Am Abend des 5. August 1976 traf mit dem Vermerk „Nur zur Information, interne Dienstmeldung“ eine alarmierende Nachricht des ADN-Korrespondenten aus Rom in Ost-Berlin ein. Die Zeitung der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) L‘Unità habe folgende Meldung in Umlauf gebracht: „Ein italienischer LKW-Fahrer wurde heute morgen von den Grenzsoldaten der Deutschen Demokratischen Republik erschossen, die an einem Grenzkontrollpunkt zwischen den beiden Deutschlands das Feuer auf ihn richteten. Es handelt sich um Benito Corghi, 38 Jahre alt, aus Rubiera (Reggio Emilia), bei einer Firma beschäftigt, die auf den Fleischtransport zwischen den sozialistischen Ländern und Italien spezialisiert ist.“ Der italienische Geschäftsträger in Ost-Berlin habe die Nachricht von dem Zwischenfall um 18 Uhr erhalten und „den energischen Protest der italienischen Regierung zum Ausdruck“ gebracht. „Benito Corghi, der Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei war und einer Familie von Kommunisten und Antifaschisten angehörte, hinterläßt seine Ehefrau, Silvana Bartarelli, und zwei Kinder: Loretta[,] 18 Jahre alt, und Alessandro, 15. Der so hart betroffenen Familie Corghi sprechen die Kommunisten der Region Regio ihr brüderliches und tief empfundenes Beileid aus, dem sich die Redaktion anschließt.“
Die kommunistische Provinzzeitung Il Popolo verbreitete ebenfalls am Abend des 5. August 1976 ein Kommuniqué der PCI-Provinzleitung von Reggio Emilia zu dem Grenzzwischenfall. Darin heißt es: „Eines unserer aktiven Mitglieder, der 38jährige in Rubiera ansässige Benito Corghi, wurde in der vergangenen Nacht auf tragische Weise getötet, unter Umständen, die von den Grenzsoldaten der DDR noch völlig geklärt werden müssen. Genosse Corghi übte in diesem Augenblick seine Tätigkeit als Fahrer der Gesellschaft ‚Ara‘ [Autisti Riuniti Autotrasporti] aus, die den Fleischtransport der DDR nach Italien abwickelt.“ Wahrscheinlich habe eine „Aufeinanderfolge von Fehlern bei der Durchführung der Paßformalitäten an der Grenze zu diesem sinnlosen Tod geführt.
Dennoch bleibt die äußerst schwerwiegende Tatsache, daß ein aufrichtiger italienischer Arbeiter das unschuldige Opfer von Gegebenheiten wurde, die auf gefährlichen Grenzen und politischen Spaltungen in Europa beruhen, die immer unverständlicher und unannehmbarer werden.“ Die PCI-Provinzleitung forderte von der DDR und den italienischen Behörden, dass die Umstände des Todes von Benito Corghi „bis ins letzte Detail geklärt werden, damit dem Vermächtnis unseres Genossen und seiner so schwer betroffenen Familie Gerechtigkeit widerfahren kann.“ Außerdem verlangte sie die sofortige Überführung des Leichnams ohne bürokratische Hindernisse. Die PCI-Provinzleitung beauftragte die kommunistischen Abgeordneten von Reggio und „Senator Genosse Alessandro Carri, in Übereinstimmung mit den nationalen Leitungsorganen der Partei, bei der Botschaft der DDR in Italien unsere ganze Bestürzung und unseren energischen Protest zum Ausdruck zu bringen.“ Am Ende versicherte die Provinzleitung der PCI, die Familie Corghi könne ihrer vollen Solidarität gewiss sein und verpflichtete sich, „sie in dieser schweren Stunde nicht allein zu lassen“.
Die kommunistischen Abgeordneten im italienischen Parlament Franco Calamandrei, Alessandro Carri und Renzo Bonazzo richteten eine Anfrage an das Außenministerium, in der es heißt, „daß von der ersten Meldung an der Waffengebrauch unerklärlich ist“. Sie wollten wissen, welche Schritte die Regierung unternommen hat, „wie sie den Protest und die Bestürzung Italiens zum Ausdruck bringt“. Der ADN-Korrespondent in Rom berichtete des Weiteren äußerst besorgt nach Ost-Berlin, „L’Unità habe in gleicher Großaufmachung neben dem Fall Corghi auch „gegen die Ermordung eines italienischen Arbeiters in Chile protestiert“.
