Logo

Suche im Biographischem Handbuch

Biografisches Handbuch

Jürgen Eichler

geboren am 4. Oktober 1942 in Potsdam | im September 1962 ertrunken | Ort des Vorfalls: Ostsee
Jürgen Eichler lernte 1962 seinen Halbbruder Siegmar kennen, der in der Bundesrepublik lebte. Gemeinsam mit ihm entwickelte der Unteroffiziersschüler verschiedene Pläne, die DDR illegal zu verlassen. Im September 1962 begab er sich gegen den Rat seines Bruders allein mit einem Faltboot nach Rügen und versuchte, die DDR paddelnd hinter sich zu lassen. Bei dem Versuch ist er ertrunken.

Am 18. Oktober 1963 wandte sich S. S., ein Halbbruder von Jürgen Eichler, an die Zentrale Erfassungsstelle der in Salzgitter (ZESt) um Nachforschungen zu seinem Verwandten in Gang zu setzen. S. hatte erst drei Jahre zuvor seine leibliche Mutter und seinen Halbbruder kennengelernt und schnell ein inniges und vertrauensvolles Verhältnis zu beiden aufgebaut. Er selbst war nach seiner Adoption im Alter von zwei Jahren in Kiel aufgewachsen und konnte Jürgen und die gemeinsame Mutter zum ersten Mal im April 1961 in Potsdam besuchen.

Zum Zeitpunkt dieses Besuchs war Jürgen Eichler 19 Jahre alt. Er war Unteroffiziersschüler der NVA und als solcher an der Unteroffiziersschule der NVA in Erfurt stationiert. Gegenüber seinem älteren Halbbruder S. gab er sich sehr offen und legte ihm schon bei dessen ersten Besuch dar, dass er die NVA nur als das kleinste Übel herausgesucht hatte. Er hatte nämlich nach seinem ersten Schulabschluss weder Lust gehabt, sofort einen Beruf zu erlernen, noch sich für ein Studium einzuschreiben.

Allerdings war er mit den dort herrschenden Verhältnissen, insbesondere der politischen Aufgeladenheit des Dienstes nicht einverstanden und erzählte S. schnell davon, dass er die DDR gern verlassen würde. Dieser hatte großes Verständnis für Jürgen und die beiden begannen damit, die Möglichkeiten für eine Flucht Jürgens in die BRD auszuloten. Im Verlauf des ersten Besuchs blieb allerdings zu wenig Zeit für konkrete Planungen. Obwohl S. seine von der Mutter zugeschickte Aufenthaltserlaubnis von zwei Wochen in der DDR um eine weitere Woche verlängern konnte, war Jürgen doch stets nur an den Wochenenden zu Hause – die Arbeitswoche über wurde er selbstverständlich in Erfurt bei der NVA erwartet.

Als S. Jürgen zum zweiten Mal im August 1962 besuchte, hatte dieser sich eine Woche Urlaub genommen, die die beiden für intensive Fluchtvorbereitungen nutzten. Ihr Plan sah vor, dass S. mit einem Faltboot, das die beiden in eben dieser Woche gekauft hatten, über einen Havelsee (den genauen Namen konnte Siegmar später nicht mehr angeben) zur Demarkationslinie des amerikanischen Sektors fahren sollte. Währenddessen sollte ihm Jürgen unter Wasser mit Hilfe eines Atemgeräts und eines dünnen Drahts, der als Verbindung zwischen ihm und dem Faltboot dienen sollte, folgen. Nachdem S. die Demarkationslinie erreicht hatte, sollte er umkehren und Jürgen sollte unter Wasser weiter in Richtung des amerikanischen Sektors schwimmen. Allerdings brachten die beiden das Atemgerät nicht in Gang, womit sich dieser Fluchtplan zunächst erledigt hatte. Außerdem hatten sie das Gefühl, ihre gemeinsame Mutter und deren Ehemann hätten etwas von den Fluchtvorbereitungen mitbekommen. S. gab sich zwar in seiner Aussage bei der ZESt später sicher, dass beide dichtgehalten hätten, aber offenbar war den beiden im August 1962 nicht daran gelegen, den Versuch auf Biegen und Brechen zu wagen.

