Am 21. April 1973 gegen 1.15 Uhr scheiterte die Flucht der Straßenbauarbeiter Dieter F. ( Jg. 1950), Günter W. ( Jg. 1952) und Fred Woitke an der letzten Sperranlage in der Grenzübergangsstelle Marienborn. Der Lkw der drei DDR-Flüchtlinge vom Typ “W 50“ hatte bereits zwei Schlagbäume durchbrochen und fuhr dann mit etwa 80 km/h gegen die nach Alarmauslösung heruntergefahrene Rollsperre. Das Fahrzeug überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen. Fünf DDR-Grenzer hatten zuvor das Feuer auf das herankommende Fahrzeug eröffnet. Günter W. wurde nach dem Aufprall durch die Frontscheibe geschleudert und lag mit mehreren Knochenbrüchen auf der Straße. Dieter F. und Fred Woitke krochen aus dem umgestürzten Lkw und versuchten in Richtung Westen zu flüchten. Der Gefreite Michael G. gab einem MfS-Bericht zufolge vier bis fünf Schüsse auf Dieter F. ab, worauf dieser verletzt liegen blieb. Die anderen vier Grenzer schossen auf Fred Woitke, bis er sich nicht mehr rührte.
Die Überprüfung der Waffen durch das MfS ergab die Abgabe von insgesamt 100 Schüssen. Von dem Gefreiten Dieter G. 22 Schuss, dem Gefreiten Michael G. 17 Schuss, dem Gefreiten Siegfried S. 15 Schuss, von Unteroffizier P. 30 Schuss und vom Soldaten Klaus-Dieter S. 16 Schuss. In der Medizinischen Akademie Magdeburg stellten die Obduzenten Prof. Dr. Friedrich Wolff und Dr. Margot Laufer neun Schusstreffer an der Leiche Woitkes fest. Sein Tod trat durch einen Brustdurchschuss ein, der die große Körperschlagader zerfetzte. Die beiden Verletzten Dieter F. und Günter W. kamen in das Krankenhaus Altstadt Magdeburg. Dort bewachten MfS-Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Magdeburg rund um die Uhr ihre Krankenzimmer.
Fred Woitke war gelernter Zimmermann, Mitglied im FDGB und in der FDJ sowie in der Freiwilligen Feuerwehr. Während seines Wehrdienstes bei der NVA besuchte er eine Unteroffiziersschule. Er wohnte in Eisenhüttenstadt, war verheiratet und hatte zwei kleine Töchter. In seiner Freizeit spielte er Handball und machte Musik. Mit einem Freund wollte er eine Band gründen. Nach Aussagen von Dieter F. weihte ihn Fred Woitke bereits Ende 1972 in seine Fluchtpläne ein. Am 19. April 1973 kamen die drei bei der Straßenmeisterei Eisenhüttenstadt beschäftigten Arbeiter zu dem Entschluss, mit einem Lastwagen ihrer Arbeitsstelle die Flucht zu wagen. Sie montierten ein Schneeschild, zusätzliche Scheinwerfer und gelbe Rundumleuchten an den Lkw. Das Führerhaus verkleideten sie von innen mit Decken und einem Teppich als Kugelfang.
Woitkes Angehörige erhielten nach dem gescheiterten Fluchtversuch zunächst die Auskunft, er sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der ihnen ausgehändigte Totenschein trug die Unterschrift des Betriebsarztes Dr. med. Beversdorff, Facharzt für Arbeitshygiene im Betriebsambulatorium Harbke. Als Todesursache gab er an: „Fraktur des Schädels und sonstiger Knochen“. Woitkes Frau durfte nach Auflagen des MfS keine anderen Angaben über den Tod ihres Mannes machen. Durch westliche Radio- und Fernsehnachrichten verbreitete sich jedoch in Windeseile, was tatsächlich geschehen war. Zur Bestattung Fred Woitkes erhielt seine in der Bundesrepublik lebende Großmutter eine Einreisegenehmigung. Nur der engere Familien- und Freundeskreis nahmen daran teil. Das MfS ließ sich vorab das Manuskript des Grabredners vorlegen. MfS-Offiziere beobachteten demonstrativ die Beisetzung und achteten auf die Einhaltung der Auflagen. Frau Woitke und ihre Kinder erhielten von der DDR-Versicherung eine Unfallrente zugesprochen.
