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Biografisches Handbuch

Nadine Klinkerfuß

geboren am 22. Januar 1951 in Ticheville (Frankreich) | Suizid am 17. März 1979 | in Magdeburg
BildunterschriftNadine Klinkerfuß
BildquelleBStU
Quelle: BStU
Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern versuchte Nadine Klinkerfuß im August 1978 über die tschechoslowakische Grenze nach Österreich zu flüchten. Das Vorhaben scheiterte im Grenzgebiet. Hans-Joachim Klinkerfuß erhielt in der DDR eine Haftstrafe, seine schwangere Frau Nadine blieb zunächst auf freiem Fuß. Als der Staatssicherheitsdienst ihr ebenfalls eine Haftstrafe und die Wegnahme der Kinder androhte, nahm sie sich das Leben.

Der Vater von Nadine Klinkerfuß, Helmut Müllerke, geboren 1920 in Magdeburg, hatte in der Nachkriegszeit Nadines französische Mutter Yolande kennengelernt und geheiratet. Nadine Klinkerfuß kam 1957 in Ticheville (Normandie) in die Grundschule und besuchte nach einem Umzug der Familie nach Le Sap (Normandie) dort bis zur 5. Klasse eine katholische Schule. Das Ehepaar Müllerke zog 1962 aus Frankreich mit acht Kindern in Helmut Müllerkes Heimatstadt Magdeburg. Dort besuchte Nadine Müllerke bis zur 8. Klasse die Maxim-Gorki-Oberschule.

Den in Frankreich geborenen Kindern der Familie Müllerke fiel es nicht leicht, sich in der DDR einzuleben. Zwischen 1963 und 1965 flüchteten drei von ihnen wieder aus der DDR. Nadine Müllerke tat sich in der Schule und mit der deutschen Sprache schwer. Nach dem Schulabschluss arbeitete sie eine Zeitlang in einer Magdeburger Zuckerraffinerie, anschließend als Reinigungskraft bei der Post, danach als Stationsgehilfin in der Landesfrauenklinik Magdeburg und zuletzt als Druckhelferin in einem Papierverarbeitungswerk. Nadine Müllerke heiratete 1969 den Installateur Achim Klinkerfuß. Im August des gleichen Jahres kam die erste Tochter des jungen Ehepaares, Jaqueline, zur Welt. Im Juli 1971 wurde deren Schwester Karin und im Februar 1977 der Sohn Helmut geboren.

Der Vater von Nadine Klinkerfuß durfte 1973 als Frührentner nach Frankreich reisen. Er kehrte nicht wieder in die DDR zurück. Kurze Zeit später verschlimmerte sich seine Herzerkrankung und auch seine Frau Yolande durfte ausreisen, um ihn in Frankreich zu pflegen. Auch sie kehrte nicht wieder in die DDR zurück. Nadine Klinkerfuß und ihr Mann standen fortan unter der Beobachtung des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Als eine Schwester von Nadine Klinkerfuß unter Berufung auf ihren französischen Pass einen Ausreiseantrag aus der DDR stellte, verfügte das Ministerium des Innern am 22. Januar 1974, dass „die Mitglieder der Familie Müllerke, die auf dem Territorium der DDR leben, Staatsbürger der DDR sind“.

Nadine Klinkerfuß stellte 1975 einen Antrag auf eine zeitweilige Ausreise, um ihren kranken Vater in Frankreich besuchen zu können. Zu diesem Zeitpunkt stand für sie und ihren Mann eine dauerhafte Ausreise aus der DDR noch nicht zur Debatte. Zwischenzeitlich wandte sie sich an die französische Botschaft und bat um die Reaktivierung ihres französischen Passes und Unterstützung ihres Besuchswunsches zu den Eltern. Im Frühjahr 1978 erkrankte Helmut Müllerke erneut schwer, woraufhin sie unter Beifügung eines ihrem Vater ausgestellten ärztlichen Attestes einen weiteren Antrag zur besuchsweisen Ausreise stellte. Doch auch dieser wurde abgelehnt. Daraufhin entschlossen sich Achim und Nadine Klinkerfuß im Frühjahr 1978 zur Flucht über die tschechoslowakische Grenze nach Österreich. Sie nahmen an, dass diese nicht so stark wie die innerdeutsche Grenze überwacht würde. Am 7. August 1978 tauschten sie Geld um, packten die nötigsten Sachen, vor allem persönliche Unterlagen und wichtige Dokumente ein und machten sich mit ihren drei Kindern auf den Weg in Richtung Oberwiesenthal. An dieser Grenzübergangsstelle konnte die Familie pass- und visafrei mit dem Auto in die Tschechoslowakei reisen. Kurz darauf fiel ihr Fahrzeug aus, so dass sie ihren Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln über Karlovy Vary, Plzeň, České Budějovice nach Nové Hrady fortsetzten. In den Zwischenstationen kamen sie in Privatunterkünften oder Hotels unter. Unterwegs kauften sie eine Landkarte und einen Kompass, um sich im Grenzgebiet orientieren zu können. Da die Kinder müde waren und es dunkel wurde, verbrachten sie die Nacht vom 10. zum 11. August 1978 in einem Waldgebiet in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze zu Österreich. Schon in den frühen Morgenstunden, bevor sie ihren Weg fortsetzen konnten, entdeckten ČSSR-Grenzer die Familie bei Nové Hrady. Nach zehntägiger Untersuchungshaft überstellten die Sicherheitsorgane der ČSSR Achim Klinkerfuß dem DDR-Staatssicherheitsdienst, der ihn in die Untersuchungshaftanstalt nach Magdeburg-Neustadt einlieferte. Das Kreisgericht Magdeburg verurteilte ihn am 7. November zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Da Nadine Klinkerfuß zum Zeitpunkt ihrer Festnahme im sechsten Monat schwanger war, leitete die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen sie zunächst ohne Haft ein. Ihr viertes Kind kam im November 1978 zur Welt. Sie gab ihm ihren Namen Nadine. Achim Klinkerfuß konnte seine Tochter nicht in die Arme schließen, er befand sich zum Strafvollzug im Zuchthaus Cottbus, dem sogenannten „Roten Elend“.

