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Biografisches Handbuch

Gunter Pschera

Geboren am 1. Februar 1944 in Erlbach (Vogtland) | Erschossen am 1. September 1967 gegen 0:30 (nach anderen Quellen gegen 1:30 Uhr) | Ort des Zwischenfalls: Nahe Evrenezovo (Volksrepublik Bulgarien) im Grenzgebiet zur Türkei
BildunterschriftGunter Pschera
BildquelleStefan Appelius
Quelle: Stefan Appelius
In der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1967 versuchten Gunter Pschera (23) und Peter Müller (29) gemeinsam über die grüne Grenze aus der Volksrepublik Bulgarien in die Türkei zu gelangen. Nach dem Eindringen in das Sperrgebiet wurden sie gegen 18:30 Uhr nördlich des Dorfes Evrenezovo von zwei Jugendlichen bemerkt, die sofort den Bürgermeister informierten, der darüber unverzüglich die bulgarischen Grenztruppen telefonisch verständigte. Kurz nach Mitternacht wurden die beiden jungen Männer von einer Alarmgruppe der Grenztruppen in einem Waldstück nahe der Grenze entdeckt und sofort unter Feuer genommen. Pschera erlag noch vor Ort seinen Schussverletzungen, den ebenfalls schwer verletzte Peter Müller transportierten die Soldaten in das Bezirkskrankenhaus nach Burgas ab.

Gunter Pschera kam in Erlbach (Vogtland) als einziges Kind von Rudolf Pschera, der als Kaufmännischer Angestellter im elterlichen Bauunternehmen beschäftigt war, und der Verkäuferin Johanne Pschera zur Welt. Seine Eltern waren bürgerlich-konfessionell geprägt.

Gunter Pschera besuchte von 1950 bis 1958 die Grundschule in Erlbach und anschließend die Erweiterte Oberschule (EOS) in Klingenthal, die er 1962 mit dem Abitur abschloss. Anschließend erlernte er in Glauchau den Beruf eines Betonbauers und studierte danach in Karl-Marx-Stadt, um Bauingenieur zu werden. Nach seinem Studienabschluss bezog er ein Zimmer im „Wohnheim der Bauschaffenden“ und arbeitete als Bauingenieur im Bau- und Montagekombinat Süd in Karl-Marx-Stadt.

Renate Wunderlich, eine Jugendfreundin von Gunter Pschera, erinnert sich, Gunter sei damals an der Oberschule der „Schwarm aller Schulmädchen“ gewesen. Tschechoslowakische Grenzer hätten ihn einmal, 1962/63, beim gemeinsamen Skilaufen im Grenzgebiet bei Klingenthal festgenommen. Sein Kommilitone Peter Lang schildert Pschera als lebensbejahenden und optimistischen Menschen mit einem positiven Weltbild. Im Sommer arbeitete Pschera als Rettungsschwimmer auf Usedom, in seiner Freizeit spielte er Saxophon in der „Sinus-Combo“.

Im Spätsommer 1966 – ein paar Wochen nach seinem Studienabschluss – wurde Pschera Vater eines unehelichen Kindes. Er bestritt jedoch die Vaterschaft und lehnte die Zahlung von Unterhalt ab. Der Streit wurde schließlich im Bezirksgericht Karl-Max-Stadt entschieden und durch eine ärztliche Untersuchung die Vaterschaft bestätigt. Das Gericht verurteilte Pschera im Frühjahr 1967 zur Nachzahlung einer größeren Geldsumme. Er hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet und rechnete mit einer baldigen Einberufung zur Nationalen Volksarmee (NVA).

