Michael Weber wuchs als Einzelkind in einem behüteten Elternhaus auf. Freunde beschreiben einen sportlichen Jungen mit großer Klappe, bullig und immer lustig, gleichermaßen sensibel und intelligent. „Man konnte ihm einfach nicht böse sein“, erinnert sich seine frühere Freundin Kathrin S. 2006. Nach der Trennung der Eltern sei sein bisheriges Leben in die Brüche gegangen. Michael Weber habe den neuen Lebensgefährten seiner Mutter abgelehnt, „deswegen ist er auch zu seinem Vater hingezogen. Micha wollte, dass seine Eltern wieder zusammen sind und hat seiner Mutter die Schuld an der Trennung gegeben. Er hat unter dieser Trennung extrem gelitten.“
Über Michael Webers letzte Lebensjahre liegen nur wenige Informationen vor, die auf den Erinnerungen früherer Mitschüler und Lehrer fußen. Von 1984 bis 1988 besuchte er die Thomas-EOS. Nach Angaben seiner Freundin Kathrin S. war er „einer der Sportlichsten unserer Klasse. Er ging regelmäßig zum Judotraining.“ Michael Weber habe ihr gegenüber bereits im Sommer 1987 erstmals davon gesprochen, über die Volksrepublik Bulgarien in den Westen fliehen zu wollen: „Dieses Abhauen über Griechenland, da haben wir wirklich geguckt, die Karte angeguckt. Der wusste schon damals ganz präzise, wo er es versuchen wollte. Er wusste an welcher Stelle, er hat recherchiert für wie viele Tage er Nahrung braucht, wie viel er zu Trinken braucht, bei wie viel Grad man draußen schlafen kann. […] Er hat zum Beispiel im Winter trainiert, wie lange er im Schnee draußen schlafen kann, wie lange er das aushält. Er hat auch gehungert. Einmal hat er gefastet ganz lange. Außerdem hat er ganz viel Kampfsport gemacht. Er hat sich wirklich intensiv vorbereitet. Er hat gesagt: ‚Ich zieh das durch.‘“ Doch die Beziehung zu Kathrin S. ging 1988 nach dem Abitur in die Brüche. Danach verloren sich die beiden aus den Augen. Bei einer zufälligen Begegnung erklärte er ihr, sich freiwillig zum Wachregiment Feliks Dzierzynski des MfS melden zu wollen, um anschließend Jura zu studieren. Kathrin S. hält das allerdings für ein Täuschungsmanöver, da „Micha“ das SED-Regime ablehnte.
Am 7. Juli 1989 meldete die für den internationalen Reiseverkehr zuständige MfS-Hauptabteilung IV unter der Kopfzeile “Verhindertes ungesetzliches Verlassen, Mißbrauch Reiseverkehr, Privatreisen”, Michael Weber (19) aus Leipzig sei durch Sicherheitskräfte der Volksrepublik Bulgarien bei der Ortschaft „Novo Chodžovo“ etwa einen Kilometer von der Staatsgrenze entfernt erschossen worden. Der Abiturient sei von einer Streife entdeckt und zum Stehenbleiben aufgefordert worden. Er sei aber in Richtung der Grenze zu Griechenland geflüchtet, worauf es zur Schußwaffenanwendung kam. “Weber ist seinen Verletzungen erlegen”. Nach den Untersuchungsergebnissen der bulgarischen Behörden war Michael Weber am 3. Juli 1989 in Bulgarien eingereist und habe in einem Hotel in Melnik übernachtet. Am 6. Juli gegen 18.30 Uhr sei er von dort, ausgerüstet mit einer Karte, einem Kompass, Schneidwerkzeug und einem größeren DM-Betrag, zur gut 20 Kilometer entfernten Grenze aufgebrochen. Am nächsten Tag kurz nach 4.00 Uhr habe er im Grenzgebiet eine Drahtsperre zerschnitten und dadurch einen Alarm ausgelöst.
Entgegen anderen Fällen dieser Art wurde es den Eltern erlaubt, am Nachmittag des 12. Juli 1989 von Schönefeld nach Sofia zu fliegen, um von ihrem toten Sohn Abschied zu nehmen. Dazu sei es, wie sich die Mutter von Michael Weber 2006 erinnerte, nur gekommen, weil sie so viel Staub aufgewirbelt habe und zuvor erfolglos versuchte, mit dem ZDF in Verbindung zu kommen.
