Logo

Suche im Biographischem Handbuch

Biografisches Handbuch

Peter Nötzel

geboren am 20. Januar 1948 in Ilmenau | erschossen am 27. März 1975 | an der bulgarisch-griechischen Grenze östlich des Grenzübergangs Kulata in der Nähe des Dorfes Piperitsa
BildunterschriftPeter Nötzel
BildquelleStefan Appelius
Quelle: Stefan Appelius

Elfriede Nötzel, Jg. 1917, tätig als Reinigungskraft bei der HO in Ilmenau, zog ihren Sohn Peter als alleinerziehende Mutter auf. Der Verbleib des Vaters Josef Nötzel war unbekannt. Peter Nötzel wurde 1954 eingeschult. Die Schule machte im Dezember 1958 das Referat Jugendhilfe auf Peter Nötzel aufmerksam und beantragte seine Heimweinweisung mit der Begründung, dass er bedingt durch die Berufstätigkeit der Mutter, die neben ihrer achtstündigen Berufstätigkeit zusätzlich noch als Haushaltshilfe arbeitete, in seiner Freizeit „viel herumstrolchte und besonders kleinere Kinder negativ beeinflußte“. Obwohl er begabt sei, beteilige er sich nur selten am Unterricht. Er sei verspielt und schwatze laufend. Bis zum Ende des 4. Schuljahres war Peter Nötzel im Hort der Schule untergebracht. Von dort riss er mehrfach aus, die Erzieherin habe wegen seines störenden Verhaltens eine weitere Arbeit mit ihm abgelehnt. Deswegen schlug das Referat Jugendhilfe seiner Mutter eine Heimeinweisung vor. Elfriede Nötzel lehnte dies jedoch strikt ab und verteidigte ihn gegen die erhobenen Anschuldigungen. Es wurde daraufhin seine weitere besondere Betreuung im Hort veranlasst. Eine Besserung im Sinne des „sozialistischen Erziehungsziels“ trat jedoch nicht ein. Gemeinsam mit anderen Kindern beging Peter Nötzel Anfang 1960 mehrere Diebstähle und brachte Geldbeträge zwischen 0,20 und 10,- Mark an sich. Auf einem Jahrmarkt in Ilmenau entwendete die Gruppe einer Frau 150,- Mark und ihre Papiere. Wenige Tage später machte sich Peter Nötzel auf den Weg in den Westen. Er wurde in Eisenach aufgegriffen und zu Schuljahresbeginn 1960/61 in das Kinderheim auf der Veste Heldburg eingewiesen. Dort erreichte er das Klassenziel der 7. Klasse nicht.

Im September 1961 kam Peter Nötzel in das „Spezialkinderheim Bad Blankenburg“, in dem er zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“ umerzogen werden sollte. Seine dortigen Lehrer hielten in den Beurteilungen des Jungen fest: „Peter ist Pionier, muß aber ständig gerügt werden, weil er Aufträge nicht oder unvollständig ausführte. Seine Einstellung zu unserem Arbeiter-und-Bauernstaat ist negativ.“ Kurz darauf wurde gegen Peter Nötzel und den ein Jahr älteren Heinrich Sch. ein Ermittlungsverfahren wegen Fahrraddiebstahls und Einbruchs in eine Laube eingeleitet. Die beiden Freunde waren aus dem Heim entwichen und hatten das Rad entwendet, um zur innerdeutschen Grenze zu gelangen. Sie fuhren zu zweit auf dem Rad – Peter Nötzel saß auf dem Gebäckträger – bis Stützerbach. Dort ließen sie das Rad zurück, fuhren mit dem Zug nach Hildburghausen und begaben sich zu Fuß in Richtung Heldburg, wo sie in eine Kontrolle der Grenzpolizei gerieten und festgenommen wurden.

