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Biografisches Handbuch

Gerhard Schmidt

geboren am 5. Februar 1939 in Stablack, Kreis Preußisch Eylau südlich von Königsberg (heute: Kaliningrad, Russland) | gestorben am 6. August 1977 im Krankenhaus von Planá, Bezirk Tachov | angeschossen unweit des Dorfes Broumov, Bezirk Tachov vor der Staatsgrenze zur Bundesrepublik Deutschland.
BildunterschriftGerhard Schmidt
BildquelleBStU
Quelle: BStU
Gerhard Schmidt hatte bereits einmal versucht, über die ČSSR durch den Eisernen Vorhang nach Westdeutschland zu flüchten. Sein erster Fluchtversuch scheiterte, weil ihn Grenzwächter der ČSSR am 6. September 1976 festnahmen. Seinen zweiten Fluchtversuch, den der Familienvater mit seiner Ehefrau und ihren gemeinsamen Kindern unternahm, stoppte ein ČSSR-Grenzer am 6. August 1977 durch Schusswaffenanwendung. Gerhard Schmidt starb an seinen schweren Schussverletzungen noch am selben Tag im Krankenhaus von Planá.

Gerhard Schmidt kam am 5. Februar 1939 als Sohn von Erna und Ewald Schmidt in der Siedlung Stablack im Kreis Preußisch Eylau südlich von Königsberg in Ostpreußen zur Welt. Die Rote Armee besetzte Stablack im März 1945. Nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition annektierte die Sowjetunion Schmidts Geburtsort und vereinte mehrere Siedlungen zur Kleinstadt Dolgorukovo im heutigen Rayon Bagrationovsk. Vor dem Eintreffe der Roten Armee wurden Teile der deutschen Bevölkerung von der Wehrmacht nach Dänemark evakuiert. Gerhard Schmidt und seine Eltern blieben dort zwei Jahre als Internierte.

Nach der Entlassung aus dem dänischen Internierungslager zog die Familie nach Schwerin. Ewald Schmidt arbeitete dort fortan als Installateur für Energieversorgung und trat in die SED ein. Gerhard Schmidt beendete 1954 die Grundschule mit der 8. Klasse und begann eine Lehre zum Bauschlosser im VEB und Kombinat Heizungsbau und Schlosserei Schwerin. Seit 1954 gehörte er dem FDGB und ab 1955 der FDJ an. Nach seiner Lehrzeit blieb er von 1957 bis 1960 als Bauschlosser in dem Betrieb. Da ihn seine Vorgesetzten dienstlich und gesellschaftspolitisch negativ einschätzten, orientierte er sich beruflich um. Von 1960 bis 1961 war er als Klempner im VEB Energieversorgung Schwerin beschäftigt. Seine neuen Arbeitsgeber beurteilten ihn durchweg positiv.

Im August 1961 wurde Gerhard Schmidt zum Direktstudium der Fachrichtung Fördertechnik an der Ingenieurschule für Schwermaschinenbau „W. Ulbricht“ in Roßwein (Bezirk Leipzig) zugelassen. Er beendete die Hochschule im August 1964 mit der Gesamtnote „befriedigend“. Während des Studiums musste er an drei sechswöchigen Reservistenlehrgängen der NVA teilnehmen, die er als Gefreiter abschloss. Nach dem Studium verlegte Schmidt seinen Wohnsitz für ein Jahr nach Priesteritz, einen Ortsteil von Wittenberg, wo er als Projektingenieur der Stickstoffwerke Priesteritz arbeitete. Er war Mitglied der ingenieurfachlichen Kammer der Technik (KdT), der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) sowie der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF).

