Das Volkspolizeikreisamt Seelow meldete in seinem Quartalsbericht vom 31. Oktober 1989, dass in seinem Zuständigkeitsbereich die Fluchtversuche aus der DDR nach Polen schwerpunkmäßig auf die Tage vom 13. September bis zum 27. Oktober fielen. „In 26 Fällen mit 54 Personen erfolgten die Angriffe auf die Staatsgrenze für den Kreis Seelow.“ Volkspolizei und Transportpolizei unterstützten die überforderten Grenztruppen und patrouillierten auf dem Oderdamm.
Da die Einreise nach Polen Einschränkungen unterlag – im Oktober 1980 war der visafreie Personenverkehr eingestellt worden –, versuchten viele DDR-Bürger, deren Ziel die bundesdeutsche Botschaft in Warschau war, schwimmend den Grenzfluss Oder zu überqueren. Am 12. September 1989 hatte in Polen eine neue Regierung unter dem Bürgerrechtler Tadeusz Mazowiecki die Amtsgeschäfte übernommen; DDR-Flüchtlinge, die das Grenzgebiet überwunden hatten, wurden nicht mehr abgeschoben. Etwa 6.000 DDR-Bürger suchten um Aufnahme in der bundesdeutschen Botschaft nach und wurden mit Unterstützung der polnischen Behörden dezentral untergebracht. Am 1. Oktober 1989 durchquerte der erste Zug mit Botschaftsflüchtlingen aus Warschau die DDR in Richtung Helmstedt. Auf diesem Wege wollte auch Frank Müller in den Westen.
Frank Herbert Müller wurde am 6. Februar 1968 in Berlin-Lichtenberg geboren. Sein Vater, bei der Geburt bereits im hohen Alter, starb, als Frank noch ein Kind war. Bis zum fünften Lebensjahr wuchs er bei der Mutter in Markgrafpieske auf, dann wurde er im Sondervorschulheim Hangelsberg bei Fürstenwalde untergebracht und ab 1975 im Kinderheim Seebad in Rüdersdorf. 1982 starb die Mutter. 1983, mit 15 Jahren, kam er in das Kinder- und Jugendwohnheim Erich Hannemann nach Bad Freienwalde, in dem verhaltensauffällige Kinder- und Jugendliche zum Teil längere Zeit unter Betreuung wohnten. Volljährig geworden, verließ er 1986 das Heim und zog nach Zernsdorf, heute ein Teil der Stadt Königs Wusterhausen. Dort wurde er straffällig und büßte vom 9. November 1988 bis zum 5. Juli 1989 eine Haftstrafe ab. Der Vermerk „K3“ auf seiner Meldekarte weist darauf hin, dass es sich hierbei um ein Vergehen der “Allgemeinen Kriminalität”, etwa um ein Diebstahlsdelikt, gehandelt haben muss.
Etwa am 27. Oktober 1989 – auf das Datum wurde aufgrund des Zustands seiner Leiche geschlossen – versuchte der 21-Jährige südlich von Lebus im damaligen Kreis Seelow die Oder zu durchschwimmen. Den Sozialversicherungsausweis und seine Geburtsurkunde trug er bei sich. Ein Passant entdeckte am 3. November 1989 seine im Fluss treibende Leiche in Höhe des Restaurants „Anglerheim“ in Lebus.
Die alarmierte Volkspolizei barg sie mit Hilfe der Freiwilligen Feuerwehr. Bei der Untersuchung der Leiche konnte der Tod durch Ertrinken festgestellt werden. Frank Müllers sterbliche Überreste wurden im Krematorium Frankfurt (Oder) eingeäschert. Auf dem Friedhof in Zernsdorf fand er in der Grablege seiner Mutter die letzte Ruhe. Die Grabstelle lief 2015 aus.
In seinem nächsten Quartalsbericht vom 31. Januar 1990 berichtete das Volkspolizei-Kreisamt Seelow, dass es „mit den Festlegungen zur Erleichterung des Reiseverkehrs und der Erteilung eines Visums für alle Bürger der DDR“ von 9. November 1989 „keine Angriffe gegenüber der Staatsgrenze beiderseitig“ mehr gegeben habe.