Was war geschehen? In der ersten ausführlichen MfS-Information über „eine unter Anwendung der Schußwaffe am 05.08.1976 erfolgte Festnahme eines Grenzverletzers an der Staatsgrenze zur BRD“ heißt es, Corghi sei „ca. 650 Meter von der Staatsgrenze zur BRD entfernt – nach Anwendung der Schußwaffe durch einen Sicherungsposten der Grenztruppen der DDR […] verletzt festgenommen worden“. Er habe eine Schusswunde am rechten Schulterblatt und in der linken Schulter in Halsnähe gehabt. Es könne sich „nach dem ersten vorläufigen gerichtsmedizinischen Gutachten“ um einen Durchschuss handeln. Erste Untersuchungen hätten ergeben, dass sich die Person um 3.40 Uhr auf der Autobahn zu Fuß dem 700 Meter von der Staatsgrenze eingesetzten Sicherungsposten genähert habe. Durch den Sicherungsposten wurde, „da die GÜSt nur für den Fahrzeugverkehr zugelassen ist, der für diesen Bereich verantwortliche diensthabende Offizier des Kommandanten verständigt, der seinerseits Maßnahmen zur Festnahme der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Person einleitete. Dabei wurde zunächst die Ampelanlage, die auf der vor der Grenzübergangsstelle Hirschberg befindlichen Autobahnbrücke installiert ist, auf Rot geschaltet, um bei der Durchführung der Festnahme jeglichen Fahrzeugverkehr zu unterbinden.“ Als „der Grenzverletzer […] mehrfach zum Stehenbleiben und zum Erheben der Hände aufgefordert“ wurde, habe er „jedoch nur eine Hand“ erhoben. „In der anderen Hand hielt er einen zunächst nicht identifizierten Gegenstand, bei dem es sich nach späterer Feststellung um eine Tasche mit Reisepaß, KfZ-Papieren, DDR-Interkontrollwarenbegleitschein und anderen Begleitpapieren, Abforderungsscheinen für Fleischtransporte des VEB Deutrans, ‚Währungsfaktura‘, Internationaler Versicherungskarte usw. gehandelt hat.“ Die Sicht der Posten sei durch Nebel behindert gewesen. Als die Person zu flüchten versuchte, habe der Sicherungsposten „zwei Warnschüsse und danach drei gezielte Schüsse“ abgegeben.
„Die Festnahme und Bergung des Verletzten und noch im Handlungsraum (Gebäude der Sicherungskompanie) verstorbenen italienischen Staatsbürgers konnte von anderen Reisenden nicht beobachtet werden. Nach der Bergung wurde die Rotschaltung der Ampelanlage auf der Grenzbrücke aufgehoben.“ Inoffiziell sei inzwischen bekannt geworden, dass Corghi beim Vorzeigen der Papiere an der westlichen Kontrollstelle das veterinärmedizinische Zeugnis für das transportierte Schweinefleisch vermisst habe. Er habe dann erklärt: „Das Zeugnis muß ich drüben liegengelassen haben.“ Dann habe er sich zu Fuß in Richtung DDR-Gebiet begeben. Diese Information wurde an Erich Honecker, Paul Verner, Hans Krolikowski, Erich Mielke, seine Stellvertreter Bruno Beater und Alfred Scholz, den Chef des Stabes und Stellvertretenden Verteidigungsminister Heinz Keßler und diverse MfS-Abteilungen versandt.