Von 1961 bis 1965 gehörte Gerhard Schmidt der SED an. Nach etlichen negativen Erfahrungen in dieser Partei beendete er am 30. Juli 1965 seine Parteimitgliedschaft. In seiner Austrittsbegründung kritisierte er, dass in der SED „alles auf Zwang gemacht werden mußte“ und ihm wegen Nichtteilnahme an Parteiversammlungen und Schulungslehrgängen „nur Unannehmlichkeiten“ entstanden waren. Er zog nach Leipzig und arbeitete dort seit August 1965 als Projektingenieur in der Leipziger Außenstelle des VEB Eisengießerei und Maschinenfabrik Zemag Zeitz. In seinen Kaderakten vermerkte die SED zum 11. August 1965: „Er ist der falschen Auffassung, daß falls er sich kirchlich trauen läßt, weitere Auseinandersetzungen durch die Partei erfolgen werden.“ Obwohl ihn die SED drängte, seinen Parteiaustritt zu widerrufen und sich parteiintern nach Leipzig umzumelden, „brachte er zum Ausdruck, daß er mit der Partei nichts mehr zu tun haben will“. Deswegen leitete die SED-Führung des Stadtbezirks Leipzig-Mitte am 9. September 1965 ein Parteiverfahren gegen ihn ein. Er weigerte sich jedoch auf einer Mitgliederversammlung zu erscheinen, die seine Parteiangelegenheit erörtern sollte. Laut einer vom MfS verfassten „Information, Einschätzung zum Verhalten der Person Schmidt, Gerhard“ schloss ihn die SED 1965 aus, weil er mit dem „Parteileben“ haderte und zudem seine Missbilligung darüber äußerte, „daß die DDR die Wiedervereinigungstheorie fallen lassen hat“.

Gerhard Schmidt heiratete im April 1966 in Leipzig. Seine Frau Brigitte (Jg. 1947) brachte im September 1966 ihren ersten Sohn zu Welt. Seit November 1966 lebte die Familie in der Kreisstadt Staßfurt im Bezirk Magdeburg. Dort kamen im August 1970 der zweite Sohn und im Oktober 1971 eine Tochter zur Welt. Brigitte Schmidt arbeitete als Verkäuferin in der HO Gemüsehalle Leninring und Gerhard Schmidt als Projektingenieur bei der Hauptabteilung Anlagenprojektierung im VEB Chemieanlagenbau Staßfurt (CAS).

Seine Vorgesetzten bescheinigten ihm exzellente professionelle Qualifikationen. Er erledige seine Aufgaben präzise, „absolut termintreu“ und mit tadelloser Disziplin. Er galt als verpflichteter Geheimnisträger bezüglich vertraulicher Dienstunterlagen. SED-Funktionäre zeigten sich von Schmidt allerdings wenig begeistert. Sie hielten ihn für politisch unzuverlässig. Nach ihrer Beurteilung habe sich Schmidt im Betrieb vom „Kollektiv“ der Brigade isoliert, Solidaritätsspenden verweigert, der Bildung einer „Brigadeklasse“ nicht zugestimmt und erneut eine SED-Mitgliedschaft abgelehnt. Er habe zudem „jede politische Einflußnahme auf ihn“ als „belästigend“ bezeichnet und verhalte sich bewusst politisch und sozial passiv oder teilnahmslos. Darüber hinaus habe er sich in Diskussionen mit SED-, und Betriebsfunktionären mehrfach als für die DDR nutzlose, „gesellschafts-politische Niete“ charakterisiert und starrköpfig an seinen Auffassungen festgehalten.