Nadine Klinkerfuß musste nun mit ihren vier Kindern alleine zurechtkommen. Sie verkaufte das von ihrem Mann überwiegend in Eigenarbeit gebaute Haus und zog mit den Kindern in eine Magdeburger Wohnung. Das MfS lud sie mehrfach zu Vernehmungen vor und durchsuchte ihre Wohnung. Ihrem inhaftierten Mann schrieb sie lange ermutigende Briefe in die Haft und besuchte ihn so oft es gestattet war. Zweimal schrieb sie auch an den Staatsratsvorsitzenden und SED-Chef Erich Honecker und verlangte darin die Übersiedlung ihrer Familie nach Frankreich. Am 17. Januar 1979 ging per Einschreiben im SED-Zentralkomitee ein drittes Schreiben von Nadine Klinkerfuß an Erich Honecker ein. Diesen Brief an den SED-Chef muss sie in äußerster Erregung geschrieben haben. Sie beschwerte sich darin über die Zustände in der Haftanstalt Cottbus, beklagte, dass Ihr Mann und andere politische Gefangene „für den Scheißstaat“ arbeiten müssten und nur „Kohlsuppe und Sülze“ erhielten. Sogar die Kleinigkeiten, die sie ihrem Mann bei den Besuchsterminen zum Essen mitbrachte, durfte er nicht entgegennehmen. Weiter hieß es in dem Brief, „lasst uns da leben, wo wir hingehören, festhalten könnt Ihr uns nicht.“ Schließlich drohte Nadine Klinkerfuß damit, das westliche Ausland um Hilfe zu bitten. Auf dem Kopf dieses Briefes befindet sich der handschriftliche Vermerk: „am 31.1.79 an MfS“. Zwei Wochen später erhielt Nadine Klinkerfuß Besuch von einem MfS-Mann, der sie aufforderte, keine weiteren Briefe an Erich Honecker zu schreiben und jegliche Verbindung in das westliche Ausland abzubrechen. Sollte sie dem nicht Folge leisten, werde sich das strafverschärfend in dem in Kürze gegen sie stattfindenden Gerichtsverfahren auswirken. Sie müsse außerdem mit einer Einweisung ihrer Kinder in ein staatliches Heim rechnen.

Am 17. März 1979, eine Woche vor dem bereits terminierten Beginn ihres Strafprozesses, schrieb Nadine Klinkerfuß zwei verzweifelte Briefe. Einen adressierte sie an ihre Eltern in Frankreich, den anderen an ihren Mann im Gefängnis Cottbus. Beide Briefe beklagen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und enthalten Abschiedsworte. In den späten Abendstunden, als ihr ebenfalls in Magdeburg lebender Bruder noch einmal bei ihr vorbeischaute und die Wohnungstür aufschloss, roch es nach Gas. Er fand seine Schwester auf dem Küchenboden. Aus dem Herd strömte Gas. Die vier Kinder schliefen unversehrt im Nebenzimmer. Nach der Einlieferung von Nadine Klinkerfuß in die Medizinische Akademie Magdeburg konnte dort nur noch ihr Erstickungstod diagnostiziert werden.

Entgegen ihrem und ihres Mannes Wunsch ließen die DDR-Behörden eine Bestattung von Frau Klinkerfuß in ihrer Heimat Frankreich nicht zu. Man trug sie am 28. März 1979 in Magdeburg auf dem Westfriedhof zu Grabe. Ihr Ehemann durfte nur 15 Minuten an der Bestattung unter der Bewachung von drei Stasibegleitern teilnehmen. Im Zuge einer Amnestie wurde er frühzeitig aus der Haft entlassen. Die beiden älteren Kinder lebten bis dahin bei den Geschwistern von Nadine Klinkerfuß in Magdeburg, die beiden jüngeren in einem Heim. Sie durften ihre Tanten und Onkel nur an den Wochenenden besuchen. Eine Kampagne der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte machte in der Bundesrepublik den Fall bekannt. Mehrere Zeitungen berichteten über die Weigerung der DDR-Behörden, Achim Klinkerfuß und seine Kinder nach Frankreich ausreisen zu lassen. Nachdem sich die französische Botschaft und der französische Außenminister Jean François-Poncet bei seinem DDR-Besuch im Juli 1979 auf Spitzenebene für die Familie eingesetzt hatten, durfte Hans-Joachim Klinkerfuß mit seinen vier Kinder im Sommer 1980 dann doch nach Frankreich übersiedeln.


Biografie von Nadine Klinkerfuß, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/269-nadine-klinkerfuss/, Letzter Zugriff: 18.04.2024