Die Verantwortlichen des Spezialkinderheims teilten den Ermittlungsbehörden mit, Peter Nötzel sei „auf Grund seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug die gesellschaftliche Gefährlichkeit seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.“ Er könne deswegen nach dem Jugendgesetz (§ 4 JGG) strafrechtlich belangt werden. Gegen die beiden Jugendlichen wurde nun wegen Diebstahls in besonders schwerem Fall sowie wegen Verstoßes gegen das DDR-Passgesetz (ungesetzliches Verlassen) ermittelt. Der Vorwurf des Diebstahls wurde jedoch fallengelassen, da sie das Fahrrad zurückgelassen hatten und es den Geschädigten wieder übergeben werden konnte. Es liege insofern lediglich ein unberechtigtes Benutzen vor. In den Ermittlungsunterlagen wurde festgehalten: „Bei der Beschuldigtenvernehmung brachte der Sch. zum Ausdruck, daß er in Zukunft alles versuchen wird, um nach Westdeutschland zu gelangen.“

Die Volkspolizei lieferte Peter Nötzel und seinen Freund Heinrich Sch. wieder in das „Spezialkinderheim Bad Blankenburg“ ein. Nur wenige Monate später kam es zu einem weiteren Zwischenfall. Ein Unterleutnant der DDR-Grenztruppen befand sich gegen 00:30 mit seiner Frau auf dem Heimweg von einem Gaststättenbesuch, als ihm drei Jugendliche auffielen, die die sich an einem Kiosk zu schaffen machten. Er forderte sie auf, sich unter eine Laterne zu begeben. Als sie versuchten, in verschiedene Richtungen zu flüchten, verfolgte er zwei von ihnen und gab aus seiner Pistole einen Warnschuss und dann einen Schuss schräg neben die Flüchtenden ab. Da Nötzels Freund Heinrich Sch. gestolpert war, und sich nach seinem verlorenen Schuh bückte, wurde er durch einen Streifschuss am linken Unterarm und am Kinn leicht verletzt. Der Unterleutnant hielt ihn fest, woraufhin Nötzel zurückkam. Die Staatsanwaltschaft stellte am 21. Juni 1962 das Verfahren gegen die Jugendlichen ein, beantragte aber wegen fortgesetzten Entweichens aus dem Kinderheim und mehreren Straftaten ihre Einweisung in einen Jugendwerkhof. Dem wurde von der zuständigen Zentralstelle im DDR-Volksbildungsministerium entsprochen.

Bald nach seiner Entlassung aus dem Jugendwerkhof heiratete Peter Nötzel 1966 seine Frau Inge, geb. Gerhardt. Das Ehepaar zog mit dem gemeinsamen Sohn Ingo nach Berlin-Lichtenberg. Peter Nötzel arbeitete offiziell in einem Laden, sein Hauptverdienst beruhte jedoch auf einer kleinen Schmuckwerkstatt in der Wohnung des Ehepaars. Er belieferte DDR-weit einschlägige Geschäfte mit seinem Schmuck. Dieser einträgliche private Handel endete 1975 jäh, als die Steuerbehörde einschritt und von Peter Nötzel eine Zahlung in Höhe von 200.000,- Mark forderte. Das gab den Ausschlag für seine Entscheidung aus der DDR zu fliehen. Wie sich seine Frau erinnert, hatten sie bei einem Urlaub der Familie am Goldstrand in Varna schon über Möglichkeiten einer Flucht von Bulgarien aus in den Westen nachgedacht und überlegt, wie man auf ein Schiff in Richtung Türkei gelangen könnte. Im Jahr darauf fuhr Peter Nötzel allein mit seinem Auto nach Bulgarien um andere Fluchtmöglichkeiten auszukundschaften. Er kehrte jedoch nach Berlin zurück, da er seine Frau und seinen Sohn nicht allein zurücklassen wollte. Doch nach der ruinösen Steuerforderung entschied er sich endgültig zur Flucht. Den Fluchtplan besprach er mit seiner Frau und Freunden, die ihm den Weg zur Grenze anhand einer Skizze erläuterten, die sie von einem Ehepaar erhalten hatten, das erfolgreich aus Bulgarien nach Griechenland geflüchtet war. „Er hatte Angst und irgendwie ein doofes Gefühl“, erinnert sich seine Frau an den Moment des Abschieds. Am 26. März 1975 nahm Peter Nötzel den ersten Interflug von Schönefeld nach Sofia. Für die Reise hatte er sich einen Parka gekauft und machte sich mit einem kleinen Rucksack auf den Weg zur bulgarisch-griechischen Grenze. Am nächsten Abend erschossen bulgarische Grenzwachen Peter Nötzel in der Nähe des Dorfes Pipertisa nahe der griechischen Grenze.