Trotz der recht guten Lebensumstände seiner Familie war Gerhard Schmidt vom SED-Regime und dem Leben in der DDR enttäuscht. Zudem scheiterten seine Versuche, andernorts eine Arbeitsstelle zu finden. Bewerbungen bei fast 90 Betrieben blieben erfolglos. Die Ablehnungen wurden mit angeblich fehlenden Wohnräumen oder Planstellen begründet. Gerhard Schmidt empfand das als politische Schikane und Diskriminierung, weil er aus der SED ausgetreten war und sich gesellschaftspolitisch inaktiv verhielt. Als Konsequenz aus diesen Enttäuschungen begann Gerhard Schmidt mit der Suche nach Fluchtmöglichkeiten in den Westen. Der Weg über die innerdeutsche Grenze oder die Berliner Mauer schien ihm zu gefährlich. Am 4. September 1976 reiste er mit einem Touristenvisum auf dem Bahnweg über den Grenzübergang Schönberg-Vojtanov in die ČSSR. Er führte Reisesachen und tschechische Kronen für einen fünftägigen Aufenthalt mit sich. Auch hatte er sich bei Bekannten in der Bezirksstadt Karlovy Vary zur privaten Unterkunft angemeldet. Seine Rückfahrkarte nach Staßfurt galt für den 8. September. Am 6. September 1976 versuchte Gerhard Schmidt, bei der Siedlung Lipová im Bezirk Cheb die Grenze zu überwinden, um nach Westdeutschland zu gelangen. Soldaten der 13. Kompanie des Grenzschutzes im Bezirk Cheb stellten ihn um 16:30 Uhr nur 20 Meter vor der Staatsgrenze und lieferten ihn am folgenden Tag in das Gefängnis der Regionalverwaltung Plzeň (dt. Pilsen) ein.

Das seit 1961 geltende Strafgesetzbuch der ČSSR bewertete im § 109 Absatz 1 den Versuch, die tschechoslowakische Grenze ohne Erlaubnis in den Westen zu überqueren, als „Verbrechen der Republikflucht“. Für diese Straftat war ein Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Entsprechende Strafverfahren hatte das Bezirksgericht zu führen, in dessen Jurisdiktionsbereich eine „Straftat des Verlassens der Republik“ versucht oder begangen wurde. Im Fall Schmidt wäre das Bezirksgericht Cheb zuständig gewesen. Es hat jedoch gegen den Fluchtverdächtigen kein Ermittlungsverfahren eröffnet. Vielmehr beschloss die Abteilung Untersuchung der Staatssicherheit (SNB) der Regionalverwaltung Pilsen am 8. September 1976, den „Verbrecher“ abzuschieben. Diese administrative Zwangsmaßnahme begann am nächsten Tag mit Schmidts Überstellung aus dem Gefängnis Pilsen in die Auslieferungshaft nach Prag. Von dort wurde er am 14. September 1976 in die DDR ausgeflogen.

Schmidt blieb etwa drei Tage in Untersuchungshaft der MfS-Ermittlungsabteilung IX in Magdeburg. Er räumte ein, sich verlaufen und an der ČSSR-Grenze nach Westdeutschland kurz daran gedacht zu haben, sie zu überqueren. Das habe er dann aber aus Rücksicht auf seine Frau und die Kinder unterlassen. Letztlich wäre seine Festnahme in der ČSSR irrtümlich geschehen. Obwohl sich die Untersuchungsführer darin einig waren, dass Schmidt „illegal in die BRD“ flüchten „und auf dem Wege der Familienzusammenführung seine Frau dann nachholen wollte“, fehlten dafür die konkreten Beweise. Das MfS entließ ihn aus der Untersuchungshaft und sperrte ihn für den visafreien Reiseverkehr. Das Volkspolizeikreisamt Staßfurt stellte ihm am 21. September 1976 nur einen provisorischen Personalausweis aus.

In der Folge beantragte das Ehepaar Schmidt am 8. Oktober 1976 bei der Abteilung Innere Angelegenheiten im Rat des Kreises Staßfurt die „Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und Ausweisung in die BRD bzw. nach Österreich“. Mit der Bitte um Unterstützung ihres Übersiedlungsantrags schrieben die Eheleute Schmidt im Oktober 1976 fünf Prominente aus Wissenschaft und Kultur der DDR an. Die MfS-Kreisdienststelle Staßfurt leitete daraufhin am 1. November 1976 eine Postkontrolle („M-Kontrolle“) gegen die Familie ein. Einen Monat später kamen mehrere Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) und Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS gegen Gerhard Schmidt im Arbeitsumfeld und im Wohngebiet zum Einsatz. MfS-Leute sichteten die Personalunterlagen Schmidts, überprüften Nachbarn der Familie und stellten fest, dass jene an Feiertagen an ihrem Fenster keine DDR-Fahne anbrachte, obwohl ihr eine solche übergeben worden war. Die am 3. Januar 1977 eröffnete Operative Personenkontrolle sollte die „Schaffung eines Sympathisantenkreises“ oder etwaige Unterstützer Schmidts präventiv stoppen und unerwünschte demonstrative Handlungen verhindern. Außerdem stellte die zuständige MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg Überlegungen an, ob und wie der Ingenieur in der Hauptabteilung Anlagenprojektierung im VEB Chemieanlagenbau Staßfurt ersetzbar wäre.