Dieter F. sagte in seiner Vernehmung laut MfS-Protokoll am 23. Oktober 1973: „Ich stehe der Politik der DDR zur Sicherung der Staatsgrenze feindlich gegenüber. Diese gesicherte Staatsgrenze paßt mir nicht. Ich will ein Privatunternehmer mit einer eigenen Werkstatt werden. In der DDR kann ich das nicht. In der DDR ist nach meiner Ansicht alles Volkseigentum. Da kann ich nicht Unternehmer werden. Deshalb wollte und habe ich Widerstand gegen die Ordnung an der Staatsgrenze der DDR bei der Grenzübergangsstelle Marienborn geleistet.“ Er und seine beiden Freunde hätten die Absicht gehabt, im Falle des Gelingens der Flucht im West-Fernsehen aufzutreten und ihre Meinung „über die bessere und größere Freiheit in der BRD zu sagen, wo jeder hinreisen kann, wohin er will“. Günter W. und Dieter F. waren seit ihrer Kindheit befreundet. Günter W. sagte in seinen Vernehmungen laut MfS-Aufzeichnungen, er finde es richtig, dass westliche Fernsehsendungen gegen die Grenzsicherung der DDR Stellung nehmen. Er habe gerne Westfernsehen gesehen.
„Ich bin auch jetzt noch der Meinung, die Sicherung der Staatsgrenze der DDR ist gegen die DDR-Bürger gerichtet. Diese sollen nur mit Gewalt daran gehindert werden, so ist meine Meinung, in die BRD zu gehen. Ich bin der Meinung, in der BRD kann sich ein Arbeiter mehr kaufen, als in der DDR und daß in der DDR nur die Funktionäre gut leben. Ich und die meisten anderen Arbeiter werden meiner Ansicht nach in der DDR unterdrückt. ‚Die Funktionäre herrschen über die Arbeiter.‘ In der BRD, so denke ich, hätte ich mehr, persönliche Freiheit‘.“ Auf die Frage des Vernehmers, Unterleutnant Lemke, was er darunter verstehe, antwortete er: „Ich verstehe unter, persönlicher Freiheit‘, daß ich sagen kann, was ich will[,] und reisen kann, wohin ich will. In der DDR darf ich nach meiner Meinung nur das sagen, was die Funktionäre hören wollen. Die BRD-Bürger können alle in die DDR kommen. Die DDR-Bürger dürfen aber nicht in die BRD fahren, wie ich zum Beispiel. So ist meiner Meinung nach bewiesen, daß die Staatsgrenze der DDR gegen, persönliche Freiheit‘ der DDR-Bürger gerichtet ist und die BRD-Bürger ,freier‘ sind. Deshalb will ich nicht in der DDR leben.“
Der Staatsanwalt des Bezirks Magdeburg beantragte noch am Tag des gescheiterten Fluchtversuchs vom 21. April 1973 Haftbefehl gegen F. und W. mit der Begründung: „Die Beschuldigten sind des Unternehmens, Widerstand gegen die Ordnung an der Staatsgrenze der DDR zur BRD geleistet zu haben in Tateinheit mit versuchtem ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall, in weiterer Tateinheit mit Zerstörung von Grenzsicherungsanlagen und unerlaubtem Eindringen in das Grenzgebiet dringend verdächtig.“ Das Kreisgericht Magdeburg Süd entsprach dem Antrag und verhängte Haftbefehl. Im Haftbefehl heißt es nach der Beschreibung des Durchbruchs: „An der letzten Grenzsicherungsanlage konnten sie durch die Stärke der Sicherungsanlage und das Sperrfeuer der Grenzsicherungskräfte an der Vollendung des gewaltsamen Grenzdurchbruchs gehindert werden.“ Am 6. Dezember 1973 beantragte Staatsanwalt Strunk mit seiner Anklageschrift für den I. Strafsenat des Bezirksgerichtes Frankfurt/ Oder die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Straßenbauer Dieter F. und Günter W. Das Bezirksgericht entschied: „Aus Gründen der staatlichen Sicherheit wird die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung ausgeschlossen.“ Oberrichter Schmidt und die Schöffinnen Handke und Weiß verurteilten Dieter F. am 2. Januar 1974 „wegen gemeinschaftlichen Terrors in Tateinheit mit versuchtem ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall“ zu zwölf Jahren Haft und Günter W. wegen des gleichen Tatvorwurfs zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Zwei der fünf Grenzsoldaten, die auf das Fluchtfahrzeug schossen, erhielten die „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst“, die drei anderen Geldprämien in Höhe von jeweils 150 Mark.
