckte es in einem Band der Werkausgabe Lenins. Am 6. November gab er den Diebstahl bei einer Vernehmung auf dem Volkspolizeikreisamt Strausberg zu.

Vermutlich wollte sich Bruno Heinrich einer erneuten Haftstrafe entziehen, als er am 5. Juli 1963 mit seinem Fahrrad Neuenhagen verließ. Er trug einen Trainingsanzug und hatte eine größere Sporttasche dabei, in der sich Wechselwäsche, Hygieneartikel, familiäre und berufliche Unterlagen sowie etwa 40 Fotografien befanden; seinen Personalausweis, Reisepass und etwas Geld trug er in einem Brustbeutel bei sich. Wahrscheinlich überquerte er mit seinem Fahrrad unbemerkt die tschechische Grenze und wandte sich anschließend nach Cheb, um von dort aus in die Bundesrepublik zu gelangen. In der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1963 ging er von Cheb kommend eine Landstraße in Richtung des Dorfes Horní Hraničná entlang, die in unmittelbarer Grenznähe verlief. Als ihn nur noch ein etwa 300 Meter breites Rübenfeld von den Grenzanlagen trennte, begann er über den Acker zu kriechen. Möglicherweise behinderte ihn dabei seine Tasche, vielleicht wollte er mit ihr auch einen Wachhund verjagen, jedenfalls ließ er sie etwa 50 Meter vor den Grenzzäunen zurück, kurz vor dem Spurensicherungsstreifen auch seinen Brustbeutel. Über den geeggten 5 Meter breiten Spurensicherungsstreifen lief er zum ersten Grenzzaun, der mit einer Signalanlage bestückt war. Der nächste Wachturm war nur 120 Meter entfernt. Bruno Heinrich gelang es, sich mit bloßen Händen unter den Zaun hindurch zu graben, ohne Alarm auszulösen. Vermutlich wollte er ebenfalls unter den zweiten Grenzzaun hindurch kriechen. Dieser war jedoch mit Drähten gesichert, die Starkstrom führten. Den unteren Draht, der nur 8 cm über den Boden verlief, berührte Bruno Heinrich mit seinem rechten Bein, der Stromschlag führte sofort zum Herzstillstand.

Gegen 2.10 Uhr am 10. Juli 1963 erhielten der Gefreite Altmann und der Schütze Šalata, die als Grenzschutzpatrouille der 14. Kompanie Horní Hraničná eingesetzt waren, von ihrem Kommandanten den Befehl, den ihnen überantworteten Grenzabschnitt zu kontrollieren. Der Kurzschluss in der elektrischen Anlage, den die Berührung Bruno Heinrichs ausgelöst hatte, war in der Kommandozentrale bemerkt worden. Beim zweiten Suchdurchgang entdeckten sie eine leblose Person in der Drahtbarriere.

Sie benachrichtigten den Kommandanten, der nach seinem Eintreffen den Arzt der 5. Grenzschutzbrigade anforderte. Dieser stellte den Tod Heinrichs fest. Um 4.15 Uhr begann das Führungspersonal der Grenzschutzabteilung Cheb und der Kreisorgane des Innenministeriums gemeinsam mit dem Bezirksprokurator den Tatort zu untersuchen und fotografisch zu dokumentieren. Am Morgen des 11. Juli wurde die Leiche von Bruno Heinrich im Krankenhaus Cheb obduziert. Als Todesursache stellte Dr. Königsmarková den von einem Stromschlag ausgelösten Herzstillstand fest. Am selben Tag um 13.00 Uhr übergaben Mitarbeiter des tschechoslowakischen Grenzschutzes und des Innenministeriums am Grenzübergang Vojtanov/Schönberg (Bad Brambach) die Leiche und den Nachlass von Bruno Heinrich an die Volkspolizei der DDR, diese hatte eigens einen Sarg mitgebracht. Sie forderte von der tschechoslowakischen Seite, nach dem Fahrrad Heinrichs wie auch dem genauen Ort des Grenzübertritts in die ČSSR zu suchen. Die Kreisdienststelle Strausberg des Staatssicherheitsdiensts bat am 14. Oktober 1963 die MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt/Oder Bruno Heinrich aus dem entsprechenden Objektvorgang zu streichen und das gesammelte operative Material im Archiv abzulegen, „da dieser am 10.7.1963 tödlich verunglückt ist“.

Laut einem Situationsbericht der 19. Grenzbereitschaft der NVA, Operativgruppe Pirna, war Bruno Heinrich einer von 22 DDR-Bürgern, die im Juli 1963 illegal die Grenze zur Tschechoslowakei überschritten hatten, um in die Bundesrepublik zu gelangen.


Biografie von Bruno Heinrich, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/398-bruno-heinrich/, Letzter Zugriff: 21.11.2024