Der 19-jährige Wolfgang Graner hatte seine Eltern nie kennengelernt. Seine Adoptiveltern waren aus Schlesien vor den Kriegshandlungen nach Sachsen geflohen und arbeiteten als Genossenschaftsbauern in Radebeul. Nach dem Abschluss der 8. Schulklasse erlernte er in Dresden den Beruf des Maurers. Bevor er am 3. Mai 1970 zum Grundwehrdienst eingezogen wurde, übte er seinen Beruf im VEB Bau-und Montagekombinat Kohle und Energie Dresden aus.
Das Volkspolizeiamt Dresden äußerte keine Bedenken gegen einen Einsatz Graners an der Grenze. Auch ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit wusste nur Gutes über ihn zu berichten: Vom Charakter her sei Graner „ein gutmütiger, arbeitsamer und freundlicher Mensch. Schon als Kind wurde er von seinen Eltern immer zur Arbeit angehalten, die er auch stets ohne Einwand verrichtete. Auch heute noch arbeitet er nach seiner regulären Arbeitszeit mit in der Landwirtschaft.“ Er sei „niemals in Gaststätten beobachtet“ worden, fahre in seiner Freizeit gerne Motorrad und besitze einen „sehr guten Leumund“. Nach seiner Grundausbildung kam Wolfgang Graner ab Mitte September 1970 in der Grenzkompanie Geisa zum Einsatz. Dass er während seines Dienstes sechs Belobigungen erhielt, niemals bestraft wurde und schon bald die Dienststellung eines Postenführers einnahm, schien die positiven Einschätzungen zu bestätigen.
Am 17. Februar 1971 bewachten die Soldaten Wolfgang Graner und Klaus H. die Grenze nahe dem thüringischen Geisa. Gegen Abend hörten sie aus etwa 20 Meter Entfernung Schritte in der Dunkelheit auf sich zukommen. Sie nahmen an, dass es sich um einen Grenzaufklärer handele und fragten nach der Parole. Der Angerufene, es handelte sich um Frank Möller, hielt nur kurz inne, zog eine Pistole und feuerte auf die Soldaten. Diese schossen sofort zurück und verletzten den Angreifer schwer. Er erlag kurz darauf seinen Verletzungen. Wolfgang Graner erklärte Kameraden gegenüber später, dass er in dieser Situation „gar keine andere Wahl gehabt“ hätte, „er hätte sich doch nicht erschießen lassen“. Er und Klaus H. wurden für ihren Einsatz ausgezeichnet, Graner wurde vorzeitig zum Gefreiten befördert.
Dennoch erregte Graner nur kurze Zeit später die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit, die von ihren in der Kompanie eingesetzten inoffiziellen Mitarbeitern „Kurt Jost“ und „Erich Gruber“ alarmierende Informationen erhielt. Demnach existiere in der Grenzkompanie eine rechtsradikale Gruppe, deren Kern Wolfgang Graner und der Soldat Gerhard R. bildeten. Die Gruppe habe sich den Namen „Deutsche Brüdergemeinschaft“ gegeben, ihre Mitglieder würden den Hitlergruß zeigen und Gleichgesinnte um sich sammeln, um sich auf „den Tag X“ vorzubereiten. Zur Bearbeitung dieser Gruppe legte die Stasi-Hauptabteilung I in Dermbach (Rhön) am 12. Mai 1971 einen Operativplan an, um Beweise für die Straftatbestände „staatsfeindliche Hetze“ und „verfassungsfeindlicher Zusammenschluß“ zu sammeln. Insgesamt sechs inoffizielle MfS-Mitarbeiter kamen dafür zum Einsatz. Die IM „Kurt Just“ und „Erich Gruber“ sollten sich um eine Mitgliedschaft in der „Deutschen Brüdergemeinschaft“ bemühen.
Die Ermittlungen befanden sich noch im Anfangsstadium, und es war dem MfS-Führungsoffizier Oberleutnant Rost noch unklar, ob sich eine solche Organisation nicht als „Hirngespinst“ Graners erweisen würde, da mehrten sich auch Hinweise auf Fahnenfluchtabsichten des Gefreiten. Mehrmals habe er versucht, während des Dienstes unter einem Vorwand an den Sechs-Meter-Kontrollstreifen zu gelangen, was den regulären Posten streng untersagt war. Ein Zimmerkamerad Graners berichtete, dass dieser ihn während des Nachtdienstes getestet habe, „um von mir zu erfahren, ob ich beim Auftauchen eines Grenzverletzers die Schußwaffe zur Anwendung bringe.“ Ein andermal sei Graner vom Ausgang alkoholisiert zurückgekehrt und habe auf seinem Bett die Hände vors Gesicht geschlagen und gesagt, „daß er mit den Nerven fertig sei und ‚abhauen‘ werde“.
IM „Erich Gruber“ erhielt daraufhin von seinem Führungsoffizier Rost die Anweisung, eine Fahnenflucht Graners „auch unter Anwendung der Schußwaffe“ zu verhindern. „Erich Gruber“ war der Deckname von Eberhard Cäzor. Dieser war kein gewöhnlicher Zuarbeiter der Staatssicherheit. Nach seiner Ausbildung zum Panzerkommandanten bei der NVA kam Cäzor im April 1969 zu der Einsatzkompanie der MfS-Hauptabteilung I, einer Spezialeinheit der Stasi, die ihre Leute zu Einzelkämpfern, Scharfschützen oder Sprengstoffexperten ausbildete. Am 8. April 1971 wurde „Erich Gruber“, den das MfS inzwischen zum Unterfeldwebel befördert hatte, mit dem Auftrag der „Verhinderung von Fahnenfluchten in Schwerpunkteinheiten der NVA-Grenztruppen“ unter Legende als Gefreiter in die Grenzkompanie Geisa versetzt. Das MfS sorgte aus dem Hintergrund bei der Postenvorplanung für seine möglichst häufige Zuteilung zum gemeinsamen Grenzdienst mit Graner.