Am 27. März gegen 13 Uhr erhielt Ursula Gott, Hauptreferentin in der Konsularabteilung des DDR-Außenministeriums, eine telefonische Todesmitteilung der DDR-Botschaft aus Sofia. Sie notierte, ein „Hotzl, Peter, geb. 20.01.1948 in Ilmenau“ sei bei dem Versuch die bulgarische Grenze in Richtung Griechenland zu durchbrechen erschossen worden. Der Bereitschaftsdienst der MfS-Abteilung „Sicherung des Reise- und Touristikverkehrs“ (SRT) sei verständigt worden. Sie habe ihren Vorgesetzten Siegfried Grahle wegen des Vorgehens befragt. „Tendenz: Beisetzung in VRB.“ Am 31. März 1975 korrigierte Ursula Gott nach einem Hinweis durch den in der Abteilung SRT für die Bearbeitung von Todesfällen in Bruderländern zuständigen MfS Offizier Werner Ullmann, den Namen des Todesopfers. Es handele sich um Peter Nötzel aus Berlin-Lichtenberg, Türrschmidstr. 15. „Auf Frage, wo Bestattung erfolgen soll, antwortet Gen. U.: Nach Möglichkeit in Sofia.“ Die DDR-Botschaft wurde entsprechend informiert. Am selben Tag unterrichtete Karl Seidel aus der Hauptabteilung Konsularische Angelegenheiten des MfAA den Stadtbezirk Lichtenberg über den Todesfall und teilte mit, Peter Nötzel sei „in VR Bulgarien tödlich verunglückt“, er bitte darum, die Angehörigen zu benachrichtigen. Am folgenden Tag teilte der Leiter der Arbeitsgruppe SRT, Oberstleutnant Peter Pfütze, Ursula Gott mit, die Leiche Nötzels sei bereits in die Gerichtsmedizin nach Sofia überführt worden. Der für Sonderaufgaben in der Abteilung SRT zuständige MfS-Hauptmann Walter Langhans werde am 2. April nach Sofia fliegen und nach der Rückkehr dem MfAA weitere Information über den Stand der Angelegenheit übermitteln. Ebenfalls am 1. April sprach Frau Gott mit Inge Nötzel, die vom Rat des Stadtbezirks Lichtenberg an das MfAA verwiesen worden war. Hauptsachbearbeiterin Gott hielt in einer Gesprächsnotiz fest: „Auskünfte über die Angelegenheit wurden nicht gegeben, es wurde darauf verwiesen, daß wir alle Informationen über den Rat weiterleiten würden.“ Die Botschaft in Sofia sei darum bemüht, die persönlichen Sachen zu sichern und eine Beurkundung des Todesfalls zu erhalten. „Frau N. wurde gebeten, weitere Mitteilungen abzuwarten, die an Rat des Stadtbezirks gehen.“ August Klobes, Hauptabteilungsleiter der Konsularabteilung des MfAA, teilte am 2. April 1975 dem Rat des Stadtbezirks Lichtenberg mit, dass Peter Nötzel bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. „Es muß davon ausgegangen werden, daß nach Ablauf der Untersuchung – entsprechend bulgarischer Gesetzgebung – eine Beisetzung in der VRB angeordnet wird bzw. bereits erfolgt ist.“

Am 3. April 1975 suchte Inge Nötzel in Begleitung ihres Schwagers Ursula Gott im MfAA auf und erklärte, sie sei mit einer Beisetzung in Bulgarien nicht einverstanden. Sie wünsche eine Überführung des Toten in die DDR, um persönlich die Leiche identifizieren zu können. Wenn eine Überführung in die DDR nicht möglich sei, solle der Leichnam ihres Mannes in die Bundesrepublik gebracht werden, da es dort Verwandte gebe. Das lehnte Frau Gott mit der Begründung ab, Peter Nötzel sei doch ein Bürger der DDR. Inge Nötzel äußerte ihre Absicht, sie wolle in die Bundesrepublik übersiedeln. Ursula Gott notierte: „Auskünfte über Tatbestand nicht erteilt, sondern an Rat verwiesen“. Von einer Reise nach Bulgarien habe sie Frau Nötzel abgeraten.