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Der Fluchtplan via Bulgarien scheint nicht von Pschera sondern von dem ebenfalls ledigen, 29jährigen Peter Müller – der als Bauingenieur beim VEB „Bohr- und Sprengtechnik“ beschäftigt war und der SED angehörte – ausgegangen zu sein. Peter Lang erinnert sich, dass Müller und er bei einer gemeinsamen Bulgarienreise im Sommer 1964 entschieden, über die Volksrepublik in den Westen zu fliehen, weil das wie sie glaubten ungefährlicher wäre als eine Flucht über die innerdeutsche Grenze. Nachdem Lang von dem Vorhaben Abstand nahm, suchte Peter Müller einen anderen Begleiter. Er fand ihn in seinem ehemaligen Kommilitonen Gunter Pschera. Sicher ist, dass Pschera nicht zum Wehrdienst in die Nationale Volksarmee (NVA) wollte. Für eine Fluchtabsicht spricht auch seine Verurteilung im Vaterschaftsprozess. Sein Freund Peter Müller hatte auf Drängen seines regimetreuen Elternhauses bereits nach einer Maurerlehre freiwillig von 1956 bis 1958 in der NVA gedient. Peter Müller stand in „gutem Kontakt“ mit einem Freund seines Bruders Dieter, dem der Chefredakteur des FDJ-Blatts „Junge Welt“, Horst Pohnert, versprochen hatte, einen Auftrag als Bauleiter in einem afrikanischen Land zu verschaffen.

Am 9. August 1967 brach Gunter Pschera mit seinem Freund Peter Müller per Eisenbahn von Karl-Marx-Stadt aus zu einer seit langem geplanten genehmigten Ferienreise in die Volksrepublik Bulgarien auf. Am 12. August 1967 überquerten die beiden jungen Männer nach einem Zwischenstopp in Bukarest mit dem Zug die Donau. Die Reise führte über die Grenzübergangstelle Rousse nach Varna, wo sie in einem Privatquartier am Fuße eines Weinbergs unterkamen. Hier trafen sie sich, wie verabredet, mit vier Freunden aus Karl-Marx-Stadt, die ihre Ferien ebenfalls am Schwarzen Meer verbrachten. Sie hatten ihnen in ihren beiden „Trabis“ einen Teil des Gepäcks mitgebracht. Einer dieser Freunde war Günter Möstl. Gemeinsam zog man nach ein paar Tagen auf einen Campingplatz am Sonnenstrand in Nessebar.

Wie sich Günter Möstl an damals geführte Unterhaltungen mit den beiden erinnert, waren der abenteuerlustige aber eher zurückhaltende Pschera und der quirlige, hochgewachsene Peter Müller mit den Lebensbedingungen in der DDR unzufrieden. Möstl charakterisiert Peter Müller als „Mensch mit tausend Leben in der Brust, voller Tatendrang, manchmal ziemlich unberechenbar“.

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Die jungen Leute sprachen untereinander ausgiebig über das für und wider des Fluchtplans. Die beiden Bauingenieure Müller und Pschera glaubten, mit ihrer Qualifikation im Westen bessere berufliche Zukunftsausschichten zu haben. Sie wollten nicht „immer nur Plattenbauten“ errichten. Ihr Ziel bestand darin, über die Türkei nach Göteborg in Schweden zu gelangen, wo ein Onkel Pscheras lebte, der als Musikinstrumentenbauer arbeitete. Ihn hatte Gunter Pschera als Heranwachsender ein paar Jahre vor dem Mauerbau einmal während seiner Schulferien besucht.

Pschera und Müller hatten schon vor der Abreise in Karl-Marx-Stadt gegenüber ihren drei Mitreisenden ganz offen über ihren Fluchtplan gesprochen und erklärt, keine unnötigen Risiken eingehen zu wollen. „Das war ein ganz normaler Urlaub“, erinnert sich Möstl an die Ereignisse im August 1967: „Es gab keine Bedrückung. Die Stimmung war: Es wird schon gut gehen. Die beiden waren sicher, es würde klappen.“ Am 23. August 1967 reisten Pschera und Müller dann aus Nessebar mit einem als Frachtgut per Eisenbahn in die Volksrepublik versandten Motorrad in das „Internationale Zeltlager“ Primorsko weiter. Von Primorsko aus wollten sie das Grenzgebiet zur Türkei erkunden. Ihre in die DDR zurückkehrenden Freunde nahmen neben einigen ihrer Kleidungsstücken auch Souvenirs für die Eltern von Pschera und Müller mit. Die Verabschiedung verlief in lockerer Atmosphäre, erinnert sich Günter Möstl. Er fotografierte die beiden Männer noch einmal unmittelbar vor seiner Heimreise und sagte scherzend zu Peter Müller, er müsste ja jetzt seine „Grenzübergangsschuhe schnüren“.