Stattdessen trat S. die Heimreise nach Kiel an, während Jürgen sich wieder nach Erfurt in die Unteroffiziersschule begab. Zum Abschied schärfte ihm S. ein, allein nichts weiter in Richtung Flucht zu unternehmen. Daran hat sich Jürgen jedoch nicht gehalten.

In einem Brief vom 17. September 1962 teilte die Mutter S. dann mit, dass Jürgen seit dem 9. September verschwunden sei. Er habe sich mittags von einem Taxi abholen und mitsamt dem Faltboot und einem zusätzlich erworbenen Außenbordmotor nach Putbus auf Rügen bringen lassen, wo er dann das Faltboot bei ruhiger See zusammengesetzt habe. Zusätzlich zum Faltboot und dem Motor habe er unter anderem auch einen Kompass, Landkarten, einen Ring und ein Fernrohr dabeigehabt, bekleidet sei er wahrscheinlich mit seiner Uniform gewesen. Als S. diesen Brief gelesen hatte, so gab er später gegenüber der ZESt an, sei ihm vollkommen klar gewesen, dass sein Halbbruder eine Flucht über die Ostsee gewagt hatte.

In ihren folgenden Briefen vom 10. und 18. Oktober 1962 konnte ihm die Mutter dann nur noch vom weiteren Verlauf der Aufklärung berichten: Am 1. Oktober 1962 sei etwa drei Seemeilen von der Landspitze Göhrens entfernt eine nackte Wasserleiche aus der Ostsee geborgen worden. In dem späteren Brief berichtete sie ihm, dass auch ein zerstörtes Faltboot und Wäscheteile am Strand gefunden worden seien. Diese Kleidungsreste hatte man ihr später vorgelegt, aber sie hat zumindest S. gegenüber nicht gesagt, ob sie darin die Kleidung ihres Sohnes erkannt hätte. Was sie damals überzeugt hatte, dass es sich bei der Leiche um ihren Sohn gehandelt hat, war der goldene Ring, den dieser bei seiner Abreise bei sich getragen hätte und den sie eindeutig wiedererkannt habe.

Nachdem die Leiche am 3. Oktober 1962 in Greifswald einer gerichtsmedizinischen Untersuchung unterzogen worden war, hatte man sie am 9. Oktober in Greifswald begraben. Ohne, dass die Mutter ihren Sohn selbst identifizieren oder ein letztes Mal sehen konnte. Man hatte ihr den Leichnam am Telefon beschrieben und sie hatte darin ihren Sohn wiedererkannt, aber auf den Fotos, die man ihr ebenfalls vorgelegt hatte, konnte sie ihn wiederum nicht erkennen. Diese Tatsache ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den fortgeschrittenen Fäulniszustand zurückzuführen, in dem sich die Leiche zum Zeitpunkt ihrer Bergung befunden hatte. Obwohl bereits am 12. Oktober 1962 eine Sterbeurkunde ausgestellt und die Identität der Leiche von Jürgen Eichler im November 1962 vom für die Unteroffiziersschule Erfurt zuständigen Vertragszahnarzt anhand des Gebisses bestätigt worden war, hat seine Mutter nie eine amtliche Bestätigung für den Tod ihres Sohnes erhalten.

Wegen dieser Ungereimtheiten hatte sich ihr Sohn S. 1963 an die ZESt gewandt, die allerdings keine neuen Erkenntnisse hervorbringen konnte. Auch die zentrale Erfassungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) in Berlin hat den Fall Jürgen Eichlers in den frühen 90er Jahren erneut untersucht, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass ein Fremdverschulden für den Tod Jürgen Eichlers nicht feststellbar gewesen sei. Damit stand endgültig fest, dass Jürgen Eichler im Alter von 19 Jahren bei dem Versuch, die DDR mittels eines Faltbootes über die Ostsee zu verlassen, ums Leben gekommen ist.


Biografie von Jürgen Eichler, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/365-juergen-eichler/, Letzter Zugriff: 21.11.2024