In einem undatierten, später gefertigten Bericht (ohne Deckblatt) wurde nach Befragung der eingesetzten Kräfte Folgendes festgehalten: „Das Verbleiben der veterinär-hygienischen Zeugnisse an der Grenzübergangsstelle Hirschberg kam dadurch zustande, daß der Zollkontrolleur dem bewußten LKW die Fahrt nach der BRD freigab, bevor der Mitarbeiter des veterinär-hygienischen Überwachungsdienstes mit dem abgestempelten veterinär-hygienischen Zeugnis am Kontrollpunkt zurück war.“ Als dies festgestellt wurde, habe der „Identitätskontrolleur der Paßkontrolleinheit auf der LKW-Rampe dem stellvertretenden Zugführer der Paßkontrolleinheit, der sich ebenfalls auf der LKW-Rampe befand, vorgeschlagen, das Zeugnis einem anderen Reisenden mitzugeben bzw. eine diesbezügliche Nachricht übermitteln zu lassen. Der stellvertretende Zugführer der Paßkontrolleinheit entschied, in dieser Angelegenheit nichts zu unternehmen, mit der Bemerkung: ‚Wenn der Fahrer das Zeugnis benötigt, wird er es sich schon holen.‘ Die Eintragungen im Rampenbuch des Grenzzollamtes Hirschberg ergaben, daß zum fraglichen Zeitpunkt (02.58–03.40 Uhr) zwei nachfolgende LKW in Richtung BRD abgefertigt wurden“.
Einen Tag nach Corghis Tod reiste der 2. Sekretär der Botschaft Italiens Pedrazzoli aus Ost-Berlin nach Jena, um in der dortigen Gerichtsmedizin den Leichnam Corghis in Augenschein zu nehmen. Dabei kam es zu einem einmaligen Schauspiel. Die verantwortliche Obduzentin der Universität Jena, Prof. Dr. Christiane Kerde, hatte sich laut MfS-Bericht sofort „unter Zurückstellung anderer Verpflichtungen zur Durchführung der Sektion der Leiche des Grenzverletzers“ bereiterklärt. Vor Eintreffen des Vertreters der Italienischen Botschaft habe sie „trotz räumlicher Schwierigkeiten im Institut“ die „würdige Aufbahrung der Leiche“ organisiert und die Verhandlungen mit dem Vertreter der Italienischen Botschaft am 6. August 1976 „entsprechend der von uns gegebenen Orientierung“ geführt. Auf dessen Wunsch habe sie einen katholischen Pfarrer vermittelt, der die Totenmesse las. „Ebenso wurde von ihr je ein Strauß rote Rosen und rote Nelken beschafft. Zur Verabschiedung des Vertreters der Botschaft gab sie im Hotel ‚Schwarzer Bär‘ in Jena ein Essen.“ Es sei vorgesehen „Gen. Prof. Dr. Kerde und deren Kollektiv ein würdiges Präsent zu überreichen“. Am 16. August 1976 schlug der stellvertretende Leiter der Abt. IX, Major Kraußlach, vor, dem „Kollektiv des Instituts für Gerichtliche Medizin der Friedrich-Schiller-Universität Jena für die hervorragende Zusammenarbeit und Unterstützung bei der Untersuchung des Vorkommnisses mit dem italienischen Staatsbürger CORGHI, Benito eine elektrische Schreibmaschine zur Verfügung zu stellen“. Wie schon mehrfach in der Vergangenheit habe sich „die Einsatzbereitschaft und qualitativ gute Arbeit dieses Kollektivs erneut gezeigt und bewährt“. Der Leiter der Abteilung IX schlage aus den genannten Gründen und „in Hinblick auf eine weitere gute Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung diese materielle Anerkennung durch das MfS vor“. Laut handschriftlicher Notiz wurde die Schreibmaschine von der Abteilung Rückwärtige Dienste des MfS zur Verfügung gestellt und am 23. August 1976 an Professor Christiane Kerde übergeben. Der Todesschütze Uwe S. und sein unmittelbarer Vorgesetzter, der die Schüsse befohlen hatte, erhielten Medaillen für vorbildlichen Grenzdienst und Prämien von je 250 Mark.
Die italienische Regierung zeigte sich durch die „würdige Aufbahrung der Leiche“ in Jena und das von der Professorin gegebene Essen nicht beeindruckt. Die italienische Botschaft in Ost-Berlin kritisierte den ihr vom DDR-Außenministerium (MfAA) übergebenen Bericht über den Zwisschenfall an der Grenzübergangsstelle Hirschberg als “völlig unbefriedigend”. In dem Bericht wurde wahrheitswidrig behauptet, Benito Corghi habe “weder Dokumenten noch andere Unterlagen an der Grenzübergangsstelle zurückgelassen”. Über die tödlichen Schüsse hieß es darin, sie seien “auf eine tragische Verkettung von Umständen” zurückzuführen. Die Vorlage für die Erklärung des MfAA hatte der Staatssicherheitsdienst erarbeitet.