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Fünf Tage verbrachten Peter Müller und Gunter Pschera dann noch in Primorsko, wo sie sich mit einer jungen Bulgarin namens „Rosi“, Ruschina Petrova, aus Stara Zagora anfreundeten, bevor sie am 28. August 1967 zu einer ersten Aufklärungsfahrt mit dem Motorrad aufbrachen. An diesem Tag wurden sie von bulgarischen Grenzsoldaten an einer Straßensperre schon weit vor der Grenze gestoppt, „ermahnt“ und nach Primorsko zurückgeschickt. Den zweiten Versuch starteten sie am 31. August 1967. An diesem Tag fuhren sie morgens um 5:30 Uhr mit ihrem Motorrad über Jasna Poljana und Novo Pantscharevo etwa vierzig Kilometer auf der Straße von Burgas nach Malko Tarnovo. Sie hielten in der Nähe von Bosna an, da sie dort den Grenzposten vermuteten und versteckten ihr Motorrad links von der Chaussee im Wald. Nach der Durchquerung dieses Waldes gelangten sie an die Straße Bosna – Fakija – Grudovo (heute Sredetz). Am Rande dieser Straße liefen sie etwa drei Kilometer entlang, bevor sie sich erneut in ein Waldgelände in Richtung Grenze begaben.

Gegen 18:30 Uhr erreichten sie einen Hügel über der Ortschaft Evrenezovo. In diesem Dorf lebten zu diesem Zeitpunkt etwa dreihundert Menschen, es war die einzige größere Ansiedlung auf bulgarischer Seite, die sich in der Nähe der Grenze befand. Mit Pscheras Opernglas konnten sie drei Wachtürme erkennen. Sie vermuteten, dass es nicht mehr sehr weit bis zur eigentlichen Grenze sein könne. Dass sie von zwei „jungen Pionieren“ entdeckt worden waren und die Grenztruppen bereits über ihre Anwesenheit im Grenzgebiet verständigt waren, wussten sie nicht. In dieser Gegend war es zuvor nämlich schon häufig zu Grenzzwischenfällen gekommen, der Vorsitzende des Dorfrates hatte zwei Jahre zuvor eigenhändig einen bulgarischen Flüchtling am Ufer des Flusses Veleka nach einer „wüsten“ Schlägerei ergriffen und den Sicherheitskräften übergeben.

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Spät am Abend legten sich die Müller und Pschera im Wald zum Schlafen nieder. Sie wollten die Morgendämmerung abwarten. Doch dann wurden sie durch „Brechen im Unterholz“ geweckt. Peter Müller hat die Ereignisse dieser Nacht in einer Niederschrift vom 5. September 1967 wie folgt beschrieben: „Da wir uns abends bei Einbruch der Dunkelheit etwa in Grenznähe wussten, legten wir uns zusammen nieder und deckten uns mit einer Decke zu. Etwa gegen 1:30 wurden wir durch ein Brechen im Unterholz geweckt, spürten wie ein Hund näherkam, uns die Decke wegzog und wie sich die Soldaten näherten. Wir hatten uns während der gesamten Zeit nicht geregt und lagen beide seitlings nebeneinander. Die Soldaten müssen etwas gesehen haben, eröffneten aus etwa 5 m sofort das Feuer und verwundeten uns sofort. Anschließend schlugen sie mit Füßen und MPi-Kolben auf uns ein. (…) In Anbetracht des Todes meines Freundes möchte ich (…) feststellen, dass wir sofort ohne Anruf und Ergebensmöglichkeit im Liegen zusammengeschossen wurden. Keiner von uns machte mehr als eine Schutzbewegung.“ In einem Brief an seine Eltern bezeichnete Peter Müller die Grenzsoldaten als „Schweinehunde von Format“.

