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Biografisches Handbuch

Emanuel Holzhauer

geboren am 12. Januar 1977 in Berlin-Buch | erstickt am 2. Juli 1977 | Ort des Vorfalls: Autobahn vor dem DDR-Grenzübergang Marienborn (Sachsen-Anhalt)
Als die junge Familie bei Bernburg in den Kofferraum des Fluchtautos stieg, ahnte sie nicht, dass das Versteck, in dem sie unbemerkt die Grenzübergangsstelle passieren sollten, zu einer tödlichen Falle werden würde. Der nur sechs Monate alte Emanuel Holzhauer erstickte, von Medikamenten und Hitze geschwächt.

Am 2. Juli 1977 wartete eine junge Familie vor dem Händeldenkmal in Halle auf einen Fluchthelfer, der sie über den Grenzübergang Marienborn in die Bundesrepublik bringen sollte. Ein westdeutscher Verwandter hatte einer Fluchthilfeorganisation 25 000 DM für diesen Transfer bezahlt. Zwei Tage vor dem Termin hatte ein Mittelsmann dem zur Flucht entschlossenen Frank R., einem 23-jährigen Zootechniker und Kfz-Schlosser, den Treffpunkt mitgeteilt, an dem das Fluchtfahrzeug ihn und seine Verlobte mit dem Säugling erwarten würde. Der Mittelsmann übergab dem Paar außerdem Medikamente, durch die das sechs Monate alte Baby Emanuel Frank Holzhauer während der Flucht ruhiggestellt werden sollte. Es handelte sich um ein codeinhaltiges Betäubungsmittel und ein Valium-Präparat.

Am 2. Juli 1977 gegen 14 Uhr traf der Fluchthelfer am Treffpunkt ein. Der verrostete rote Opel Rekord, in dessen Kofferraum sie den Grenzübergang passieren sollten, war auf den ersten Blick als schrottreif zu erkennen, was dem gelernten Autoschlosser Frank R. nicht entgangen sein konnte. Zögerten die jungen Leute vielleicht einen Moment? Dachten sie an das viele Geld, das bereits geflossen war, an die Mühen der konspirativen Vorbereitung der Flucht oder täuschte sie die greifbare Erfüllung ihres Wunsches, die DDR zu verlassen, über die Gefahren hinweg? Nachdem der kleine Emanuel die Schlafmittel erhalten hatte, ging die Fahrt bis Bernburg. Dort stieg die Familie dann in den Kofferraum um. Als das Kind zu schreien anfing, flößten ihm die Eltern noch einmal Schlafmittel ein. Der Fluchthelfer hatte ihnen versichert, das Medikament sei völlig unbedenklich. Am Autobahnrasthof Magdeburger Börde fand ein Fahrerwechsel statt. Gegen 16.20 Uhr übernahm Ingolf Sch. das Fahrzeug. Der 23-jährige Mann aus West-Berlin finanzierte mit der Fluchthilfe seine Heroinabhängigkeit. Auch an diesem Tag stand er unter Drogeneinfluss. Der Chef der Fluchthilfeorganisation, Jürgen S., hatte ihm am Abend zuvor 60 DM gegeben, damit er sich noch mit Heroin versorgen konnte. Ingolf Sch. steuerte das Auto in Richtung Marienborn, doch schon nach kurzer Zeit versagte der Motor. Kühlwasser verdampfte. Der Dunst drang in den Kofferraum ein, wo sich die Hitze staute und kaum noch Luft zum Atmen blieb. Ingolf Sch. versuchte, ein anderes Fahrzeug im Transitverkehr anzuhalten, doch sein ungepflegtes Aussehen und die schulterlangen Haare wirkten wenig vertrauenerweckend. Schließlich erklärte sich ein Student bereit, den Opel bis zum Grenzübergang Marienborn abzuschleppen. Dort trafen sie gegen 17.30 Uhr ein.

