Am 19. August 1988 gegen 19:30 Uhr versuchte der 26jährige Frank Schachtschneider aus Berlin-Oberschöneweide die Grenze der Volksrepublik Bulgarien zur Türkei zu überwinden, um in die Bundesrepublik Deutschland zu fliehen. Der Vorfall ereignete sich etwa 800 Meter von der türkischen Grenze entfernt, nachdem Schachtschneider – in kurzer Hose und mit einer Reisetasche über der Schulter – bereits die 2,50 Meter hohe Grenzsignalanlage überwunden hatte. Dabei wurde er von einer Alarmgruppe des Grenzposten Shupel der Bulgarischen Grenztruppen gestellt. Über die nun folgenden Handlungen der bulgarischen Grenzsoldaten sind unterschiedliche Versionen des Geschehens überliefert. Fest steht, dass Frank Schachtschneider mit einer schweren Kopfverletzung am 19. August in das Bezirkskrankenhaus Burgas (Бургас) eingeliefert und einer Gehirnoperation unterzogen wurde. Er starb am Abend des 10. September 1988 an den Folgen seiner Kopfverletzung.
Frank Schachtschneider wurde in Berlin-Köpenick als Sohn des Maschinenschlossers Olaf Schachtschneider (1963/64 Unterwachtmeister in der Bereitschaftspolizei Basdorf, anschließend zeitweise FDJ-Sekretär) und seiner Frau Bärbel geboren. Als Frank Schachtschneider 12 Jahre alt war, ging die Ehe seiner Eltern auseinander. Der Junge blieb bei seiner Mutter und wuchs im gerade neu entstehenden Salvador-Allende-Viertel in Köpenick auf.
Im Herbst 1977 erfuhr das MfS, dass sich der Schüler der 10. Klasse, Frank Schachtschneider (Spitzname: „Gicht“) am Anbringen von „Hetzschriften mit antisowjetischem Charakter“ im Salvador-Allende-Viertel in Köpenick beteiligt hätte. Schachtschneider äußerte gegenüber einer „Quelle des MfS“, dass er „mit dabei gewesen“ sei und selbst die Worte „Russen raus“ geschrieben habe. Als er anschließend von zwei Mitarbeitern des MfS darüber befragt wurde, leugnete er seine Beteiligung. In einer Aktennotiz des MfS BV Berlin (Abtl. XXII) heißt es: „Der Schachtschneider soll stark westlich orientiert sein und dementsprechend selbst in der Schule provokatorisch auftreten.“
Nach dem Besuch der Polytechnischen Oberschule Pablo Neruda bis 1978 und der anschließenden Lehre als Zerspannungsfacharbeiter, verpflichtete sich Frank Schachtschneider für drei Jahre als Berufsunteroffizier und diente bei einem Fallschirmjägerbataillon der Nationalen Volksarmee (NVA) in Lehnin. Er wurde als Stabsfeldwebel aus dem Militärdienst in die Reserve versetzt und arbeitete seit Oktober 1984 bei dem Wäschereibetrieb „VEB Rewatex“ in Berlin-Spindlersfeld.
Aus der Beziehung mit einer langjährigen Schulfreundin ging Ende 1982 sein Sohn hervor. Die Beziehung des Paares, dass am 14. Dezember 1984 in Neuenhagen (Kreis Strausberg) heiratete, stand jedoch unter keinem guten Stern und wurde bereits im August 1986 wieder geschieden. Frank Schachtschneider litt zusehends unter der schlechten Wohnsituation und den Versorgungsproblemen in der Hauptstadt der DDR. Aus Unzufriedenheit trat er 1984 aus dem FDGB aus. Nach der Scheidung lernte Frank Schachtschneider eine junge Frau aus einem evangelischen Elternhaus kennen, mit der er sich schon bald darauf verlobte. Unter ihrem Einfluss und durch den freundschaftlichen Kontakt mit jungen Monteuren der Firma Kannegießer aus der Bundesrepublik, die zeitweise in seinem Betrieb eingesetzt waren, hat sich Frank Schachtschneider verändert.
Er ließ sich Anfang 1988 taufen und entschloss sich wenige Monate später, am 13. Juni 1988, einen Ausreiseantrag zu stellen, in dem es zur Begründung seines Anliegens heißt: „Ich will nicht mehr länger den Staat DDR mittragen. Da ich für mein persönliches Leben in der DDR keine Perspektive mehr sehe. Es gibt viele Gründe dafür, die mich dazu bewogen haben, diesen für mich so lebensentscheidenden Schritt zu tun.” Nachstehend ist Frank Schachtschneiders Ausreiseantrag dokumentiert.
Seinen Ausreisantrag ließ er von westdeutschen Arbeitskollegen über die Grenze schmuggeln. Vorsichtshalber schickte er eine Durchschrift mit einem persönlichen Begleitschreiben, in dem er um „aktive“ Unterstützung bat, auch an die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms (CDU).