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Der durch die Geschosse schwer verletzte Peter Müller hat mehrere unzensierte Briefe und Kassiber aus der Haft hinterlassen. Am 9. September 1967 schrieb er seinen Eltern: „Alles war grauenhaft, Gunters Tod, die Schmerzen, die Selbstvorwürfe, ich will das nicht verschweigen! Ich bin aber auch mit mir im Reinen – das schlimmste ist vorbei und ich bereue das Getane nicht! […] Es kam anders und ich wollte es anders aber was nutzt das. Fest steht, dass wir uns beide über das Risiko klar waren und dass wir beide unabhängig voneinander das Risiko voll und ganz auf uns zu nehmen gewillt waren. Ich weiß es mündlich von Gunter und innerlich von mir. Es war meine letzte Chance. Ich wäre in der DDR nie restlos glücklich geworden mit dem Gedanken: Seinerzeit hast Du’s verpasst.“ In einem weiteren Brief an seine Eltern vom 13. September 1967 hieß es: „Schwer ist es natürlich mit Gunter. Ich hatte nur mehr Glück. Wie alles kam möchte ich nicht schreiben, ich will da unseren Sicherheitsorganen nicht vorwegkommen. Falls Euch das bewegen sollte: Ich habe keinerlei Schuld an seinem Tod, in keiner Hinsicht.“ In einem Kassiber aus der U-Haft vom 1. März 1968 fügte er hinzu: „Die Darstellung unserer Festnahme wurde, wahrscheinlich in Eigenerkenntnis des Verbrechens, gefälscht. Obwohl wir uns keinen Zentimeter bewegten wirft die bulgarische Darstellung uns Flucht vor. Ihnen wird man glauben.“

Das Ehepaar Hanni und Rudolf Pschera wurde am Sonntag dem 3. September 1967 in Erlbach von zwei Herren aufgesucht, die sich als Kriminalpolizisten vorstellten. Sie teilten Pscheras Eltern mit, ihr Sohn Gunter sei bei einem Fluchtversuch in die Türkei tödlich verletzt worden sei. Am nächsten Tag wurde ihnen eine am 31. August 1967 in Karl-Marx-Stadt nachträglich abgestempelte Postkarte zugestellt, auf der es sinngemäß hieß: „Die besten Urlaubsgrüße aus Bulgarien sendet Euch Gunter. Es ist sehr schön hier und wir fahren jetzt weiter nach Süden.“

In der Volksrepublik Bulgarien leitete am 1. September 1967 der zuständige Untersuchungsführer beim „Komitee für Staatssicherheit“ in Burgas, Grigor Stefanow Michowski, eine Anklage gemäß Artikel 275 des Bulgarischen Strafgesetzbuches gegen den verstorbenen Gunter Pschera ein. Peter Müller hat später berichtet, einer der Soldaten habe auf die beiden am Boden liegenden scheinbar leblosen Körper uriniert. Die Grenzer hielten beide für tot. Die vermeintlichen Leichen wurden hinten in ein Militärfahrzeug geworfen. Erst hier stellten die Grenzsoldaten fest, dass Müller noch lebte. Er hatte zwei Bauchschüssen erlitten und sein Oberschenkel war von einem Geschoss durchschlagen worden. Während der Fahrt sagte ihm einer der Soldaten: „Kamerad kaputt“. Aufgrund seiner schweren Verletzungen – ein Oberschenkelknochen war etwa fünf Zentimeter oberhalb der Kniescheibe weitgehend zertrümmert – blieb Peter Müller noch mehrere Wochen im Bezirkskrankenhaus von Burgas in Behandlung, bevor er Mitte Oktober 1967 mit dem Flugzeug in die DDR zurückgebracht und in das Haftkrankenhaus des MfS nach Leipzig-Meusdorf verlegt wurde. Von hier aus kam Peter Müller erst in die Haftanstalt nach nach Bautzen und später in das Gefängnis nach Karl-Marx-Stadt.