Nach dem Transitabkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik sollten Fahrzeugkontrollen nur noch in begründeten Fällen stattfinden. Da das Fahrzeug über der Hinterachse sehr tief hing und Ingolf Sch. sichtlich nervös wirkte, musste er es in eine Kontrollbaracke steuern. Zunächst weigerte er sich, den Kofferraum zu öffnen. Wertvolle Minuten verstrichen. Als die DDR-Grenzer schließlich das Schloss aufbrachen, kam bereits jede Hilfe zu spät. Der erst sechs Monate alte Emanuel Holzhauer war, von den Schlafmitteln und dem Hitzestau geschwächt, im Kofferraum erstickt. Die Eltern hatte der Sauerstoffmangel so benommen gemacht, dass sie die Gefahr nicht erkannten und glaubten, ihr Kind schliefe.

Knapp einen Monat später verurteilte das Stadtgericht in Ost-Berlin die Eltern wegen „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“, „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts“ und „fahrlässiger Tötung“ bzw. der „Verletzung von Sorgepflichten“ zu fünfjährigen Freiheitsstrafen. Die DDR entließ sie 1980 nach Freikauf in die Bundesrepublik. Über die Verurteilung des Fluchthelfers Ingolf Sch. berichtete das Neue Deutschland am 11. August 1977, er habe sich des „staatsfeindlichen Menschenhandels“, der „fahrlässigen Tötung“ und der „Verkehrsgefährdung“ schuldig gemacht. Ihn verurteilte das Stadtgericht zu einer achtjährigen Gefängnisstrafe.

Der Tod des Säuglings war Gegenstand einer weiterreichenden Auseinandersetzung über kommerzielle Fluchthilfe. Als der Bundesgerichtshof in Karlsruhe am 29. September 1977 Fluchthelferverträge für nicht sittenwidrig und dementsprechend für rechtskräftig erklärte, konterte das Oberste Gericht der DDR im November. Auf das „gewissenlose Vorgehen“ von Banden, die auch den „Tod von Kindern verschuldeten“, verweisend, erklärte es den „kriminellen Menschenhandel“ auf den Transitwegen als völkerrechtswidrigen Eingriff in die territoriale Integrität. Die nun deutlich zunehmenden „Verdachtskontrollen“ an den Grenzübergangsstellen behinderten und erschwerten den Berlin-Verkehr. Im Februar 1978 setzte die Bundesregierung eine interministerielle Arbeitsgruppe ein, die Maßnahmen gegen kommerzielle Fluchthelferorganisationen prüfen sollte. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, in der DDR inhaftierten Fluchthelfern Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz zu verweigern, wenn diese aus Eigeninteresse gehandelt hatten. Eindringlich warnte der Minister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, vor dem Vorgehen gewerblicher Fluchthelfer. Auf den Fall Holzhauer verweisend, erklärte er, es sei schon „schlimm genug, daß die DDR die Freizügigkeit beschränkt“, doch noch schlimmer sei es, „daß auch noch Leute Geschäfte damit machten“.

Im Januar 1979 verhandelte das Kriminalgericht Moabit den Tod Emanuels. Angeklagt wegen fahrlässiger Tötung war der Chef der Fluchthelferorganisation Jürgen S., weil er die junge Familie einem heroinabhängigen Fahrer anvertraut hatte sowie in einem nicht belüfteten Kofferraum unterbringen ließ, sodass der Säugling wegen Hitze und Luftmangels gestorben war. Doch das Verfahren endete mit einem Freispruch. Das Gericht hielt die von der DDR-Justiz übermittelten Beweise, insbesondere zum Todeszeitpunkt, nicht für ausreichend.

Im April 1984 nahm der DDR-Staatssicherheitsdienst den Bürgermeister der hessischen Kleinstadt Arolsen, Ernst-Hubert von Michaelis, am Grenzübergang Marienborn fest. Er hatte 1977 den Kontakt zu der Fluchthelferorganisation hergestellt, die das junge Paar mit dem Kleinkind aus der DDR herausholen sollte. Im Februar 1985 verurteilte ihn die DDR-Justiz wegen „staatsfeindlichen Menschenhandels“ zu sechs Jahren Freiheitsentzug. Nach acht Monaten in Bautzen II kam er im Zuge eines Agentenaustausches wieder frei.


Biografie von Emanuel Holzhauer, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/208-emanuel-holzhauer/, Letzter Zugriff: 21.11.2024