Die Überlieferungen des DDR-Außenministeriums zum Todesfall Nötzel enthalten eine deutsche Übersetzung des „Protokolls über die vollzogene Bestattung in Sofia“ vom 4. April 1975. Es ist vom Untersuchungsrichter bei der Sofioter militärischen Staatsanwaltschaft Oberstleutnant Wladimir Mirtschew Iwanow unterzeichnet, der bei der Bestattung persönlich zugegen war. Als Zeugen waren außerdem anwesend: Sergeant Slatan Rakow, Abteilung Militär Sofia (Nr. 80890), Dimitrina Dimitrowa Georgiewa, Fotospezialistin beim Gericht in Sofia sowie der Miliz-Feldwebel Ulija Alekow Rachkow von der II. Rayonleitung des bulgarischen MdI. Mit dem Protokoll wurden zwei Fotografien der Grabstätte übermittelt. Das Protokoll und die Aufnahmen wurden mit einer Verbalnote des bulgarischen MfAA am 7. April 1975 übermittelt. Darin heißt es, „Peter Alfons Netzel [sic], geb. am 20.1.48 in Ilmenau“, sei am 27. März beim Dorf Piperitzka [Piperitsa], Bezirk Blagoewgrad, erschossen worden, als er versuchte „illegal über die Staatsgrenze zu kommen“.

Am 26. August 1975 telefonierte Ursula Gott mit Oberstleutnant Pfütze im MfS und teilte mit, die Sterbeurkunde müsse nochmals angefordert werden, „Ehefrau will in BRD übersiedeln“ und bisher liege beim Konsul in Sofia keine Urkunde vor. Am 31. Oktober 1975 übersandte das Sekretariat des Ministerrats, Abteilung Eingaben, dem DDR-Außenministerium eine Eingabe von Inge Nötzel, in der sie sich darüber beschwerte, noch immer keine Sterbeurkunde erhalten zu haben. Sie habe beim Standesamt I nachgefragt, bei der konsularischen Vertretung Bulgariens in der DDR, beim Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin und bei der Abt. Inneres im Rathaus Lichtenberg, aber keine dieser Dienststellen habe ihr eine amtliche Bestätigung über den Tod ihres Mannes aushändigen können. Man habe ihr am 31. März 1975 lediglich mündlich mitgeteilt, Ihr Mann sei „in Ausübung eines Verbrechens in der VR Bulgarien verstorben“.

Am 14. November 1975 beantwortete MfAA-Hauptreferentin Ursula Gott pflichtgemäß die Eingabe von Inge Nötzel. Die Botschaft in Sofia sei beauftragt worden, bei den bulgarischen Stellen die Beurkundung des Todesfalles zu erbitten. Sobald dies erfolgt sei, werde die Urkunde an das Standesamt I in Berlin weitergeleitet. Am 15. Januar 1976 schickte Ursula Gott die Sterbeurkunde Nr. 553 der VR Bulgarien für Peter Alfons Nötzel an Frau Weiß in das Standesamt I und bat, nach „Neubeurkundung“ die Ehefrau zu verständigen. Die von Frau Weiß ausgestellte Todesurkunde enthielt im Unterschied zu dem bulgarischen Dokument keinen Hinweis auf Peter Nötzels Todesursache. Als Todesort wurde „WWMI VRB“ eingetragen. Dabei handelte es sich um das Höhere Militärmedizinische Institut des bulgarischen Innenministeriums.

Der Ausreiseantrag, den Inge Nötzel nach dem Tod Ihres Mannes für sich und ihren Sohn Ingo gestellt hatte, wurde abgelehnt. Ende März 1976 versuchte sie, gemeinsam mit einer Freundin und ihrem Sohn in den Westen zu flüchten. Ein Fluchthelfer sollte sie über die Transitautobahn ausschleusen. Das Vorhaben scheiterte. Inge Nötzel wurde von dem für politische Delikte zuständige Strafsenat des Ost-Berliner Stadtgerichts unter Vorsitz der Oberrichterin Gerda Klabuhn am 16. August 1976 wegen Republikflucht zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt und schließlich von der Bundesrepublik freigekauft.


Biografie von Peter Nötzel, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/353-peter-noetzel/, Letzter Zugriff: 21.11.2024