Am Nachmittag des 1. September 1967 obduzierte der Gerichtsmediziner Dr. Walko Walkow den Leichnam von Gunter Pschera im Bezirkskrankenhaus Burgas. Anschließend begrub man ihn als „unbekannter ostdeutscher Bürger, 21 Jahre“ auf dem Friedhof in Burgas im Quartal VI B, Parzelle 4, Reihe I, Grab 7 obwohl den bulgarischen Behörden seine Identität und sein Alter bekannt war. Die Bestattungskosten in Höhe von 26,93 Lewa überwies DDR-Konsul Heinz Neugebauer von Varna aus an das Bezirkskrankenhaus Burgas. Konsul Neugebauer war es auch, der am 4. November 1967 in seinem Konsulat eine Todesurkunde ausstellte, in die er den Vornamen „Günter“ statt Gunter Pschera eintrug. In der Hauptabteilung Konsularische Beziehungen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) in Ost-Berlin war unter anderem Dr. Peter Krause mit der Bearbeitung des Todesfalls befasst. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt wurde auch die Generalstaatsanwaltschaft der DDR einbezogen, in deren Akten Gunter Pschera fälschlich als „Günter“ verzeichnet ist.

In einer bulgarischen Tageszeitung erschien im Spätsommer 1967 ein kleiner Artikel, mit der offiziellen bulgarischen Version der Ereignisse. Dieser Artikel – angeblich verfasst von einem Oberstleutnant Iwan Janakiew, tatsächlich aber von einem Mitarbeiter der bulgarischen Staatssicherheit – trug die Überschrift: „An der Grenze wachen nicht nur die Grenzer“. Rudolf Pschera gelangte in den Besitz dieses Artikels, in dem der Tod seines Sohnes folgendermaßen dargestellt wurde: „Die Sonne neigt sich dem Westen zu, noch ein bisschen und der Tag wird zu Ende gehen. Die Pioniere Atanas Ontschf [tatsächlich Atanas Ivanov Ontschew] und Oktan Atanassow [tatsächlich Bogdan Manolov Atanassow] hüten ihre Pferde hinter dem Dorf. Unerwartet sehen sie ein paar hundert Meter von sich entfernt ein paar Unbekannte mit Rucksäcken auf dem Rücken, die sich schnell versteckten, als sie die Jungen bemerkten. Die Jungen wußten sofort, was zu tun war. Nach einer Minute rannten sie zum Ausführenden [Vorsitzenden] des Rates Wassil Schterew [tatsächlich Wassil Sterew Dimitrow]. Es folgte ein kurzes Telefongespräch mit der Grenzbrigade. Während dieser Zeit versammelte sich und wartete die ganze freiwillige Abteilung. In derselben Zeit durchsuchten die Grenzer jeden Meter. Einige MPi-Salven zerrissen in der Dunkelheit die Stille. Die Grenzer Starschina Nikolow [Obersergeant Koljo Ivanov Nikolow, Mitglied der BKP], Untersergeant Christoph [Untersergeant Christo Iwanow Chrisotow, Mitglied des Komsomol], Gefreiter Iwanow [Gefreiter Kantscho Angelow mit Hund] und Soldat Georgiew [tatsächlich Dimiter Georgew] begannen den Kampf mit den [Grenz]-Verletzern. Einer fiel in dem scharfen Gefecht, der andere verwundet hob die Hände. So endete diese Grenzepisode im Dorf Evrenezovo.“