Unbeirrt reichte das Ehepaar Schmidt am 17. Januar 1977 den zweiten Antrag auf Ausbürgerung und Ausweisung aus der DDR beim Rat des Kreises Staßfurt ein. Zugleich schickten sie weitere Briefe mit der Bitte um Unterstützung ihres Ausreiseantrags an Volkskammerabgeordnete und Ratsmitglieder des Bezirks Magdeburg. Nun eröffnete die Staßfurter MfS-Kreisdienststelle am 25. Januar 1977 auch ein Ermittlungsverfahren gegen Brigitte Schmidt. Am 1. Februar 1977 musste sich Gerhard Schmidt im VEB Chemieanlagenbau Staßfurt vor dem SED-Sekretär, dessen Stellvertreter und dem Direktor für Kader und Bildung rechtfertigen. Bei einer erneuten „Aussprache“ in der Abteilung Inneres des Kreisrates am selben Tag wurde Gerhard Schmidt die Ablehnung des zweiten Übersiedlungsantrags mitgeteilt und ihm, da er sich „hart an der Gesetzesverletzung bewegt (Staatsverleumdung)“, gedroht, dass er „eventuell mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen“ müsse.

Im Juni 1977 stellte Gerhard Schmidt einen dritten Übersiedlungsantrag für sich und seine Familie. Gemeinsam mit seiner Frau fertigte er erneut über 100 Bittbriefe an Prominente und politische Funktionsträger. Auf dem Weg zum Sommerurlaub bei Brigitte Schmidts Eltern im Erzgebirge verschickte Gerhardt Schmidt diese Post aus verschiedenen Ortschaften. Insgesamt 77 dieser Schreiben landeten später in den Akten des MfS. Da aber sämtliche Ausreisanträge gescheitert waren, entschloss sich Gerhardt Schmidt zu einem erneuten Fluchtversuch über die ČSSR, diesmal mit seiner Familie. Brigitte Schmidt reiste am 4. August 1977 mit ihrem jüngeren Sohn und ihrer Tochter visafrei über die Grenzübergangsstelle Oberwiesenthal nach Boží Dar in die ČSSR ein. Da Gerhard Schmidt auf Grund seiner Vorgeschichte vom visafreien Reiseverkehr in die ČSSR ausgeschlossen war, überquerte er am selben Tag mit seinem älteren Sohn im Raum Oberwiesenthal illegal die grüne Grenze. Sie orientierten sich anhand zweier Wanderkarten für das Erzgebirge, die auch Routen durch die Grenzregion zwischen ČSSR und Westdeutschland enthielten. Die Eheleute und ihre drei Kinder kamen in Boží Dar wieder zusammen, reisten mit dem Bus über die Bezirksstadt Karlovy Vary südwestlich nach Mariánské Lázné und blieben zwei Tage und Nächte dort.