Zwischenzeitlich hatte sich die Beziehung zwischen Frank und seiner Verlobten abgekühlt. Während Schachtschneider in die Bundesrepublik wollte und zur Erreichung seines Ziels auch eine Haftstrafe in Kauf genommen hätte, wollte sie unter allen Umständen bei ihren Eltern in der DDR bleiben und war vom SED-Regime als „Volksvertreterin“ für Hellersdorf auserkoren. Trotzdem stand eine gemeinsame Urlaubsreise an die Bulgarische Schwarzmeerküste bevor, für die den beiden und den Eltern der Verlobten bereits die entsprechenden Genehmigungen erteilt worden waren.
Nach Angaben seiner Mutter hat Frank Schachtschneider schon vor seiner Abreise in die Volksrepublik Bulgarien, seine Flucht in die Türkei geplant, nachdem ihm von einem Mitarbeiter der „Abteilung für Inneres“ wegen des in den Westen geschmuggelten Übersiedlungsantrages mit einer langjährigen Haftstrafe gedroht worden war. Er wollte kein Risiko eingehen, erinnert sich seine Mutter Bärbel Schachtschneider. Wenn die Grenzer ihn fassen, wolle er stehenbleiben und „in den Bau gehen“, versprach er seiner Mutter. In diesem Fall rechnete er mit seinem baldigen Freikauf.
Anfang August 1988 reiste Frank Schachtschneider mit seiner Verlobten und deren Eltern über Burgas nach Sozopol an der südlichen Schwarzmeerküste, wo sie eine gemeinsame Ferienwohnung bezogen. Frank Schachtschneider schwieg über seine geplante Flucht. Seine Verlobte erinnert sich im Rückblick, dass er am Abend vor seinem Verschwinden mit einem Bekannten noch über eine Flucht in die Türkei gescherzt habe. Am nächsten Morgen fuhr er dann mit dem Bus in die benachbarte Stadt Achtopol, angeblich um ein Mitbringsel für seine Mutter zu kaufen. Von Achtopol aus begab er sich dann zu Fuß in Richtung des Sperrgebietes bei Rezovo. Nachdem er nicht zurückkehrte, erkundigten sich seine Verlobte und deren Vater beim örtlichen Vertreter des „Reisebüro der DDR“, über seinen Verbleib. Hier erfuhren sie nach einiger Verzögerung, dass Frank Schachtschneider bei der „Begehung einer Straftat“ verhaftet worden sei, sich aber „wohlauf“ befinde. Dieser Informationsstand entsprach auch der Auskunft, die seine zum fraglichen Zeitpunkt urlaubsbedingt an der Ostsee weilende Mutter nach der Rückkehr von Franks Verlobter nach Ost-Berlin von ihr erhielt. Bärbel Schachtschneider wurde noch bis zum 16. September 1988 über das tatsächliche Schicksal ihres Sohnes im Unklaren gelassen. Sie hatte bereits Rechtsanwalt Lothar de Maizière (CDU) beauftragt, die Interessen ihres angeblich verhafteten Sohnes zu vertreten. Die Recherchen de Maizières brachten Frau Schachtschneider unter anderem in den Besitz des Obduktionsprotokolls ihres Sohnes. Sie hält die von DDR-Behörden mitgeteilte Darstellung der Todesumstände ihres Sohnes – Auslösung des Todesschusses durch einen erschreckten Spürhund – für unglaubwürdig. Bärbel Schachtschneider ist davon überzeugt, dass ihr Sohn nach seiner Festnahme durch einen gezielten Hieb mit dem Kolben eines Maschinengewehrs auf den Kopf niedergestreckt wurde.
Die sterblichen Überreste von Frank Schachtschneider wurden am 9. November 1989 auf dem Friedhof der Evangelischen Stadtkirchengemeinde in Köpenick beigesetzt. Auch Franks Vater Olaf Schachtschneider nahm daran teil. Er ist noch immer zornig darüber, dass der Pfarrer seinen Sohn als einen Straftäter bezeichnete. Keiner der namentlich bekannten bulgarischen Grenzsoldaten wurde wegen der Tötung des jungen Berliners je zur Rechenschaft gezogen. Ein Bekannter aus West-Berlin bat am 29. September 1989 in Schachtschneiders Auftrag Amnesty International um Unterstützung bei der Aufklärung der Todesumstände seines Sohnes.
Am 13. Dezember 1989 äußerte sich Olaf Schachtschneider im ZDF-Magazin „Studio 1“ dann selbst über den Tod seines Sohnes: „Mein Sohn wurde im August 1988 von bulgarischen Grenzsoldaten ermordet. […] Bisher wurden die Staatsverbrecher der DDR lediglich der Selbstbereicherung, Unterschlagung usw. beschuldigt. Das Hauptdelikt, dessen sich diese Leute. das alte Politbüro, schuldig gemacht haben, ist Mord. Tötung im Interesse ihrer eigenen Bereicherung. Tötung an der Mauer an den Staatsgrenzen der DDR und den Grenzen ihrer ‚Bruderländer‘ zum westlichen Ausland. Unter dem Vorwand der Sicherheitsinteressen wurden junge Menschen wie Hasen abgeknallt. Zur Abschreckung und zur Verhinderung der Flucht.“