Durch Gnadenerlass des Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph vom 11. November 1975 wurde das Strafmaß für Dieter F. und Günter W. auf je sechs Jahre herabgesetzt. Am 19. November 1975 erfolgte eine Strafaussetzung auf Bewährung, da erwartet werden könne, dass F. und W. künftig „nicht wieder mit den Gesetzen der DDR in Konflikt“ geraten würden. Das war auch gar nicht mehr möglich, da beide Männer nach ihrer Haftentlassung die DDR verließen. Im Sommer 1976 leitete die Erfassungsstelle Salzgitter aufgrund ihrer Aussagen ein Ermittlungsverfahren gegen die namentlich nicht bekannten DDR-Grenzer ein, die Fred Woitke erschossen hatten. Dieter F. äußerte sich 1993 erneut gegenüber Ermittlungsbeamten zum gescheiterten Fluchtversuch in der Grenzübergangsstelle Marienborn und korrigierte die in den MfS-Unterlagen enthaltene Darstellung, „daß wir keine Rücksicht auf Grenzsoldaten“ genommen hätten. Er sei als Fahrer des Fluchtwagens, weil sie „Rücksicht genommen haben, gegen diese fahrbare Betonmauer geprallt“. Nach ihrem ursprünglichen Fluchtplan, sollte er die Fahrtrichtung so antäuschen, als ob er rechts an der Sperre vorbeifahren wolle, um dann aber auf der linken Seite die Mauer zu passieren. „Ich hätte also nach links fahren müssen, auf den Grünstreifen, dort lagen aber die Grenzsoldaten und ich hätte sie schon überfahren müssen, wenn ich hätte vorbeikommen wollen. Das habe ich aus diesem Grunde, weil ich Rücksicht genommen habe, nicht getan; und so sind wir halt mit dem Lkw auf die Betonmauer geprallt und haben uns überschlagen.“ Die Ermittler vernahmen 1993 auch die fünf ehemaligen DDR-Grenzer, die 20 Jahre zuvor insgesamt 100 Schüsse auf das Fahrzeug und die drei Flüchtlinge abgegeben hatten. Auch die folgenden, damals in das Geschehen involvierten DDR-Offiziere, erhielten Zeugenladungen: Oberst Lantfried Kaltofen als Leiter der Untersuchungskommission, Oberstleutnant Horst Hedrich und Oberstleutnant Willi Aster als Mitglieder der Untersuchungskommission, Oberstleutnant Otto Treba als Stellvertreter des Kommandanten der Grenzübergangsstelle, Oberstleutnant Gerhard Happe als Diensthabender Offizier und Oberleutnant Bernd Richter als Zugführer der eingesetzten Grenzsoldaten. Im Abschlussbericht der Ermittlungsbeamten heißt es: „Bei allen Vernehmungen war deutlich die Angst zu spüren, konkrete Aussagen zum Sachverhalt machen zu müssen. Sie beriefen sich auf Erinnerungslücken und sagten oft erst nach Vorhalten der damaligen Berichte aus.“ Es sei deutlich erkennbar, „daß hier ganz bewußt Gedächtnislücken produziert wurden“.
Fred Woitkes Mutter berichtete bei ihrer Zeugenvernehmung, dass sie „von Mitarbeitern des MfS und von den zuständigen Stellen bei der Polizei Eisenhüttenstadt und beim Rat der Stadt systematisch, stückchenweise fertiggemacht‘ worden ist“. Sie wünschte sich die Rehabilitierung ihres Sohnes. Von den fünf Schützen fanden sich nur zwei zu konkreten Aussagen bereit. Michael G. äußerte sich ausführlich zu seinem Werdegang und gab an, schon bei der Musterung erklärt zu haben, „daß ich mir nicht vorstellen könne, mit der Waffe auf Menschen zu schießen“. Als am 21. April 1973 der schwere Lkw auf ihn zuraste, habe er von seiner Alarmstellung neben der Straße auf den Motor des Fahrzeugs gezielt und geschossen, um das Fahrzeug vor der Sperre zu stoppen. Er habe nach dem Aufprall zunächst hinter einer Säule Deckung gesucht und dann, als er jemanden davonlaufen gesehen habe, gerufen „Halt! Stehenbleiben oder ich schieße!“. Da der Flüchtende jedoch weitergelaufen sei, habe er mehrere Warnschüsse schräg in die Luft abgegeben. „Es kam von mir aus zu keinem gezielten Schuß auf die Person, was ich hier nochmal ausdrücklich betonen möchte.“ Danach habe er am ganzen Körper geschlottert. Am Ende seiner Vernehmung erklärte Michael G. ausdrücklich, „daß mir insbesondere nach Öffnung der Mauer und der für mich sich bietenden Möglichkeit den anderen Teil Deutschlands einmal zu sehen, der Wahnsinn dieser Grenzsicherungen besonders deutlich geworden ist, deren Teil ich einmal war, selbstverständlich nicht freiwillig. Ich bedaure, daß es an der Grenze Opfer gab, die ja eigentlich nichts anderes wollten, als die Möglichkeiten wahrzunehmen, die mir jetzt gegeben sind, nämlich von einem Ort zum anderen zu gehen.“
Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin stellte 1996 das Ermittlungsverfahren ein, da nicht geklärt werden konnte, wer 1973 die tödlichen Schüsse auf Woitke abgab und den Beschuldigten eine Tötungsabsicht nicht nachweisbar war. Ihnen kam außerdem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugute, der am 15. Februar 1995 entschied, dass der rechtliche Gesichtspunkt des „Handelns auf Befehl“ auch im Fall einer Körperverletzung mit Todesfolge zu berücksichtigen sei.