ČSSR-Ermittler dokumentierten später den Fluchtversuch der Familie. Demnach reiste sie am 6. August 1977 mit dem Zug in die Bezirksstadt Tachov, nahm dort den Bus bis zum Dorf Halže und begab sich dann zu Fuß vier Stunden durch den Wald bis zum Dorf Broumov am Bach Hamerský potok. Sie befand sich nun vier Kilometer östlich von Mähring im bayrischen Landkreis Tirschenreuth. Gerhard Schmidt und seine Frau führten eine Landkarte, zwei Kompasse sowie eine Kneifzange mit sich. Um etwa 17:45 Uhr erreichte die Familie den militärischen Sperrbezirk – die erste Zone vor der Staatsgrenze. Als Gerhard Schmidt zehn Minuten später über den Kontrollsandstreifen lief und die Drähte des Signalzauns mit der Kneifzange zu kappen begann, löste er dadurch einen Alarm in der Wachzentrale der 17. Kompanie der Grenzwache Broumov aus. Ein etwa 250 Meter entfernter Grenzsoldat rannte mit seiner Maschinenpistole in der Hand heran. Nach eigenen Aussagen habe er „Stůj“ (d. h.: „Bleib stehen“) gerufen und dann einzelne Warnschüsse abgefeuert sowie mehrere Schusssalven teils in die Luft und teils in Richtung Gerhard Schmidts. Dieser durchtrennte, ohne auf die Warnungen zu reagieren, sieben Signaldrähte und schlüpfte hindurch – in die zweite Grenzzone. Seine Frau und Kinder folgten aus ihrem nahen Versteck im Unterholz durch den Signalzaun in den Wald und einen Hügel hinab zu einer Straße in Richtung Staatsgrenze. Der Schütze Milan P. folgte den Flüchtenden durch das Loch im Signalzaun. Er will dann wieder „Stůj“ (d. h.: „Bleib stehen“) gerufen haben, bevor er weitere Feuerstöße abgab. Als er sich Gerhard Schmidt bis auf zirka 70 Meter angenähert hatte, stellte Milan P. nach eigenen Angaben seine Maschinenpistole auf Einzelfeuer und schoss stehend zweimal gezielt auf den Flüchtenden. Der ersten Schuss habe nicht getroffen, nach dem zweiten Schuss sah Milan P., dass der Verfolgte zu Boden stürzte. Er befand sich in diesem Augenblick noch weit vor der dritten und letzten Grenzzone entfernt.


Seine Frau und die Kinder liefen zu dem Schwerverletzten. Milan P. hielt die Familie in Schach, bis nach wenigen Minuten der alarmierte Wachturmposten, Vratislav K., sowie der Patrouillenführer, Vladimir M., hinzugerannt kamen. Erst danach leisteten die drei Grenzwächter dem Verletzten Nothilfe. Anschließend fuhren sie den Verwundeten zum Krankenhaus in Planá im Bezirk Tachov. Trotz einer Notoperation an Lunge und Zwerchfell verblutete Gerhard Schmidt. Er starb an einem „Traumaschock“ am 6. August 1977 gegen 19:00 Uhr.

Tschechoslowakische Sicherheitskräfte übergaben Brigitte Schmidt und ihre Kinder am 7. August 1977 vom Grenzübergang Vojtanov den am DDR-Grenzübergang Schönberg wartenden MfS-Leuten. Am 8. August 1977 erließ das Kreisgericht Magdeburg-Stadtbezirk Mitte Haftbefehl gegen Brigitte Schmidt. Ihre drei Kinder kamen in ein Heim. Angesichts der Trennung von ihren Kindern und der drohenden Haftstrafe gab Brigitte Schmidt in höchster Not gegenüber den MfS-Vernehmern an, sie sei in der DDR zufrieden gewesen und wäre von sich aus nie in den Westen geflohen. Ihr Mann habe jedoch gedroht, notfalls mit dem älteren Sohn allein zu flüchten. Nach diesem „Geständnis“ und da sie alle früheren Gesuche auf Ausbürgerung und Übersiedlung widerrief sah das MfS von einer Anklage gegen Brigitte Schmidt ab und setzte sie auf freien Fuß. Sie durfte mit ihren Kindern nach Staßfurt zurückkehren, stand aber dort unter weiterer Überwachung durch eine politisch-operative „Betreuerin“ des MfS.

In der ČSSR untersuchte die Verwaltung des Korps für Nationale Sicherheit der Region Pilsen und eine Kommission der 5. Grenzbrigade Cheb am 7. August 1977 den Todesfall von Gerhard Schmidt. Bereits am 8. August 1977 bescheinigte die Militärkommission dem Soldaten Milan P., er hätte „keine andere Möglichkeit“ gehabt, als den unbewaffneten Flüchtling niederzuschießen. Das sei nach „der Dienstverordnung OSH I-1, Artikel 183, Buchstabe a (…) vollständig gerechtfertigt […,] richtig und sehr verantwortlich“ gewesen.

