Hartmut Tautz wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Zu seiner drei Jahre älteren Schwester Carola hatte der zartgebaute Junge – er wog im Alter von 17 Jahren bei einer Körpergröße von 1,76 m nur 56 Kilogramm – ein inniges Verhältnis. Seine Mutter Christa (Jg. 44) stammte aus Breslau, sein Vater Joachim (1915 – 1986) aus Stettin. Er hatte bevor er in Ruhestand ging als Zahnarzt gearbeitet und war ein ausgebildeter Opernsänger. Die Eltern förderten die künstlerische Begabung ihres Sohnes. Er spielte Klarinette und das so gut, dass er in den letzten zwei Jahren seiner Schulzeit in das Magdeburger Jugendsinfonieorchester aufgenommen wurde. Anlässlich des Todestages von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hing im Januar 1986 auf einer Wandzeitung in der Schule über dem Porträt Erich Honeckers ein Trauerflor. Es gab Befragungen von Schülern, Hartmut Tautz wurde verdächtigt, doch es konnte nichts bewiesen werden. Nach dem Abitur stand der Armeedienst an. Hartmut Tautz bewarb sich auf Anraten seines Musiklehrers als Musiker bei dem Armeemusikkorps. Er spielte vor und erhielt eine mündliche Zusage. Doch 14 Tage später kam die Absage, im Aufnahmegespräch für den Armeedienst hatte er seine Westverwandten angegeben. Auch sein Wunsch, Musik zu studieren, wurde ihm verwehrt. Dem stand seine bürgerliche Herkunft im Weg. Man bot ihm stattdessen ein Lehrerstudium an. Im Frühjahr 1986 starb überraschend sein Vater. Hartmut Tautz sah für sich keine Zukunft mehr in der DDR und beschloss, das Land zu verlassen. Gegenüber seiner Mutter begründete er die Reisevorbereitungen mit einer abschließenden Klassenfahrt nach Leningrad.
Die slowakischen Sicherheitsbehörden in Bratislava ermittelte später, dass Hartmut Tautz am 31. Juli 1986 in der Nähe von Petrovice „illegal“ aus der DDR in die Tschechoslowakei gekommen sei. In Ústí nad Labem löste er dann eine Fahrkarte nach Bratislava. Ab dem 1. August 1986 fand er in einem Studentenwohnheim Unterkunft und erkundete in den folgenden Tagen wahrscheinlich das Grenzgebiet. Am Abend des 8. August 1986 machte er sich auf den Weg, um in der Nähe von Petržalka die Grenze nach Österreich zu überqueren. Er hatte bereits mehrere Grenzsicherungsanlagen überwunden und konnte schon die Lichter der österreichischen Gemeinde Kitsee sehen, als er um 22.16 Uhr einen Signaldraht durchtrennte und damit bei der 11. Kompanie der Grenzwachbrigade Bratislava Alarm auslöste.
Zwei herbeigeeilte Grenzsoldaten Ivan Hirner und Oldřich Kovář ließen ihre Hunde Robo und Ryšo, zwei sogenannte “selbstständig attackierende Hunde”, von der Leine, die Hartmut Tautz etwa 22 m von der Grenze entfernt aufspürten und anfielen. Die Tiere hatten dem wehrlosen Flüchtling ganze Fleischfetzen aus dem Körper gerissen und am Kopf schwere Bißwunden zugefügt. Als Ivan H. und Oldrich K. Hartmut Tautz erreichten bat er wimmernd um Hilfe. Doch ließen sie ihn zunächst liegen und fragten nach seinem Namen, seinen Papieren und etwaigen Mitflüchtlingen. Der am Ort des Geschehens eingetroffen Grenzoffizier Viliam Švirk sagte später aus, er habe den Schwerverletzten verbunden und mit einem Dienstwagen zur Grenzwache bringen lassen. Von dort brachte ihn ein Krankenwagen in das Militärkrankenhaus nach Bratislava. Es dauerte noch 40 Minuten bis das Fahrzeug im Krankenhaus eintraf. Dort erlag Hartmut Tautz am 9. August 1986 um 1.15 Uhr seinen Verletzungen.
Am 11. August 1989 verständigte der Leiter der Kanzlei des tschechoslowakischen Innenministeriums die in der ČSSR stationierte MfS-Operativgruppe von dem Vorfall, diese erstatte umgehend Meldung an die MfS-Zentrale in Berlin sowie an die MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg. Am 13. August schrieb DDR-Konsul Richter aus Bratislava an die DDR-Generalstaatsanwaltschaft, der Todesfall Hartmut Tautz sei in einer Note des Regierungsamtes der SSR vom 11. August 1986 mitgeteilt worden. Der ermittelnde Offizier habe ihm erklärt, „daß wir den Ermittlungsbericht und den Auszug aus dem Obduktionsprotokoll auf dem sonst üblichen Weg nicht erhalten werden”. Er teile deswegen vorab mit, das im Schein über die Leichenschau vom Arzt des Militärkrankenhauses Bratislava und vom obduzierenden Arzt des Gerichtsmedizinischen Instituts als Todesursache Blutverlust und eine „große Anzahl von Riß- und Quetschwunden an Kopf, Körper und Gliedmaßen“ festgestellt wurden.
