Am 28. Juli 1976 verhörte die Volkspolizei in Weferlingen Uwe Siemann wegen eines Fahrraddiebstahls. Der junge Mann erklärte, dass er bereits 20, vielleicht auch 25 Räder gestohlen habe. Die Polizisten waren verwundert, weil so viele Anzeigen gar nicht vorlagen. Uwe Siemann, der gerade 19 Jahre alt geworden war, wich Nachfragen aus. Man weiß, dass er früh selbständig werden musste. Die kinderreichen Eltern konnten sich nicht genug um ihn kümmern, er wurde in einem Erziehungsheim untergebracht, die Hilfsschule schloss er mit der 6. Klasse ab. Dann begann er eine Lehre als Rinderzüchter, doch das gefiel ihm nicht, er wechselte einige Mal die Arbeitsstellen. Zuletzt arbeitete er in der Produktion, in den Kalkwerken Walbeck, und hatte eine eigene Wohnung. Warum will jemand 25 Fahrräder gestohlen haben? Die Polizei entließ ihn erst in der Nacht und eröffnete ein Ermittlungsverfahren.
Am nächsten Tag brachte die Volkspolizei Siemann in die Kreisstadt, nach Haldensleben. Die Verhöre wurden fortgesetzt, man entschied, ihn über Nacht dazubehalten. Am 30. Juli durfte er erst um 15.30 Uhr wieder nach Hause. Er wurde jetzt drei Tage lang vernommen, wegen Fahrrädern, deren Diebstahl niemand angezeigt hatte. Vielleicht traute er sich nicht nach Hause, musste erst mal laufen. Er durchquerte Haldensleben, auf dem Marktplatz liegt ein Gerichtsstein aus dem Mittelalter, daneben reckt der Roland sein Schwert in die Höhe. Von der Kreisstadt aus brauchte der Triebwagen etwa 80 Minuten für die 32 Kilometer lange Strecke nach Weferlingen. Es war schon nach 23 Uhr, Uwe Siemann konnte im Vorüberfahren die Lichter des Kalkwerks sehen. Er ging nur kurz in seine Wohnung, notierte etwas auf einem Zettel. Die Grenze zu Niedersachsen war vom Ortsausgang nur 300 Meter entfernt. Es gab sogar noch eine Straße, die früher Weferlingen und Grasleben verband. Dieser Straße folgte Siemann gegen Mitternacht. Er bewegte sich vorsichtig im Schatten einer Böschung und erreichte unbemerkt den Grenzzaun. Am Grenzzaun waren Selbstschussanlagen (SM-70) angebracht, drei von ihnen detonierten, als Uwe Siemann versuchte an dem Zaun hochzuklettern.
Die herbeieilenden Bergungskräfte des Grenzbataillons aus Seggerde fanden den stark blutenden, auf dem Bauch liegenden Mann um 0.24 Uhr. Er war nicht ansprechbar, stöhnte nur vor Schmerzen. Sein Kopf, der rechte Arm und das rechte Bein waren von Splittern der Selbstschussanlagen getroffen worden. Eine halbe Stunde später wurde er von zwei Grenzern ins Krankenhaus gebracht, doch der diensthabende Arzt in Gardelegen konnte nur noch feststellen, dass Uwe Siemann verblutet war. „Schädel-Hirn-Trauma“ schrieb er in den Totenschein. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes legten ihm, der Assistenzärztin und einem Krankenpfleger absolute Schweigepflicht auf.
Uwe Siemanns Wohnung wurde durchsucht. Auf dem Tisch lag der Zettel, an die Eltern adressiert. Er hatte ihnen mitteilen wollen, dass er entweder im Westen oder im Gefängnis sei und wie mit seinem Hab und Gut umzugehen wäre. Die letzten Grüße erreichten die Eltern nie, der Staatssicherheitsdienst zog den Brief ein. Der Leiter der Untersuchungsabteilung ordnete an, „vorbehaltlich anderer Weisungen soll am 02.08.1976 die Benachrichtigung der Eltern unter Einschaltung eines Staatsanwaltes beim Staatsanwalt des Bezirkes und des Kreisstaatsanwalts erfolgen. Dabei ist vorgesehen, eine Feuerbestattung durchzusetzen. Die Benachrichtigung soll des weiteren so erfolgen, daß den Eltern die Grenzsicherungsanlage und deren Auslösung nicht bekannt werden.“ Der Kreisstaatsanwalt sollte den Eltern erklären, dass ihr Sohn bei dem Versuch, einen schweren Angriff auf die Staatsgrenze zu verüben, die Weisungen der Grenzsicherheitsorgane missachtet habe. Deshalb hätten Maßnahmen getroffen werden müssen, bei denen er sich so schwer verletzt habe, dass auch sofortige Hilfe keine Rettung bringen konnte. Am 6. August erhielt die Mutter die Geldbörse von Uwe Siemann und drei Sterbeurkunden.
Günter T., der ehemalige Stabschef der 23. Grenzregimentes, wurde am 8. September 2000 vor dem Landgericht Magdeburg zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Er hatte mit einer topographischen Entschlusskarte die Umsetzung der Befehle des Chefs der Grenztruppen zur Verminung der Grenzzäune veranlasst. Als Offizier für den pioniertechnischen Ausbau leitete Franz K. die Installation der SM-70-Anlagen im Bereich des 23. Grenzregiments. Gegen ihn wurde kein Hauptverfahren eröffnet, da er aufgrund einer Herzkrankheit verhandlungsunfähig war.