Die Behörden der ČSSR lieferten am 10. August 1977 den Leichnam Gerhard Schmidts gemäß den bilateralen Vereinbarungen an die DDR aus. Für dessen Beisetzung verfügte das MfS zwei Tage später spezielle Sicherungsmaßnahmen. Die weiteren Ermittlungen zum Todesfall sollten absoluter Geheimhaltung unterliegen. „Informationen in die Öffentlichkeit, insbesondere in andere Länder“, seien streng zu kontrollieren, um sowohl die DDR als auch die ČSSR „vor politischer Diskreditierung“ schützen.

Die Sterbeurkunde von Gerhard Schmidt lag in inoffizieller Übersetzung der Hauptabteilung Konsularische Angelegenheiten beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR am 23. August 1977 vor. Die amtliche Todesurkunde stellte das Standesamt I auf Anordnung des Magistrats von Berlin aus. Die Todesursache wurde darin wie üblich bei Fluchtopfern nicht angegeben. Nachdem auch der zuständige Militärstaatsanwalt der Region Pilsen, Oberstleutnant Josef Šuchman, einen „gerechtfertigten Schusswaffengebrauch“ am 1. September 1977 beurkundet hatte, erhielt der Todesschütze Milan P. Sonderurlaub, die beiden anderen beteiligten Grenzsoldaten wurden mit Uhren und „Freigang“ belohnt.

Am 23. September 1977 erfolgte die Beisetzung der Urne des angeblich „tödlich verunglückten Gerhard Schmidt“ auf dem Friedhof in Staßfurt. MfS-Leute und zwei „zuverlässige“ Informanten aus dem VEB Chemieanlagenbau beaufsichtigten „politisch-operativ“ die Trauerfeier und identifizierten die erschienenen Trauergäste und registrierten Sympathiebekundungen, Stimmungen und Kranzablagen durch Angehörige und Nachbarn der Familie Schmidt. Inoffizielle MfS-Mitarbeiter beobachteten die Grabstelle noch bis zum Monatsende. Der Staatsanwalt des Bezirks Magdeburg stellte am 13. Oktober 1977 das Ermittlungsverfahren gegen Brigitte Schmidt ein.

Die juristische Aufarbeitung des Todes von Gerhard Schmidt ist noch nicht abgeschlossen. Die Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften der Bundesrepublik Deutschland, der Slowakischen Republik und der Tschechischen Republik haben ihre Strafverfolgungen im Todesfall Schmidt zwar 1995, 2001 und 2008 eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Weiden hat jedoch zusammen mit dem bayerischen Landeskriminalamt seit der Jahreswende 2017/2018 die Untersuchung von mehreren Todesfällen am Eisernen Vorhang der ČSSR aufgenommen, da ein begründeter Anfangsverdacht auf Mordhandlungen gegen diese DDR-Bürger vorlag. Inzwischen beteiligt sich auch die Staatsanwaltschaft Tschechiens an den Ermittlungen. Schmidts Tochter Astrid konnte am 5. Mai 2020 für dessen ersten Fluchtversuch im Jahr 1976 beim Bezirksgericht Cheb eine juristische Rehabilitierung durchsetzen. Am 25. Mai 2020 sprach das Bezirksgericht Tachov beim Regionalgericht Pilsen die Familie Schmidt bezüglich des gemeinsamen Fluchtversuchs von jeder Schuld frei. Den beiden Söhnen und der Tochter Gerhard Schmidts sprach das Außenministerium der Tschechischen Republik am 28. Januar 2021 eine Entschädigung von insgesamt 100.000 Kronen (rund 3.600 Euro) zu. Brigitte Schmidt hat das nicht mehr erlebt. Sie starb am 4. September 1998 in Staßfurt.


Biografie von Gerhard Schmidt, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/319-gerhard-schmidt/, Letzter Zugriff: 20.04.2024