In der Nacht vom 29. zum 30. Mai 1971 fand Wolfgang Graner nicht in den Schlaf. Er wühlte in seinen Sachen, schrieb einen Brief. Die Unruhe störte seine Zimmerkameraden. Am Abend des 30. Mai um 21 Uhr rückte Graner als Postenführer gemeinsam mit Eberhard Cäzor zum Grenzdienst aus. Zunächst bauten sie Signalgeräte ein. Gegen 23.30 Uhr begaben sie sich dann in ihren Wachabschnitt an der ehemaligen Straße zwischen Wiesenfeld und Setzelbach. Wenig später führte der Zugführer Leutnant F. vor Ort eine Postenkontrolle durch. Laut Abschlussbericht der MfS-Bezirksverwaltung Suhl habe Graner anschließend seinem Posten befohlen, den Sechs-Meter-Kontrollstreifen abzulaufen. Währenddessen habe Graner mehrmals mit dem Fernglas überprüft, ob der Zugführer sie noch beobachten würde. Wie Eberhard Cäzor später aussagte, sei er gegen 1.30 Uhr beim gemeinsamen Streifengang an der Straße zwischen Wiesenfeld und Setzelbach kurz zurückgeblieben, weil er seine Strümpfe zurechtziehen musste. Sie befanden sich jetzt unweit jener Stelle, an der Wolfgang Graner dreieinhalb Monate zuvor auf den „Provokateur“ aus Westdeutschland geschossen hatte. Plötzlich hörte Cäzor in der Dunkelheit Graner sagen: „Ebsi, ich hau jetzt ab.“ Eine Maschinenpistolensalve folgte. Cäzor verfolgte daraufhin Graner und eröffnete seinerseits das Feuer auf ihn. Das Tatortuntersuchungsprotokoll des MfS hielt fest, dass aus Graners Waffe 15 Schuss fehlten, die dieser in Richtung der Grenzanlagen oder in die Luft abgab. Er habe dabei inmitten des Kontrollstreifens auf der Straße Wiesenfeld-Setzelbach gestanden. Aus 15 Metern Entfernung, vom linken Straßenrand aus, schoss Cäzor auf Graner. Bei seiner Vernehmung am 31. Mai 1971 sagte Cäzor, er habe, bevor er mit seiner Maschinenpistole das Feuer eröffnete, „noch gerufen ‚Halt – stehen bleiben!‘ Graner antwortete mir darauf: ‚Halt die Schnauze!‘ Danach habe ich geschossen. Ich habe beide Magazine verschossen, insgesamt 60 Patronen. Wie ich das zweite Magazin eingeführt habe, weiß ich nicht mehr. Es ging alles so schnell, daß ich mich daran nicht mehr entsinnen kann. Nachdem ich sämtliche Patronen verschossen hatte, habe ich den Gefr. Graner auf dem Kontrollstreifen liegen sehen.“
Wolfgang Graner wurde laut Bericht des Kriminaltechnischen Instituts Jena durch 22 Projektile in Hinterkopf, Rücken und Gliedmaßen getroffen. Er erlag sofort seinen Verletzungen. Eberhard Cäzor rief anschließend die Alarmgruppe. Als diese eintraf, fanden sie den Posten sichtlich verstört vor. Er sei „nervlich vollkommen fertig“ gewesen. Ein Sanitätsfahrzeug brachte Graners Leiche zur Obduktion in das Institut für gerichtliche Medizin nach Jena.
Mit den Adoptiveltern, die zunächst der Meinung waren, jemand habe ihren Sohn hinterhältig erschossen, um einen Orden zu erwerben, führte ein Kommandeur der Grenztruppen am 2. Juni 1971 eine „Aussprache“ durch. Er erklärte ihnen, dass Wolfgang Graner Fahnenflucht begehen wollte. Dass er das Ende seines Wehrdienstes herbeisehnte, konnte auch die Mutter bestätigen, da er in seinen Briefen schon die Tage bis zur Entlassung gezählt habe. Die Leiche ihres Sohnes wurde eingeäschert, ohne dass die Eltern sie noch einmal sehen konnten.
Das Bestehen einer rechtsradikalen „Deutschen Brüdergemeinschaft“ konnte vom MfS nicht bewiesen werden. Eberhard Cäzor erhielt die NVA-Verdienstmedaille in Bronze und kam als hauptamtlicher Mitarbeiter zum Ministerium für Staatssicherheit, aus dessen Diensten er im Februar 1990 im Rang eines Oberleutnants ausschied. Die Staatsanwaltschaft Berlin klagte ihn 1996 wegen Totschlags und seinen damaligen Führungsoffizier Rost wegen der vorsätzlichen Bestimmung eines Anderen zu rechtswidriger Tat an. Am 12. März 1997 sprach das Landgericht Berlin beide Angeklagten frei. Nach den von Graner möglicherweise als Drohgebärde abgegebenen Schüssen habe Cäzor „in Panik“ und aus Angst, selbst erschossen zu werden, reagiert. In der Urteilsbegründung wurde sein dienstlicher Auftrag, die abzusehende Flucht Graners auch durch einen tödlichen Schusswaffengebrauch zu verhindern, nachrangig behandelt. Der ehemalige Führungsoffizier Rost habe Cäzor gegenüber nur die Bestimmungen zum Schusswaffengebrauch bei Fluchtversuchen warnend unterstrichen und keine den DDR-Gesetzen widersprechende Tötung angeordnet.
Vergleiche auch den biografischen Eintrag zu Frank Möller.