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Biografisches Handbuch

Rudolf Babendererde

geb. 1. Dezember 1931 in Rostock | erschossen am 18. August 1972 | am Kontrollpunkt Jimbolia Kreis Timiș, Rumänien
BildunterschriftRudolf Babendererde
BildquelleUniversitätsarchiv Rostock
Quelle: Universitätsarchiv Rostock
Die rumänisch-jugoslawische Grenze erschien Rudolf Babendererde überwindbar. Gemeinsam mit seiner Familie wagte er die Flucht. Doch durch einen Signaldraht lösten die Flüchtlinge Alarm aus. Herbeieilende Grenzsoldaten eröffneten das Feuer auf die am Boden Liegenden und erschossen den 40jährigen Pädagogen.

Rudolf August Martin Babendererde promovierte 1969 an der Universität Rostock mit einer fachdidaktischen Arbeit zum Thema Untersuchungen zur Weiterbildung der Chemielehrer unter besonderer Berücksichtigung der Analysen von schriftlichen Leistungskontrollen und Lehrerfragen. In seinem mit der Dissertation eingereichten Lebenslauf schilderte er seinen Lebensweg: Er wurde in Rostock geboren, sein Vater Erich war Schlosser, seine Mutter Else Hausfrau. Nach Abschluss der Oberstufe an der Großen Stadtschule in Rostock studierte er von 1951 bis 1955 Chemie an der Universität Rostock, legte das Staatsexamen als Oberstufenlehrer ab und unterrichtete von 1955 bis 1965 an Schulen in Waren (Müritz) und Rostock. „Seit 1965 bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bezirkskabinett für Weiterbildung der Lehrer und Erzieher Rostock und für die Fachgebiete Chemie, Physik und Astronomie verantwortlich. Meine Frau ist Oberärztin an der Bezirksjugendzahnklinik Rostock. Wir haben eine sechsjährige Tochter.“

Bereits 1957 hatte der Staatssicherheitsdienst versucht, den jungen Lehrer als Inoffiziellen Mitarbeiter für Spitzeldienste anzuwerben, was dieser jedoch ablehnte. Rudolf Babendererde war Mitglied der SED und Student der Bezirksparteischule “John Schehr”, Vorsitzender der Nationalen Front in seinem Wohngebiet und Mitglied des Sektionsrates im Fach Chemie der Universität Rostock.

Babendererdes Schwager Dr. Harald B. glückte im Juni 1971 die Flucht über die rumänisch-jugoslawische Grenze. Von Jugoslawien aus konnte er mit Hilfe der bundesdeutschen Botschaft legal nach Westdeutschland weiterreisen. Er fand in Hamburg einen neuen Lebensmittelpunkt. Harald B. schilderte der Familie in Rostock, dass die Grenze im Gebiet von Timișoara (dt. Temeswar) nicht stark bewacht werde. Als sich Rudolf Babendererde und seine Ehefrau ebenfalls zur Flucht entschlossen, versprach er nach Jugoslawien zu fahren und dort im Grenzort Kikinda auf sie zu warten.

Am 5. August 1972 fuhr die Familie mit der inzwischen neunjährigen Tochter in ihrem Auto der Marke „Wartburg“ über die ČSSR und Ungarn nach Rumänien, wo sie am 11. August in Timișoara eintraf. Sie hatten die entsprechenden Reisegenehmigungen für einen Bulgarienurlaub bekommen. Nachdem sie bei einer Erkundungstour den Eindruck gewonnen hatten, dass die rumänisch-jugoslawischen Grenze überwindbar sein müsste, fuhren sie am 17. August um die Mittagszeit bis zum Ort Jimbolia und stellten dort den PKW ab. Anschließend versteckten sie sich in einem grenznahen Maisfeld. Die Grenze wurde in diesem Abschnitt wahrscheinlich nicht mit Zäunen gesichert, dafür aber mit am Boden angebrachten Signaldrähten, die bei Berührung einen Alarm auslösten. Als die Familie nach Einbruch der Dunkelheit begann, über eine freie Fläche bis zur etwa 300 Meter entfernten Grenze zu kriechen, berührte Frau Babendererde einen solchen Signaldraht und löste dadurch Alarm bei dem nächsten Grenzposten aus.

Die sofort herbeigeeilten Grenzsoldaten sichteten im Schein von Leuchtraketen die Familie und befahlen ihr aufzustehen. Sie blieben jedoch am Boden liegen, da sie die rumänischen Aufforderungen nicht verstanden. Die Grenzsoldaten feuerten Warnschüsse ab, einer von ihnen schoss kurz darauf gezielt auf Rudolf Babendererde. Das Strafuntersuchungsorgan der Militäreinheit vermerkte in seinem Bericht, dass der Schütze, der 20jährige Soldat Ioan I., kriechende Gestalten erkannt und nach den Warnschüssen auf jene Person gezielt habe, die sich am weitesten der Grenze angenähert hatte.

Frau Babendererde und ihre Tochter wurden festgenommen. Die Soldaten fesselten sie und ließen Frau Babenderererde nicht zu ihrem Mann, der wenige Meter entfernt am Boden lag und um sein Leben rang. Er starb nach etwa 20 Minuten am Ort des Geschehens gegen 2.30 Uhr. Aus dem Obduktionsprotokoll des Chefarztes der gerichtsmedizinischen Abteilung Timis, Dr. Crisan Traian, vom 18. August 1972 geht hervor, dass Rudolf Babendererde unterhalb der linken Schulter in den Rücken getroffen wurde. „Das Projektil durchschlug die Brustwände, das Diaphragma, den Magen und die Leber.” Eine weitere Schussverletzung wurde am linken Oberarm festgestellt. Der Schuss sei aus einer Entfernung erfolgt, aus der ein genaues Zielen nicht möglich war. “Bei der Abgabe des tödlichen Schusses befand sich das Opfer mit dem Rücken zum Schützen und bot ihm seine linke Seite. Die Kugel, die die tödlichen Verletzungen beibrachte, kam aus annähernd horizontaler Richtung.”