Der überlebende Peter Müller wurde bereits im Mai 1968 aus der Untersuchungshaft entlassen, da man keine Möglichkeit sah, die Behandlung seiner schweren Verletzungen in zufriedenstellender Form zu sichern. Müller war durch die Schusstreffer zum Invaliden geworden. Er musste sich über vier Jahre lang zahlreichen Operationen unterziehen. Das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt verurteilte ihn am 17. Juni 1968 vom zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten, die wegen seines Gesundheitszustandes zur Bewährung ausgesetzt wurde. Peter Müller legte erfolglos Berufung ein. Seine drei in den Fluchtplan eingeweihten Freunde, darunter Günter Möstl, wurden durch den DDR-Staatsicherheitsdienst wegen ihrer vermuteten Mitwisserschaft bis Ende 1968 im Rahmen einer „operativen Maßnahme“ überwacht.

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Am Tag der Urteilsverkündung schrieb Peter Müller einen Brief an Gunter Pscheras Eltern und bot ihnen an, persönlich über die Ereignisse in Bulgarien zu berichten: „Verstehen Sie mich bitte, wenn ich an dieser Stelle nichts von Gunters tragischem Tod erwähne, ich habe und werde ihn nie vergessen.“ Kurz darauf ließ sich Rudolf Pschera von seinem Neffen nach Karl-Marx-Stadt fahren, wo er sich zu einem Gespräch mit Peter Müller traf. Wie sich Stefan Pschera, der Cousin von Gunter Pschera, erinnert, war die Unterredung bereits nach einer halben Stunde beendet. Gunters Vater sei enttäuscht gewesen, nur wenig Informationen von Müller erhalten zu haben. Rudolf Pschera versuchte erfolglos die Überführung der sterblichen Überreste seines Sohnes in die DDR zu erreichen. Er reiste persönlich in die Volksrepublik Bulgarien, um weitere Einzelheiten über den Tod seines Sohnes zu erfahren. Es gelang ihm, ein älteres deutschstämmiges Ehepaar zur Pflege der Grabstätte seines Sohnes, des angeblich „unbekannten ostdeutschen Bürgers“, zu gewinnen. Als Peter Müller 1977 nach Bulgarien reiste, war das Grab seines Freundes bereits verschwunden. Peter Müller schrieb 1982 an Rudolf Pschera: „Einen weiteren Versuch, in die BRD zu kommen, habe ich nicht unternommen, da ich doch ein paar Jahre bis zu meiner Gesundung benötigte und weitere Jahre hinter Gittern, die nun mal nie ausschließbar sind, schlicht und einfach scheute. Ihnen zu schreiben scheute ich mich bisher auch. Sie schrieben mir zwar einst vor Jahren, dass Sie mir für das Geschehene keine Schuld geben, ganz kann man sich aber doch nicht freimachen von dem Gedanken, dass man einiges hätte anders machen können und mir als dem Älteren hätte das wahrscheinlich zugestanden.“ Nachdem Rudolf Pschera Ende der 1960er Jahre auf eigene Faust in die Volksrepublik Bulgarien gereist war, um Nachforschungen über den Tod seines Sohnes anzustellen und dabei bis zu dem Gerichtsmediziner Dr. Walkow vordrang, wurden ihm und seinen Angehörigen weitere Reisen nach Bulgarien untersagt. Gunter Pscheras Eltern hegten zeitlebens Zweifel daran, ob in dem mysteriösen Grab in Burgas wirklich ihr Sohn zur letzten Ruhe gebettet wurde. Hanni und Rudolf Pschera haben das Ende der DDR nicht mehr erlebt. Sie sind 1984 und 1986 in Erlbach gestorben. Peter Müller starb am 22. Juni 1994 in Potsdam. Er wurde nur 55 Jahre alt. „Obwohl er sein Leben lang nie geraucht hat, war er an Lungenkrebs erkrankt“, berichtet seine Ehefrau. Sie glaubt, ihr Mann sei von der Staatssicherheit während seiner Haft absichtlich verstrahlt worden.


Biografie von Gunter Pschera, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/308-gunter-pschera/, Letzter Zugriff: 21.11.2024