Logo

Suche im Biographischem Handbuch

Biografisches Handbuch

Gerhard Beil

geboren am 19. Juni 1952 in Schlotheim | getötet durch Minenexplosion am 6. April 1972 | Ort des Vorfalls: innerdeutsche Grenze bei Katharinenberg (Thüringen)
Am 6. April 1972 hörten zwei Grenzsoldaten im Gebiet Katharinenberg-Wanfried gegen 5.40 Uhr eine Detonation. Sechs Stunden später bargen zwei Grenzoffiziere die Leiche des 19-jährigen Gerhard Beil aus dem Minenfeld.

Gerhard Beil entstammte einer Arbeiterfamilie, er hatte vier Geschwister. Sein Vater arbeitete im VEB Kalibergwerk Volkenroda, seine Mutter war ein Pflegefall, sie litt unter Lähmungserscheinungen an Füßen und Beinen. Seit seinem 13. Lebensjahr befand sich auch Gerhard Beil wegen einer Hüftgelenksentzündung in ärztlicher Behandlung. Er verließ die Schule vorzeitig und begann eine Schuhmacherlehre bei der PGH Orthopädie – Schuhmacherhandwerk in Mühlhausen. Da absehbar war, dass er die Facharbeiterprüfung nicht bestehen würde, gab er die Lehre 1969 auf und nahm eine Stelle als Maschinenarbeiter im VEB Schlotheimer Netzund Seilerwaren an. Dortige SED-Mitglieder charakterisierten ihn als politisch undurchsichtig, in seinem Elternhaus werde westdeutsches Fernsehen empfangen. Gerhard Beil zeige eine besondere Vorliebe für Kriminal- und Abenteuerfilme. Das MfS ermittelte später, dass gleichaltrige Jugendliche im Ort Gerhard Beil wegen seiner Behinderung als „Hinkebein“ hänselten. Er galt als Einzelgänger, der sich in seiner Freizeit gerne mit seinen Tauben beschäftigte. Auch bastelte er häufig an seinem Moped herum. Er interessierte sich für Beatmusik, trug die Haare lang und hörte im Kofferradio häufig Radio Luxemburg. Gerhard Beil half bei der Pflege seiner Mutter. Mitunter beklagte er, dass man ihn mit dieser Aufgabe alleine lasse und seine Mutter, anders als die Frau eines Direktors oder eines anderen „hohen Tiers“, keine Unterstützung erhalte.

Im April 1969 griff die Volkspolizei Gerhard Beil in Ost-Berlin nahe der Mauer auf. Da ihm aber keine Fluchtabsichten nachgewiesen werden konnten, wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Im Februar 1972 erfuhr Beil, nach einer Untersuchung in der orthopädischen Klinik Erfurt, dass sein Hüftleiden nicht operabel sei und er damit rechnen müsse, dass eine vollständige Versteifung seines Beins in etwa zwei Jahren eintreten könne. Nach dieser Untersuchung und einer Krankschreibung bis Mitte März 1972 erschien er nur noch unregelmäßig zur Arbeit. Gegenüber seinem Vater äußerte er, dass ihm „sowieso alles egal“ sei, da ihm „keiner mehr helfen“ könne. Einem Freund sagte er, dass er nun nur noch herumreisen und etwas von der Welt sehen wolle. Dietmar Beil, sein jüngerer Bruder, vermutet, daß Gerhard Beil sich vom westdeutschen Gesundheitssystem eine bessere Behandlung seines Leidens versprochen habe. Am Abend des 30. März 1972 sah ein Gastwirt den 19-jährigen Gerhard Beil in der Nähe von Windeberg zum letzten Mal lebend.

Am 6. April 1972 hörten zwei Grenzsoldaten im dem als „Sauloch“ bezeichneten Grenzgebiet bei Katharinenberg gegen 5.40 Uhr eine Detonation, deren Ursache sie nicht einordnen konnten. Gegen 8.40 Uhr erkannten sie mit dem Fernglas am Hang etwa 100 bis 150 Meter entfernt einen „dunklen Gegenstand“. Sie sagten später aus, dies für ein Wildschwein gehalten zu haben. Da aber auch der Signalzaun Alarm ausgelöst hatte, erstatteten sie Meldung und erhielten daraufhin Befehl, ihren Grenzbereich abzusichern. Gegen 11.30 Uhr bargen zwei Offizieren der Grenztruppe eine Leiche mit Reißhaken und einer Zugleine aus dem Minengürtel. Es handelte sich um Gerhard Beil. Die Spurensicherung der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt hielt in ihrem Untersuchungsbericht fest, dass die Leiche „in der Drahtsperre auf zwei Pfählen in Bauchlage mit den Beinen ca. 2 m vom Drahtzaun feindwärts entfernt“ mit dem Bauch auf einem frischen Detonationsloch lag. Im Abstand von zweieinhalb bis drei Metern freundwärts der Leiche fand die Untersuchungsgruppe unter anderem den Personalausweis von Gerhard Beil, dessen Beschädigtenausweis, zwei Schülerkarten und die Adresse einer Ines P. aus Gotha. Ein Campingbeutel, der etwa sieben Meter von der Detonationsstelle entfernt lag, enthielt eine beigefarbene Windjacke, ein Kofferradio, einen Moped-Führerschein, einen Sozialversicherungs- und einen FDGB-Ausweis, die Bescheinigung für den Abschluss der 10. Klasse und drei Fotos von Eltern und Geschwistern.

Die zuständige Staatsanwaltschaft in Erfurt verzichtete auf eine Obduktion durch die Gerichtsmedizin Jena, da die Beurkundung der Todesursache durch den Regimentsarzt Hauptmann Dr. med. Dammenhayn, Facharzt für Allgemeinmedizin, Hauptmann Dr. med. Götze und Unteroffizier Braune (Sektionsgehilfe im Zivilberuf) ausreichend sei. In dem von dieser Untersuchungsgruppe verfassten Bericht heißt es: „Am 06.04.1972 wurden wir durch den Kommandeur des Grenzregiments nach Katharinenberg befohlen. Als wir am befohlenen Ort eintrafen, war die Person bereits aus dem Sperrengebiet geborgen.“ Als Todesursache könnten zweifellos die Folgen zweier Minendetonationen angesehen werden. Vermutlich sei Gerhard Beil auf eine Mine getreten und dann bäuchlings auf eine zweite gestürzt. Der Tod trat „infolge Herzstillstandes“ ein, „hervorgerufen durch das Schockgeschehen auf Grund der doch erheblichen Verletzungen und des sicherlich starken Blutverlustes“.

Einen Tag nach Gerhard Beils Tod holte ein Polizist dessen Bruder Dietmar aus dem Schulunterricht und brachte ihn nach Hause. Da sein Vater sich auf der Arbeit unter Tage befand, musste der 12-Jährige die Tür für eine Hausdurchsuchung öffnen. Den Leichnam von Gerhard Beil durfte der Vater nicht mehr sehen. Seine Mutter starb im Alter von 42 Jahren eineinhalb Monate nach dem Tod ihres Sohnes, den sie nicht verwinden konnte. Dietmar Beil und seine kleine Schwester kamen in ein Heim.


Biografie von Gerhard Beil, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/190-gerhard-beil/, Letzter Zugriff: 07.10.2024