In einem ausführlichen Bericht des DDR-Konsuls in Sofia, Anton Richter, heißt es über den Besuch der Eltern von Michael Weber: „Als wir die Nachricht erhielten […] erklärte der Militärstaatsanwalt, daß er das sehr begrüße, sie empfangen, jede von ihnen gewünschte Auskunft geben und anordnen werde, daß sie den Toten in der Pathologie der Militärmedizinischen Akademie sehen können. Als sie eingetroffen waren, bestand er darauf, daß die Eltern den Sohn identifizierten.“ Da jedoch von der Hauptabteilung Konsularische Angelegenheiten des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR angewiesen wurde, „die Besichtigung der Leiche zu verhindern und die Auskünfte auf die Nennung der Straftat zu beschränken, wurde unsererseits nach Unterredung mit dem Leiter der Pathologie, Dr. Kolew von der MMA, der die Obduktion durchgeführt hatte, unter dem Vorwand der nicht ausreichenden Balsamierung die Besichtigung der Leiche in der Pathologie als nicht möglich erklärt.“
Stattdessen wurde den Eltern mitgeteilt, dass Sie im Krematorium in Sofia Abschied nehmen könnten, und zwar im Beisein von Konsul Anton Richter, während sich die Leiche im geschmückten Sarg hinter einer Glasvitrine befand. Nach Richters Angaben wurde der Abiturient beim Versuch, die Grenzsicherungsanlagen zu durchbrechen, nach mehrfachem Anruf stehen zu bleiben und einer Reihe von Warnschüssen in die Luft von einer Kugel getroffen und tödlich verletzt. Konsul Richter wies die Eltern auch „auf die besondere Situation an den bulgarischen Grenzen in Verbindung mit der antibulgarischen Kampagne der Türkei“ hin. Tatsächlich wartete im Frühjahr und Sommer 1989 eine große Anzahl türkischstämmiger Bulgaren darauf, die Volksrepublik aus Protest gegen die jahrelangen Zwangsbulgarisierungen des Regimes verlassen zu können.
Konsul Richter berichtete nach Berlin, weder die Mutter noch der Vater hätten Schuldzuweisungen geäußert: „Sie hatte[n] zwar keine Erklärung und keine Motive für die Tat ihres Sohnes, suchten jedoch nach Ursachen seines merkwürdigen Charakters und möglicher Erziehungsfehler. Es war augenscheinlich, dass insbesondere der Vater, bei dem der Sohn wohnte, äußerst stark getroffen war. Er wäre nicht zu Hause gewesen, als der Sohn sich nach Bulgarien auf den Weg gemacht hatte. Beide Eltern bedankten sich mehrmals, dass sie den Sohn noch einmal sehen konnten, obwohl dies anders und schwieriger als vorgesehen verlief. Die Mutter sagte angesichts des Toten: ‘Du dummer Junge, warum hast Du Dir und uns das angetan?‘“
Weiterhin heißt es in Richters Bericht: “Als wir danach beim Militärstaatsanwalt vorsprachen, um den Nachlaß zu übernehmen, bat dieser, von seinem Versprechen, die Eltern empfangen zu wollen, abzusehen, weil es ihm jetzt doch peinlich sei und schwerfallen würde. Er wiederholte mehrmals, daß es eine Katastrophe war und der Junge noch hätte am Leben sein können, wenn es nicht so fatal zugegangen wäre.“ Konsul Richter korrigierte intern auch die Version, Michael Weber sei auf der Flucht erschossen worden. In seinem Bericht heißt es, dass „der Grenzverletzer anstatt zu fliehen, direkt in das abgegebene Feuer gelaufen sei“. Das sei, so Richters absurde Interpretation, „als eine Art Selbstmord“ zu bewerten.
Helga T. erinnerte sich 2006, dass sie eine „Schussverletzung“ im Gesicht ihres Sohnes gesehen habe, ihn aber nicht mehr berühren durfte: „Man wollte mich nicht zu ihm lassen.“ Diese Darstellung wird durch den Obduktionsbericht Dr. Kolews bestätigt: „Bei der Beschauung und Autopsie der Leiche von Michael Weber wurde eine Verwundung durch Gewehrfeuer festgestellt, die den Kopf und die rechte Seite des Brustkörpers erfasste. Die Eingangswunde dieser Verletzung befindet sich auf der linken Gesichtshälfte. Die Gewehrkugel befand sich festsitzend in der Rückenmuskulatur hinter der 8. rechten Rippe auf der hinteren unteren Seite der Achselhöhle.“
Bei einem Interview in Sofia erklärte Oberst a.D. Dr. Kolew im Jahr 2008 dem Autor, er könne sich an den Fall Weber und die Anreise der Eltern erinnern. Auf Nachfrage erklärte Kolew auch, dass er sich an Fälle getöteter Grenzverletzer erinnere, in denen Druck ausgeübt worden sei, die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung zu drehen. Und er betonte, dass getötete „Grenzverletzer“ in der Volksrepublik Bulgarien nicht verbrannt werden durften. „Das war das Gesetz. Ich habe solch eine Extra-Genehmigung nie unterschrieben.“ Laut Dr. Kolew wurden im MMA nur solche Fälle getöteter „Grenzverletzer“ obduziert, die im Interesse der Militärstaatsanwaltschaft lagen.