Am 11. August 1976 überreichte der italienische Botschafter Norberto Behmann Dell’Elmo dem stellvertretenden DDR-Außenminister Kurt Nier eine Protestnote. Der Botschafter stellte außerdem mündlich mehrere konkrete Fragen zum Ablauf des Geschehens an der Grenzübergangsstelle und erklärte die italienische Regierung und die Familie Corghi erwarte “einen umfassenden detaillierten Bericht”. In dem Protokoll des MfAA der DDR heißt es, das Gespräch sei “von seiten des italienischen Botschafters teilweise impulsiv, heftig und nicht immer in sachlicher Form geführt” worden. Das Protokoll übermittelte Außenminister Oskar Fischer noch am gleichen Tag an Erich Honecker. Der Sarg mit Corghis sterblichen Überresten wurde von Jena in das Instiut für gerchtliche Medizin der Charité überführt. Dort konservierte Prof. Dr. Otto Prokop den Leichnam. Botschafter Behmann legte in Prokops Institut vor dem Sarg einen Kranz nieder. Die Überführung nach Mailand erfolgte auf dem Luftweg über Wien.
Im italienischen Parlament protestierten unterdessen alle Parteien von der kommunistischen KPI bis zur faschistischen FSI gegen die Erschießung Benito Corghis an der DDR-Grenze. Am 7. August 1976 bestellte das Außenministerium in Rom den Geschäftsträger der DDR-Botschaft Lehmann ein und bat um eine schnellstmögliche Übermittlung der Untersuchungsergebnisse über die Todesumstände von Benito Corghi. Außerdem müsse die DDR der Witwe Corghi und ihren beiden Kindern eine angemessene Entschädigung zahlen. Der DDR-Botschafter Klaus Gysi bemühte sich in Gesprächen mit führenden KPI-Funktionären um eine Beruhigung der Lage und bot Verhandlungen über eine Entschädigungszahlung der DDR an. Der Mailänder Rechtsanwalt Piero Carozzi bezifferte die Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen nach dem noch zu erwartenden Einkommen des 38 Jahre alten Todesopfers auf 99 216 000 Lire. Angesichts des internationalen Aufsehens nahm sich am 12. August 1976 SED-Generalsekretär Erich Honecker der Sache an und beauftragte sein Außenministerium, einen Vorschlag zur Höhe der Entschädigungszahlung vorzulegen. Eine Woche später telegrafierte der stellvertretende DDR-Außenminister Herbert Krolikowski an Botschafter Klaus Gysi nach Rom, er könne bei den Verhandlungen bis zu einer Entschädigungshöhe von 50 000 Mark gehen – gemeint waren damit „Valutamark“, also West-DM. Er bitte dringend, gemäß Auftrag zu handeln, da Erich Honecker persönlich auf eine Regelung im „Geiste der Humanität“ dränge. Als Honecker der Entschädigungsvorschlag in Höhe von 50 000 DM vorlag, setzte er die Summe auf 80 000 DM hoch, das entsprach umgerechnet 25 Millionen Lire.
Außerdem erhielt Botschafter Klaus Gysi vom DDR-Außenminister Oskar Fischer den Hinweis, „falls die Familie Corghi den Wunsch hat, daß die Kinder in der DDR ausgebildet werden oder eine Unterstützung für die Ausbildung wünscht, sollte dem entsprochen werden“. Außerdem sei der Familie anzubieten, zu einem ihr genehmen Zeitpunkt Urlaub in der DDR zu machen. Die Familie kam später auf das Angebot zurück, Benito Corghis Sohn Allessandro absolvierte in den 1980er Jahren ein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam Babelsberg.
Bis zum Ende der SED-Diktatur blieb die Entschädigungszahlung an die Familie Corghi der einzige Fall eines zumindest symbolischen Schuldeingeständnisses der politischen Verantwortungsträger des DDR-Grenzregimes. Der Todesschütze, Gefreiter Uwe S. ( Jg. 1956), und seine Vorgesetzten wurden 1994 vom Landgericht Gera hingegen vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung freigesprochen.