Im Laufe des 18. August traf der Leiter der Konsularabteilung der DDR-Botschaft Bukarest, Klaus Richter, mit den leitenden Mitarbeitern des rumänischen Innenministeriums Oberst Petre und Major Rebegeanu zusammen. Neben der Versicherung, dass die rumänische Generalstaatsanwaltschaft den Vorfall untersuchen und ihre Ergebnisse übermitteln werde, ging es in der Unterredung um den Umgang mit der Leiche und um die Überstellung Frau Babendererdes und ihrer Tochter aus der Untersuchungshaft in die DDR. Die rumänische Seite beabsichtigte nicht gegen die Ehefrau strafrechtlich vorzugehen, auch sollte ihrem Wusch entsprechend die Leiche ihres Mannes in die DDR überführt werden. DDR-Konsul Richter wandte dagegen ein, „daß Babendererde seinen Staat verraten hat und daß deshalb unsererseits kein Interesse an der Leichenüberführung in die DDR besteht”. Die Leiche solle unverzüglich in Timișoara beerdigt und von der Witwe ein entsprechendes Einverständnis erwirkt werden. Es wurde vereinbart, dass Frau Babendererde mit ihrer Tochter bis zum Rückflug in die DDR nach Bukarest gebracht wird.

Am 22. August übergaben die rumänischen Sicherheitsorgane auf dem Flughafen Bukarest-Otopeni Frau Babendererde und ihre Tochter an Konsul Richter. Bis zum Abflug der nächsten Maschine vernahm er sie über den Tatablauf, forderte ihre Barschaft an rumänischen Lei ein und wies sie zurecht, als sie darüber klagte, dass sie nicht einmal das Grab ihres Mannes besuchen durfte. Richter erklärte ihr, sie habe sich “durch das Verbrechen selbst in die Lage gebracht […], in der sie keinen Anspruch auf die Erfüllung der von ihr angedeuteten Wünsche” habe.

Nach ihrer Ankunft in der DDR wurde Frau Babendererde in die Untersuchungshaftanstalt der MfS-Bezirksverwaltung Rostock wegen Vergehens gegen den § 213 des DDR-Strafgesetzbuches eingeliefert, ihre Tochter wurde den Großeltern übergeben. Den „Wartburg“, der mit der Bahn nachgeliefert wurde, beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft Rostock. Die Sanktionen, die die nähere Familie trafen, reichten von verweigerten Reisen über die Telefonkontrolle bis hin zur Einflussnahme auf die Todesanzeige, die keinen Hinweis auf die Todesumstände enthalten durfte. Das MfS plante, gegen Frau Babendererde ein Gerichtsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, das Urteil sollte nicht ausgehändigt und die Einziehung des Autos beschlossen werden. Zu diesem Verfahren, für das die rumänische Generalstaatsanwaltschaft am 13. Oktober 1972 die Ermittlungsunterlagen übersandt hatte, kam es jedoch nicht, da Frau Babendererde aufgrund einer am 6. Oktober 1972 beschlossenen Amnestie zum 23. Jahrestag der DDR-Gründung aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Ihre Bemühungen um eine Exhumierung und Überführung der Leiche ihres Ehemanns in die DDR blieben jedoch erfolglos.

Zum Fall Babendererde gibt es mehrere wissenschaftliche und journalistische Darstellungen. Stefan Appelius berichtet in seinem Aufsatz Fluchtweg Rumänien (2010) den Tathergang als einen von mehreren „Schlaglicht[ern] auf das Grenzregime des Ceausescu-Regimes und die Zusammenarbeit der rumänischen ‚Securitate‘ mit dem ostdeutschen MfS“. Für seine Studie Entzweite Freunde – Rumänien, die Securitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989 (2016) wertete Georg Herbstritt die umfangreichen MfS-Materialien zu diesem Fall aus und schilderte die rumänisch-deutschen Verhandlungen zum Umgang mit der Leichensache. Ebenfalls mit dem BStU-Bestand arbeiteten Marina Constantinoiu und Istvan Deak für ihren 2019 in der rumänischen Onlinetageszeitung Evenimentul Zilei erschienenen Bericht. Die Autoren beschreiben die Flucht von Rudolf Babendererde und seiner Familie als Beispiel für einen von mindestens 800 Fällen von DDR-Bürgern, die über die rumänischen Grenzen in den Westen gelangen wollten. Von diesen seien nur etwa 250 erfolgreich gewesen, die anderen seien verhaftet worden oder ums Leben gekommen. Auch Ionuţ Mircea Marcu geht in seinem Beitrag Flucht aus Rumänien (2020) auf den Fall ein, um zu betonen, dass eine kooperative Forschung in rumänischen und deutschen Archiven erforderlich ist, um die Schicksale der verhafteten und getöteten Flüchtlinge aufzuklären. Die Gesamtzahl der an der Grenze zwischen Rumänien und Jugoslawien getöteten Menschen lasse sich bislang nicht ermitteln.


Biografie von Rudolf Babendererde, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/348-rudolf-babendererde/, Letzter Zugriff: 24.04.2024