Unmittelbar nachdem Michael Webers Eltern das Krematorium verlassen hatten, wurde die Leiche von Michael Weber mit ihrem Einverständnis eingeäschert. Seine Urne wurde nach dem Rücktransport mit „Interflug“ am 28. Juli 1989 im engsten Familienkreis auf dem Leipziger Ostfriedhof (Abteilung VIII, Grab 107) beigesetzt. Kurz nach ihrer Rückkehr in die DDR beauftragte Helga T. den ehemaligen Vize-Generalstaatsanwalt Dr. Lothar Reuter mit ihrer juristischen Vertretung hinsichtlich der Aufklärung der Todesumstände ihres Sohnes. Zusätzlich engagierte sie den Sofioter Rechtsanwalt Tschavdar Spassov, der sich im Interview mit dem Autor daran erinnerte, dass er im Zusammenhang mit der neu aufgerollten Untersuchung mehrere Male nach Blagoevgrad reiste und den Untersuchungsrichter traf. Reuter stieß auf „haarsträubende Widersprüche“ in der Aussage des bulgarischen Grenzsoldaten Georgi Wassiljew Tanew, Angehöriger der Militäreinheit Petritsch 56446.
Im gerichtsmedizinischen Gutachten Dr. Kolews heißt es, da keine Schmauchspuren am Körper des Toten festzustellen waren, müsse die Schussabgabe aus einer Entfernung von mehr als 1,5 bis 2 Metern erfolgt sein. Dennoch widersprach die Mitteilung des bulgarischen Innenministeriums an die DDR-Botschaft von 9. April 1990, wonach Michael Weber durch einen Treffer in die Vorderseite des Brustkorbs ums Leben kam, dem Obduktionsbericht vom 8. Juli 1989, der als Einschußstelle den „Bereich des linken Jochbeines” am Kopf festhielt. Da die Eltern nach dem Ende der SED-Diktatur im Laufe des Jahres 1990 auf einer Klärung dieser Widersprüche bestanden und auch das Auswärtige Amt in Bonn einschalteten, sah sich die noch existierende DDR-Generalstaatsanwaltschaft gezwungen, am 22. Mai 1990 die Note des bulgarischen Außenministeriums zu dem Vorfall an die DDR-Botschaft in Sofia mit der Begründung zurückzusenden, dass „zwischen den Aussagen in dem übersandten Dokument und dem vorliegenden Obduktionsprotokoll zur Art der Schußverletzung erhebliche Widersprüche bestehen“. Deswegen sei „der mit der Sache befaßte Staatsanwalt nicht in der Lage, die Zweifel, die bei den Angehörigen des Verstorbenen bestehen, auszuräumen”.
Am 8. August 1990 berichtete der immer noch in Sofia amtierende DDR-Konsul Anton Richter an das MfAA nach Berlin: “Es scheint jedoch, daß im Bericht absichtlich verschwiegen wurde, daß der Einschuß in der linken Gesichtshälfte erfolgte und dann nach unten drang. Bei einer Entfernung von 30 m wäre ein solcher Einschußwinkel nicht denkbar, selbst wenn sich die Person statt aufrecht laufend, kriechend fortbewegt hätte. Dem Obduktionsbericht zufolgt wurde der Schuß aus geringer Entfernung von oben abgegeben, was als gezielter und beabsichtigter Todesschuß qualifiziert werden kann.” Richter qualifizierte den Hinweis der bulgarischen Note, dass der Grenzverletzer “aus rund 30 m Entfernung” erschossen worden sei, als unglaubwürdig. „Mit einer solchen Argumentation, verbunden mit der Behauptung, daß die Grenzwache richtig und nach dem Gesetz gehandelt hat, stehen u.E. die zuständigen bulgarischen Organe noch im Jahr 1990 außerhalb der Menschenrechtsauffassung, die aus dem KSZE-Prozeß erwuchsen.” Mit der Berufung auf die Menschenrechte vollzog Konsul Richter ein erstaunliches Wendemanöver, war er doch noch im Juli 1989 als linientreuer SED-Funktionär an dem Vertuschungsmanöver der Todesumstände gegenüber den Angehörigen von Michael Weber maßgeblich beteiligt.
Helga T. erstattete gegen den Todesschützen Tanew eine Strafanzeige wegen Mordes nach § 115 des bulgarischen Strafgesetzbuchs. Doch das Verfahren vor dem Bulgarischen Militärgericht verlief im Sande. In einem Beschluss vom 8. Juni 1992 hieß es, es werde angenommen, dass die Handlungen des Grenzers „rechtmäßig“ gewesen seien. Helga T. hat den Täter bei der Verhandlung vor dem Militärgericht gesehen und über ihren damaligen Eindruck mitgeteilt: „Er war 19 Jahre, genauso alt wie mein Sohn zu diesem Zeitpunkt. Er war sehr stolz, seinem Land diesen Dienst erwiesen zu haben.“