Hildegard Richter war am 6. Juni 1951 mit der Bahn von Ilberstadt nach Osterwieck gefahren und von dort aus noch einmal gut zehn Kilometer nach Stapelburg gelaufen. Sie wollte zur Hochzeitsfeier ihres Bruders ins niedersächsische Testorf. Am Ortsrand von Stapelburg erkundigte sie sich bei Karl August Kratzin nach dem Weg zur Grenze und erklärte ihm den Grund ihrer Reise. Der 53-jährige Schmied wohnte mit seiner Ehefrau und seinem jugendlichen Sohn in unmittelbarer Grenznähe. Er hatte selbst schon mehrmals das Eckertal durchquert – Bad Harzburg auf der Westseite lag nur neun Kilometer entfernt – und kannte das Grenzgebiet gut. Außerdem war es nicht ungewöhnlich, dass Menschen nach Stapelburg kamen, um von hier aus in die Bundesrepublik zu gelangen. Er entschloss sich, Hildegard Richter den Weg zu zeigen, um sie nicht der Gefahr auszusetzen, von der Grenzpolizei entdeckt zu werden.
Bis zu den Wegen, auf denen die Grenzstreifen patrouillierten, waren es nur wenige Minuten. Er nahm sein Fahrrad und erklärte, dass er mal nachsehen wollte, doch an der Grenze war zu dieser Zeit kein Durchkommen, das erkannte er sofort. Zurückgekehrt, vertröstete er die junge Frau auf die Nacht, dann ginge es vielleicht. Sie war unschlüssig, da sie mit ihrem Aufenthalt im Dorf bei Dunkelheit unweigerlich Verdacht erregen würde. Kratzin bot ihr an, in seinem Garten zu bleiben. Er versprach ihr auch, sie in der Nacht bis zur Grenze zu führen. Hildegard Richter bedankte sich, sie würde sich erkenntlich zeigen. Kratzin war einverstanden.
Gegen 22 Uhr brachen sie auf. Hildegard Richter und August Kratzin überquerten ein Feld, an das sich ein Wald anschloss, um zum Grenzfluss Ecker zu gelangen. Laut dem Schlussbericht der Grenzkommandantur Lüttgenrode hatte sie bereits zu diesem Zeitpunkt der Volkspolizei-Hauptwachtmeister Günter P. bemerkt und folgte ihnen unbemerkt in den Wald hinein. Als dieser schließlich Hildegard Richter und August Kratzin aufforderte stehenzubleiben, folgte Frau Richter dem Befehl, während Kratzin den Hauptwachtmeister Günter P. zu überzeugen versucht habe, ihn gehen zu lassen. Schließlich hätte er selbst ja gar nicht vorgehabt, die Grenze zu überqueren. Als der Grenzer darauf nicht eingegangen sei, habe Kratzin plötzlich die Flucht ergriffen. In ihrer polizeilichen Vernehmung schilderte Hildegard Richter, was dann geschah: „Ich hörte Schießen, weiß aber auch nicht, wieviel Schüsse gefallen sind. Wie mir noch erinnerlich ist, sagte ich nach dem ersten Schuß, nicht schießen. Darauf hörte ich nochmaliges Schießen. Ich nehme an, daß der Mann vom ersten Schuß nicht getroffen wurde. Nachdem das Schießen vorbei war, ging ich mit dem Posten aus dem Wald heraus. Am Rande des Waldes lag der Mann schwerverletzt und stöhnte.“ August Kratzin erlitt einen Bauchdurchschuss mit Verletzungen der inneren Organe. Laut dem Schlussbericht der Grenzkommandantur eilten, von Günter P. alarmiert, weitere Grenzpolizisten herbei. Der Verletzte wurde verbunden und ins Krankenhaus Osterwieck überführt. Doch dort konnte ihm nicht mehr geholfen werden. Er starb noch am selben Tag gegen 24 Uhr.
Da August Kratzin in Stapelburg beliebt war, reagierten die Einwohner des Dorfes empört. Die Journalistin Rosi Schwarz berichtete am 6. Juni 1991 in der Goslarschen Zeitung: „Wütende Jugendliche […] rotten sich zusammen und bewaffneten sich mit Knüppeln. ‚Wir wollte den Grenzpolizisten, der geschossen hatte totschlagen‘, erzählt ein Stapelburger, der auch mit dabei war. Da die Wut und der Zorn der jungen Leute nicht zu bremsen war, wurde ein Einsatzkommando angefordert. Fast alle wurden während der unerbittlichen Verfolgungsjagd gefasst, verhaftet und in der Grenzkommandostelle Lüttgenrode eingesperrt.“ Der Stapelburger Ortspfarrer Franz Grosse dokumentierte die Tat im Kirchenbuch: „August Kratzin starb an einem Bauchdurchschuß an der irrsinnigen Grenze, 300 Meter von seinem Haus entfernt, von deutscher Volkspolizei erschossen, als er einer Frau beim Grenzübertritt helfen wollte.“
Eine nach dem Vorfall eingesetzte Untersuchungskommission entschied, dass der Schütze Günter P. in rechtmäßiger Dienstführung gehandelt habe. Die Oberstaatsanwaltschaft Magdeburg stellte am 17. Juli 1951 ihre Ermittlungen zum „Schußwaffengebrauch mit tödlichem Ausgang“ ein. Anfang der 1990er Jahre untersuchte auch die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität den Vorfall. Weil der Schütze jedoch bereits 1985 verstorben war, stellte die Staatsanwaltschaft Berlin das Ermittlungsverfahren 1993 wieder ein.