Eine Mitarbeiterin des Rates der Stadt Magdeburg, Abteilung Innere Angelegenheiten, erklärte der Mutter von Hartmut Tautz am 12. August 1986, „daß ihr Sohn in der CSSR tödlich verunglückt ist“. Diese war davon ausgegangen, dass ihr Sohn an der Schulabschlussfahrt nach Leningrad teilnahm. Sie bestand auf der Rückführung des Toten nach Magdeburg. Am 22. August rief eine Mitarbeiterin der Urkundenstelle im Rat der Stadt Magdeburg im DDR-Außenministerium an und wies darauf hin, die Mutter sei verzweifelt darüber, „daß sich Überführung so in die Länge zieht.” Sie habe im Generalkonsulat angerufen, aber der Konsul habe „überhaupt nicht Bescheid“ gewusst. Das Konsulat in Bratislava und das DDR-Außenministerium (MfAA) verzögerten die von den Angehörigen gewünschte Überführung des Leichnams von Hartmut Tautz. Die Untersuchungsabteilung des DDR-Staatssicherheitsministeriums teilte der Magdeburger Bezirksverwaltung mit: „Seitens der Sicherheitsorgane der CSSR wird davon abgeraten, den Eltern des Tautz die Möglichkeit zu geben, ihren Sohn zu sehen, da er schwere Verletzungen im Gesicht und im Halsbereich hat.” Am 27. August 1986 rief der MfAA-Mitarbeiter Balschulat bei der Abteilung Inneres der Magdeburger Stadtverwaltung an und erklärte, dass inzwischen die Freigabe des Leichnams erfolgt sei. Das Bestattungswesen Berlin habe den Leichnam zur Nachobduktion durch Professor Otto Prokop im Institut für gerichtliche Medizin der Charité eingeliefert. Anschließend werde der Sarg zu dem von der Mutter gewünschten Ort der Beisetzung, dem Magdeburger Neustädter Friedhof, überführt. Eine unter „operativer Kontrolle“ der Magdeburg MfS erschienene Todesanzeige durfte nur die Angabe enthalten, Hartmut Tautz sei an den Folgen eines tragischen Unfalls verstorben. Der Staatssicherheitsdienst überwachte am 4. September 1986 auch die Trauerfeier und stellte danach zufrieden fest, dass keine westdeutschen Verwandten dazu nach Magdeburg angereist waren.
Drei Monate nach der Beisetzung erhielt Frau Tautz einen Brief in der Handschrift Ihres Sohnes. Vermutlich hat er den Umschlag jemanden anvertraut und um eine spätere Absendung gebeten: “Liebe Mutter, nein. Ich bin nicht mit meiner Klasse nach Leningrad gefahren, sondern fahre an die Grenze und ich versuche nach drüben zu kommen. Ich kann mir sicherlich vorstellen, dass Du ziemlich fertig bist. Aber hier in der DDR sehe ich keine Alternative zum Leben. Ich möchte nicht in dieser Armee dienen und auch nicht Lehrer werden. Ich habe mir diesen Schritt sehr überlegt.”
Seit dem 9. August 2016 erinnert am Ort des Vorfalls ein Denkzeichen an Hartmut Tautz. Auf Betreiben seiner Mutter und seiner Schwester sowie der Prager Platform of European Memory and Conscience rehabilitierte das Bezirksgericht Bratislava am 13. März 2017 Hartmut Tautz. Sowohl in Deutschland als auch in Tschechien führten Strafanzeigen der Platform schließlich zur Aufnahme von gemeinsamen Ermittlungen der Staatsanwaltschaften Prag und Weiden (Oberpfalz). Wegen des gewaltsamen Todes von Hartmut Tautz und anderen erhob die Bezirksstaatsanwaltschaft Prag am 25. November 2019 Anklage gegen den Generalsekretär des ZK der KSČ Milouš Jakeš (1922–2020), den Innenminister der ČSSR Vratislav Vajnar (Jg. 1930) und Lubomír Štrougal (1924-2023), Mitglied des Vorstandes des ZK der KSČ und Vorsitzender der Regierung der ČSSR. Den ehemaligen Verantwortungsträgern wurde der Missbrauch von Amtsbefugnissen im besonders schweren Fall vorgeworfen. Das Strafverfahren wurde am 9. September 2020 eingestellt, weil Vajnar und Štrougal angeblich an psychischen Störungen litten, die es ihnen nicht ermöglichten, den Sinn des Verfahrens zu verstehen und Milouš Jakeš nach Eröffnung der Strafverfolgung am 9. Juli 2020 verstorben war. Am 16. August 2022 wurde der auf Grundlage einer ärztlich bescheinigten Verhandlungsunfähigkeit erfolgte Einstellungsbeschluss für Vratislav Vajnar auf Betreiben des Prager Anwalts Lubomir Müller wieder aufgehoben. Dem von 1983 bis 1988 amtierenden tschechoslowakischen Innenminister wird die Mitschuld am gewaltsamen Tod von Johann Dick und Hartmut Tautz sowie des tschechischen Flüchtlings Frantisek Faktor zur Last gelegt. Außerdem soll sich Vajanar für die Verletzung von drei DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen verantworten. Die Anklageerhebung erfolgte am 25. April 2023.